Kapitel 11

Nach endlos scheinenden Stunden, in denen ich mich hin- und herwälzte, öffnete ich am nächsten Morgen die Augen. Die Gedanken der vergangenen Nacht ließen mich nicht los. Ganz langsam begann ich, mein Leben und mich näher zu betrachten, wie ich es nie zuvor getan hatte. Und was ich sah, gefiel mir gar nicht. Warum rannte ich ständig von einer Beziehung in die nächste, obwohl ich genau wusste, dass ich meine Freunde nicht liebte? Es war, als würde ich mit Scheuklappen durchs Leben hasten. Aber was konnte ich nicht sehen?

Mein Vater war, was Gefühle und ihren Ausdruck betraf, immer sehr unterkühlt und zurückhaltend gewesen. Und meine Mutter sagte immer, ich sei ihm so ähnlich. Vielleicht konnte ich nicht anders. Vielleicht war ich emotional ein kalter Fisch und zu wirklich tiefen Gefühlen gar nicht fähig.

Ich rieb mir das Gesicht. »Gott, warum haben wir so was nie in der Therapie angesprochen?«

Als es an der Tür klopfte, zuckte ich zusammen. »Ja?«

Julia öffnete die Tür. »Hey, alles klar bei dir?«

Ich zog die Decke etwas höher. »Guten Morgen. Hast du mich gehört? Äh, ich hab nur laut gedacht.«

Julia kicherte. »Guten Morgen. Hörte sich eher wie ein Gebet an.«

Ich schwieg.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Scarlett?«

War ich in Ordnung? Nein. Mir war zum Heulen zumute und ich konnte nicht mal genau sagen, warum.

Nach einem langen Moment kam Julia näher und setzte sich auf die Bettkante.

Ich konnte einfach nicht mehr. Ohne zu überlegen, schlang ich die Arme um sie und begann, unkontrolliert zu weinen.

Julia strich sanft über mein Haar und meinen Rücken. »Ist irgendwas passiert?«

Ich schüttelte den Kopf und klammerte mich noch stärker an Julia, die erst mal keine weiteren Fragen mehr stellte. Keine Ahnung, wie lange ich in ihren Armen lag und weinte. Aber ich hörte erst auf, als ich keine Tränen mehr zu vergießen hatte. Ich schmiegte das Gesicht zwischen Julias Schulter und Hals und atmete tief ein. Julias Geruch beruhigte mich. Hätte uns jemand gesehen, hätte man diese Situation leicht missverstehen können. Für einen Moment versteifte ich mich bei diesem Gedanken. Aber … ach, Mist. Warum reagierte ich immer noch so? Julia war für mich da. Als Freundin. Mehr nicht.

Ich löste mich aus der Umarmung. »Wir kennen uns erst so kurze Zeit und kamen auch nicht immer miteinander aus. Ganz abgesehen von …« Ich wollte jetzt nicht von ihrer sexuellen Orientierung anfangen. Das war gerade egal. »Ach, unwichtig. Jedenfalls bin ich sehr froh, dass wir Freundinnen sind.«

Julia lächelte und umarmte mich. »Ich auch.« Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie fragte: »Willst du mir jetzt sagen, was los ist?«

Ich schüttelte den Kopf. Was sollte ich ihr auch sagen? Dass ich vollkommen durcheinander war und Angst hatte? Angst? Wirklich? Wovor?

Ich rieb mir mit einer Hand übers Gesicht. Wenn ich doch bloß aufhören könnte zu denken und vor allem … zu fühlen. Ablenkung war, was ich jetzt brauchte. Ja, genau. Dann würde alles wieder gut werden. Ganz sicher. »Lass uns Frühstück machen, okay?«

Julia betrachtete mich, ohne etwas zu sagen.

Ihr Blick machte mich nervös. Hielt sie mich jetzt für total verrückt?

»Okay. Lass uns Frühstück machen.« Julia stand auf. »Für den Abend ist Regen angekündigt. Aber wenn du willst, können wir nachher eine Weile am Strand spazieren gehen. Ich finde das immer sehr entspannend. Und vielleicht willst du ja später doch noch sagen, was los ist.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.« Das war jetzt genug. Ich konnte und wollte nicht mehr über mich sprechen. Es gab ja eh nichts zu sagen. »Aber ich hoffe, wir sprechen diesmal auch ein bisschen über dich.«

Julia schaute mich an, als ob sie ein Insekt verschluckt hätte. »Sicher.«

* * *

Dick eingepackt machten wir uns auf den Weg. Ich hakte mich bei Julia ein, und so gingen wir gemeinsam am Wasser entlang.

»Ich liebe es hier draußen«, sagte Julia.

Ich nickte.

Das dunkelgraue Wasser glitzerte an einigen Stellen wie Gold, wenn Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen. Es waren kaum Leute unterwegs und zwischendurch fühlte es sich fast an, als ob wir die einzigen Menschen an diesem Strand, auf dieser Insel, ja auf diesem Planeten wären. Zu meinem Erstaunen ängstigte mich diese Idee gerade gar nicht. Jetzt, in diesem Augenblick war es eine schöne Vorstellung. »Julia?«

»Mmh?«

»Wenn du es hier so liebst, warum wolltest du dann nicht herkommen?«

Julia seufzte. »Es sind einfach zu viele Erinnerungen hier.«

»An … an Silke?«

Julia schüttelte den Kopf. »An Dido.« Julia ließ ihren zittrigen Atem entweichen. »Sie war bloß ein Hund. Aber für mich war sie die beste Freundin. Ich erzählte ihr alles.«

Ich tätschelte Julia die Schulter.

»Wir spielten oft stundenlang. Wenn wir hier waren, war ich glücklich. Ganze Tage gingen wir am Strand spazieren.« Sie lächelte. »Im Sommer gingen wir sogar zusammen schwimmen.«

Ich lächelte auch. Wie konnte ich auch nicht, bei dem Leuchten in Julias Augen?

»Mehr als einmal lag ich entspannt am Strand und sonnte mich, und Dido stellte sich neben mich und schüttelte sich so stark sie konnte. Ich schimpfte, aber Dido wusste, dass ich ihr nie wirklich böse sein konnte.« Ihr Lächeln verblasste. »Sie hatte Krebs. Zum Schluss war sie davon innerlich ganz zerfressen.« Julia liefen Tränen die Wangen runter. »Während der Arzt Dido einschläferte, hielt ich sie in meinen Armen. Ich streichelte sie und flüsterte ihr immer wieder ins Ohr, wie sehr ich sie liebe.«

Mein Herz brach, als ich zusah, wie Julia die Hände zu Fäusten ballte und die Augen schloss.

Dido war für sie nicht bloß ein Haustier gewesen. Und hier, auf Sylt, waren die Erinnerungen an ihre beste Freundin am stärksten.

Julia senkte den Kopf und schielte nach oben. »Du musst denken, ich überreagiere total. Wir sprechen hier schließlich nur von einem …« Ihre Stimme brach ab.

Ich blieb stehen und hielt sie am Arm fest.

Julia stoppte auch, sah mich aber nicht an.

»Schau mich an«, sagte ich sanft.

Zögerlich hob Julia den Kopf und unsere Blicke trafen sich.

»Du hast Dido geliebt.« Ich streichelte Julias Arm. »Sie war für andere nur ein Hund. Aber wichtig ist doch, was sie dir bedeutet hat.«

Julia betrachtete mich einige Momente, bevor sie mich in ihre Arme schloss. »Ich bin froh, dass du es bist, die mit mir als Erste wieder hierhin gekommen ist.«

Wow, was sollte ich dazu sagen? »Ich bin auch froh, mit dir hier zu sein.«

Wir ließen einander los und gingen weiter.

Erstaunlicherweise dachte ich gar nicht viel nach. Ich genoss einfach das Hier und Jetzt. Irgendwann bekam ich einen Regentropfen ab und schaute zum dunkelgrauen Himmel hoch. »Oh ohhh.«

Julia fiel ein Tropfen auf die Nase. Sie grinste, doch dann blickte sie mit großen Augen zum Himmel.

Bis zum Haus war es ein weiter Weg.

Ich bekam noch einen Tropfen ab. Danach noch einen, und ehe ich mich versah, regnete es wie aus Eimern. Ich nahm Julias Hand. »Lauf!« Ich rannte los.

Julia hatte längere Beine, und bald merkte ich, dass ich nicht mit ihr mithalten konnte.

Aber sie ließ meine Hand nicht los.

Ich stolperte und fiel.

Und mit mir Julia, da sie meine Hand nicht schnell genug losließ.

Wir schlidderten und rollten, bis wir ineinander verschlungen liegen blieben. Wir waren voller Sand und nass bis auf die Knochen, doch wir lachten. Immer, wenn unser Lachen nachließ, sahen wir einander an und begannen von vorne.

Bis mir etwas einfiel. »Oh Gott, dein Arm! Hast du dir wehgetan?«

Julia blinzelte und schüttelte langsam den Kopf.

Erstaunt bemerkte ich, dass ich keinerlei Anstalten gemacht hatte, mich von Julia zu lösen. Ich sah sie ernst an und sie mich. Ohne nachzudenken, strich ich ihr mit meinen sandigen Fingern eine nasse Haarsträhne von der Stirn.

Ich spürte Julias warmen Atem im Gesicht. Da wir so dicht beieinanderlagen, konnte ich spüren, wie ihr Herz raste. Oder war es meines? Ach, kein Wunder, wir waren gerade gerannt. Erst jetzt fiel mir auf, dass es immer noch in Strömen regnete. Ich stand auf und streckte die Hand aus.

Julia ergriff sie und ließ sich auf die Füße ziehen. »Ich glaube, ich war noch nie so nass.«

Wir rannten jetzt nicht mehr. Warum auch? Wir waren eh klitschnass. Nach einer Weile erreichten wir das Haus.

Julia hatte Probleme, die Tür aufzuschließen, weil sie so zitterte. Als es ihr endlich gelang, eilte sie zum Kamin. »Ich mach ein Feuer, damit wir uns nach unseren Duschen wärmen können.«

»Gute Idee. Ich geh dann mal.« Mit diesen Worten verschwand ich in meinem Zimmer. Ich zog die an mir klebende, nasskalte Kleidung aus und schnappte mir trockene Sachen. Anschließend tapste ich mit den Sachen in der Hand zum Bad auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Ich hörte ein Geräusch und drehte mich um.

Julia stand einige Meter entfernt und starrte mich an.

Unsere Blicke trafen sich und sie drehte sich weg.

Oh Gott, ich hatte ja gar nichts an! Ich presste die Kleidung an meine Brust, hastete ins Bad und verschloss die Tür. Mein Herz pochte wie verrückt. Freundin oder nicht, Julia war lesbisch. Also quasi wie ein Mann, wenn es um so etwas ging.

Aber anders als die meisten Männer, die ich kannte, hatte sie sich sofort … na ja, fast sofort weggedreht.

Ich lehnte mich von innen gegen die Badezimmertür. Langsam ließ ich die Klamotten sinken, die ich wie einen Schild vor mich gehalten hatte. Dabei senkte ich meinen Blick und … oh nein. Ich hatte meine Brüste bedeckt. Ja. Aber sonst nichts. Gar nichts. Ich war hier nicht allein, verdammt. Wie hatte ich bloß vergessen können, mir was anzuziehen? Ich schüttelte den Kopf. Mein Körper war eiskalt und zitterte und ich hatte das Gefühl, in jeder Ritze meines Körpers Sand zu haben. Also erst mal duschen.

* * *

In eine Decke gewickelt, betrachtete ich von der Couch aus das Feuer im Kamin.

Draußen hämmerte der Regen gegen die Scheiben. Von wegen Regen am Abend. Es war nicht mal drei Uhr.

»Das gerade tut mir leid.« Julia stand vor der Couch und studierte den Fußboden.

»Es war nicht dein Fehler. Ich hätte mir was anziehen sollen, anstatt nackt durch die Wohnung zu laufen. Schätze, ich hab vergessen, dass du …«

»Ja.« Sie starrte in den Kamin.

Irgendwie war die ganze Sache albern. Ich klopfte neben mich, und als Julia sich setzte, bot ich ihr ein bisschen von der Decke an.

Zögerlich rutschte sie näher.

Unsere Oberschenkel berührten sich.

Wow, Julia war jetzt aber ganz schön nah. Ich schluckte. Eigentlich hätte es mir klar sein sollen. Schließlich teilten wir uns eine Decke. Es machte mich nervös, aber ich versuchte, dieses Gefühl zu ignorieren. Es war ein harmloses Zusammensitzen von zwei Freundinnen. Sonst nichts. »Du hast heute nichts gesehen, was du nicht schon kanntest.«

Julia schnitt eine Grimasse. »Sollen wir uns Pizza bestellen?«

»Du willst bestellen, anstatt zu kochen? Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder.«

Julia lachte. »Ich hab nichts dagegen, Essen zu bestellen, aber wenn ich zu Hause nicht so konsequent wäre, würde Oliver immer bestellen. Deshalb koche ich meistens.«

Ich nickte. Oliver … ich hatte den ganzen Tag nicht einmal an ihn gedacht. Ich musste definitiv eine Entscheidung treffen, wie ich mich nach unserer Rückkehr verhalten sollte.

Julia schubste mich spielerisch. »Also? Sollen wir was bestellen?«

»Sicher. Du bestellst und ich mach uns heißen Kakao.«

»Klingt perfekt. Mit Sahne?«

Ich schmunzelte. »Was sonst?«

Wir standen auf.

»Oh, Scarlett?« Julia drehte sich um und wir stießen zusammen.

Das Herz schlug mir bis zum Hals, jetzt, wo wir so dicht voreinander standen. Ich wusste, Julia würde nichts tun, aber dennoch …

Wir traten beide einen Schritt zurück und Julia schaute starr zu Boden. »Ähm, was für eine Pizza möchtest du?«

»Funghi. Und was nimmst du?«

Julia grinste. »Ich wollte auch eine Funghi nehmen.«

»Dann lass uns doch eine Familienpizza ordern«, sagte ich. »Wenn was übrig bleibt, essen wir es einfach später.«

»Okay.«

Während Julia mit der Pizzeria sprach, ging sie im Wohnzimmer auf und ab.

Da es eine offene Küche war, konnte ich sie gut sehen, während ich den Kakao zubereitete. Mir war bisher nie aufgefallen, wie geschmeidig sich Julia bewegte.

Als sie aufsah, begegneten sich unsere Blicke. »Doppelt Käse? Kostet heute bloß einen Euro extra bei der Familienpizza.«

Ich strahlte. »Wie könnte ich da widerstehen?«

* * *

Nach dem Essen lehnte sich Julia an die Couchlehne und mein Kopf lag auf ihrer Schulter. Die Wärme, das gedämpfte Licht vom Kamin, dazu Julias entspannter Körper so dicht an meinem … ich merkte nicht, wie es passierte, aber ich schlief ein.

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Das Glühen der abgebrannten Holzscheite spendete gerade genug Licht, um die Wanduhr lesen zu können. Kurz vor drei.

Julia saß in derselben Position wie zuvor.

Ich hingegen lag mit dem Kopf in ihrem Schoß.

Julias Hand ruhte auf meinen kurzen Haaren. Ihre gleichmäßige Atmung verriet mir, dass sie auch eingeschlafen war.

Noch vor Kurzem wäre ich total erschrocken gewesen, im Schoß einer Lesbe aufzuwachen. Doch die Lesbe war Julia und ich fühlte mich vollkommen sicher bei ihr. Trotzdem, so konnten wir nicht bleiben. Ich nahm vorsichtig Julias Hand von meinem Kopf, legte sie auf ihren Bauch und erhob mich langsam.

Dennoch wachte Julia auf. Sie blinzelte ein paar Mal. »Was? Oh, ich bin wohl eingeschlafen«, murmelte sie.

»Keine Sorge. Ich auch. Lass uns ins Bett gehen.«

Stille.

Was? Oh verdammt. »In unsere Betten, mein ich.« Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Jede für sich.«

Julia rieb sich die Augen und nickte grinsend. Sie stand auf und tapste in Richtung ihres Zimmers. Nach drei Schritten blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. »Danke für den schönen Tag.«

Ich lächelte. »Ich danke dir.« Und ich meinte es.

* * *

Am nächsten Morgen machte ich für Julia und mich Frühstück.

»Morgen«, murmelte Julia, während sie sich den Schlaf aus den Augen reibend die Küche betrat. »Schon ganz schön früh auf heute, was?«

Ich konnte mir bei diesem Anblick ein Lächeln nicht verkneifen. Julia wirkte fast wie ein Kind. Wenn auch ein zugegebenermaßen ziemlich großes.

»Guten Morgen«, sagte ich. »Wir sind ja auch früh schlafen gegangen.«

Julia nahm am Frühstückstisch Platz. »Punkt für dich.«

Ich setzte mich ihr gegenüber und goss Julia eine Tasse Kaffee ein. »Wann geht der Flug?«

»Um fünf.« Sie nahm sich einen Toast. »Wann hat Oliver eigentlich gestern angerufen?«

Oh, verdammt. Daran hatte ich ja gar nicht mehr gedacht. Er hatte sich doch melden wollen. Ohne etwas zu sagen, stand ich auf und eilte in mein Zimmer. Auf dem Nachttisch lag mein Handy. Es war aus. Der Akku war leer. Ich hatte es nicht bemerkt und auch das Ladekabel nicht dabei. Wie hatte ich bloß vergessen können, dass Oliver anrufen wollte? Mit kleinen Schritten marschierte ich wieder in die Küche. »Der Akku ist leer. Er hat vermutlich den ganzen Abend versucht, mich zu erreichen.«

Julia legte ihre Scheibe Brot zur Seite. »Warum hat er dann nicht auf meinem Handy angerufen?«

»Vielleicht hat er das ja. Wir waren doch im Wohnzimmer, und wenn ich mich recht erinnere, hast du gestern dein Handy nach der Pizzabestellung wieder in dein Zimmer gebracht.«

Julia stand ruckartig auf und hastete in ihr Zimmer. Einen Augenblick später kam sie wieder und zeigte mir ihr Handy. »Sieben Anrufe. Alle von Oliver. Wie konnten wir das überhören?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Kann ich dein Handy benutzen?«

Julia nickte und reichte es mir.

Eilig wählte ich Olivers Nummer.

»Jaaa?« Die Stimme am anderen Ende klang verschlafen.

»Oliver, ich bin‘s. Es tut mir leid, mein Akku war alle, und ich hab‘s nicht gemerkt. Und wir waren lange im Wohnzimmer, deshalb hat Julia ihr Handy auch nicht gehört.«

Stille.

»Oliver?«

»Ja.«

»Es tut mir leid.«

Wieder Stille. Dann ein Räuspern. »Was habt ihr so lange im Wohnzimmer gemacht? Es war kurz nach zwei beim letzten Versuch. Und warum habt ihr das Handy nicht gehört?«

Ohne nachzudenken, sagte ich ihm die Wahrheit: »Wir haben geschlafen.« Oh ohhh, das konnte man leicht missverstehen.

»Was heißt geschlafen?« Oliver war deutlich lauter als sonst.

Julia schien ihn gehört zu haben, denn sie schaute mich mit großen Augen an.

»Wieso schläfst du mit meiner Schwester im Wohnzimmer ein? Es kann ja nur auf der Couch vorm Kamin gewesen sein. Was zur Hölle treibt ihr da?«

»Oliver, bist du verrückt geworden? Wir treiben überhaupt nichts. Ich …«

Julia riss mir das Handy aus der Hand und ich zuckte zusammen. »Oliver, bist du betrunken? Wie redest du mit Scarlett? Und warum unterstellst du uns, dass wir …« Sie holte tief Luft. »Ich würde niemals so etwas machen, das weißt du.«

Ich konnte nicht hören, was Oliver antwortete.

»Ja, ich weiß, Oliver. Nein, es ist okay. Bei mir musst du dich nicht … ja. Nein, das glaube ich nicht. Das … das muss sie entscheiden. Ich weiß das nicht. Wie? … Nein, hat sie nicht. Und es ist auch nicht an mir, darüber zu … Oliver … Oliver, es ist gut. Ja, mach ich. Ja, um kurz nach sechs. Okay, bis dann.« Julia legte auf.

»Was ist los?«

»Er holt uns vom Flughafen ab. Ich denke, er will mit dir sprechen.«

Ich nickte. Wenn ich ehrlich war, hatte ich ernsthaft darüber nachgedacht, Schluss zu machen. Aber er schien offenbar zu denken, ich und Julia … Gott, allein bei dem Gedanken wurde mir schlecht.

»Was denkst du, Scarlett?«

Ich schaute auf. »Ich bin unsicher, was ich jetzt tun soll. Ich hatte noch nie einen Freund, der so eifersüchtig war.«

Julia schüttelte den Kopf. »Eigentlich ist er nicht so. Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist.«

Was sollte ich bloß tun? Ich konnte jetzt unmöglich Schluss mit ihm machen. Er würde am Ende sonst wirklich denken, dass ich … wie absurd. Andererseits war ich mir nicht sicher, was mich mehr störte: mit einem Mann zusammen zu sein, für den ich außer Sympathie nichts empfand, oder für eine … Lesbe gehalten zu werden. Vor einem Monat hätte ich nicht mal darüber nachgedacht. Selbstverständlich wäre ich bei Oliver geblieben. Aber jetzt?

* * *

Mit zwei Tassen heißem Kakao betrat ich den Panoramaraum.

Julia stand an der Glasfront mit dem Rücken zu mir und blickte auf das graue Meer hinaus.

Ich stellte die Tassen auf einen der beiden Couchtische und ging zu Julia. Neben ihr blieb ich stehen und legte den Arm um ihre Taille. Es war schon merkwürdig, aber ich hatte meine Angst, sie zu berühren oder von ihr berührt zu werden, während dieses Wochenendes vollkommen verloren. Es war jetzt fast das Gegenteil: Ich genoss es.

Sie schaute kurz zu mir und danach wieder nach draußen. »Das kann so nicht funktionieren.«

Ich blinzelte. »Was meinst du?«

Julia blickte wieder aufs Meer hinaus. »Es ist so schön, wenn wir Zeit miteinander verbringen. Ich hätte es am Anfang nicht gedacht, aber ich …«

»Was?« Ich drehte mich etwas mehr zu ihr.

Julia schüttelte den Kopf, so als wollte sie ihre Gedanken abschütteln.

Ich ließ Julias Taille los und nahm stattdessen ihre Hand.

Sie betrachtete unsere Hände.

»Sprich mit mir, Julia.«

Sie schloss immer alle Menschen aus. Aber ich dachte wirklich, sie hätte sich mir etwas geöffnet. Ich hoffte, Julia würde jetzt nicht wieder dichtmachen.

»Ich möchte Oliver nicht verletzen.«

Ich runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf, du könntest das tun?« Plötzlich dämmerte es mir. Ich ließ Julias Hand los und trat einen Schritt zurück. Sie wollte doch nicht etwa andeuten, dass sie für mich mehr als Freundschaft empfand? Oder verstand ich das jetzt alles falsch?

Julia wanderte zur Couch, setzte sich und nahm einen Schluck Kakao. Anschließend stellte sie die Tasse wieder ab und sah mich an. »Es spielt keine Rolle, dass … dass da nichts ist. Oliver wird immer Zweifel haben. Wir verstehen uns einfach zu gut.«

»Das ist der größte Mist, den ich je gehört habe. Da schaffe ich es, endlich über meine Vorurteile hinwegzusehen, und fange an, dich nicht mehr nur als die Lesbe, sondern meine Freundin Julia zu sehen, und dann sagst du mir, wir können nicht befreundet sein, weil der angeblich sooo tolerante Oliver meint, ich würde etwas mit dir anfangen? Das ist lächerlich.« Ich musste nach meiner kleinen Ansprache erst mal nach Luft schnappen.

Julia senkte den Blick und ich konnte förmlich hören, wie es in ihrem Kopf ratterte. »Wie ich dir schon mal gesagt habe, würde ich niemals etwas mit dir anfangen oder dich irgendwie anfassen … also auf diese Weise. Du bist die Freundin meines Bruders. Meines Zwillingsbruders. Niemals würde ich ihm das antun.«

Ich ging einen Schritt auf sie zu. »Das weiß ich und i…«

Sie hob die Hand. »Es ist wohl besser, wenn wir«, sie holte tief Luft, »unsere Freundschaft nicht weiter verfolgen.«

Was? Ich starrte sie an. Unsere Freundschaft sollte enden, bevor sie richtig begonnen hatte? Mein Magen krampfte sich zusammen. »Nein.«

»Nein?«

»Ganz richtig. Nein. Du liebst deinen Bruder und ich verstehe, dass du ihn nicht verletzen willst, aber erstens ist zwischen dir und mir überhaupt nichts.« Ich gestikulierte wild zwischen uns hin und her. »Du weißt schon.«

Julia sah mich ausdruckslos an.

»Und zweitens weiß ich nicht mal, ob ich mit ihm sehr viel länger zusammenbleiben werde.« So, jetzt war es raus.

Julia saß da wie zur Salzsäule erstarrt. Irgendwann senkte sie den Kopf. »Das hättest du mir nicht sagen sollen. Wie kann ich ihm denn jetzt gegenübertreten und so tun, als ob alles in Ordnung wäre?«

Mit wenigen Schritten eilte ich zur Couch und setzte mich neben Julia. Ich wartete, bis sie mich ansah. »Julia, es … es tut mir leid, dass ich dich in diese Lage gebracht habe. Ich weiß noch nicht, was ich machen werde. Also wegen Oliver. Ich mag ihn, weißt du? Aber da ist einfach nicht mehr.«

»Dann sei ehrlich zu ihm.«

Ich ließ mich zurückfallen. »Ich will ihm nicht wehtun.«

»Wenn du seine Gefühle nicht erwiderst, ist es doch nur eine Frage der Zeit, bis du ihm wehtust und nicht ob. Also mach es lieber bald, oder es wird nur noch schmerzhafter für ihn.«

Julia hatte recht. Ich senkte den Blick.

»Ich werde ihm nichts sagen. Das musst du ganz alleine tun.«

»Ich weiß«, sagte ich leise.

* * *

Das Wohnzimmer war kühl ohne Feuer im Kamin, doch das war mir egal. Ich schaute durch die Glastüren aufs Meer hinaus. Immer, wenn ich dachte, mein Leben war kompliziert, kam noch etwas. Ich musste einen Entschluss fassen. Würde ich weiter mit Oliver zusammenbleiben oder Schluss machen? Andere würden wahrscheinlich gar nicht darüber nachdenken und die Sache einfach beenden. Aber andere waren nicht ich. Was wäre denn ohne Oliver so anders? Wir kannten uns erst so kurze Zeit. Verdammt, was war mein Problem?

Als Julia das Zimmer betrat, zuckte ich zusammen.

Sie ging zum Kamin. »Entschuldige, wenn ich störe. Es ist ziemlich kalt hier, und ich dachte, du frierst eventuell.«

Ich drehte mich um und beobachtete Julia, während sie Holzscheite im Kamin stapelte. »Julia?« Meine Stimme zitterte.

Sie richtete sich auf, drehte sich langsam um und betrachtete mich. Achtlos ließ sie alles fallen und eilte auf mich zu. Kurz vor mir blieb sie stehen. »Ja?«

Ich fiel ihr in die Arme und begann zu weinen.

Julia hielt mich, sagte aber nichts. Sie strich mir übers Haar, und ich entspannte mich etwas.

»Ich kann nicht allein sein.«

Julia führte mich zur Couch und setzte sich dicht neben mich. »Bist du deshalb mit Oliver zusammen, obwohl du nicht verliebt bist?«

Ich nahm ein Kleenex vom Couchtisch und schnäubte mir die Nase. »Ich weiß nicht.«

Julia legte den Arm um meine Schulter und ich lehnte mich an sie. »Hast du eine Ahnung, warum du nicht allein sein kannst?«

Ich schüttelte den Kopf. Erst dann dachte ich über die Frage nach. Es war nie anders gewesen. Ich fühlte mich allein, solange ich denken konnte. Meine Mutter war immer irgendwie traurig und wir sprachen nie besonders viel. Und mein Vater hatte noch weniger mit mir gesprochen und wenn, dann hatte er mich meistens kritisiert. Nie war etwas gut genug für ihn gewesen. Ob das der Grund war, warum ich es immer allen recht machen wollte und spüren musste, dass ich jemandem etwas bedeute? Selbst wenn ich diese Gefühle nicht erwiderte? »Findest du, ich bin ein schlechter Mensch, weil ich mit Oliver und all den anderen bloß deshalb zusammen war?«

Julia starrte einen Moment ins Leere. Anschließend lehnte sie die Wange an meinen Kopf. »Nein, Scarlett. Das glaube ich nicht. Aber ich denke, du solltest versuchen, einen anderen Weg zu finden. Ohne es zu wollen, verletzt du Menschen mit dem, was du tust.«

Ich konnte es nicht aufhalten. Ich fing wieder an zu weinen. Nie zuvor hatte ich jemanden so nah an mich herangelassen wie Julia. Nicht einmal Nathalie wusste all das von mir. Herr Gott, ich hatte bis gerade selbst nicht so viel über mich gewusst. Doch obwohl wir uns erst so kurz kannten, wusste ich einfach, ich konnte ihr vertrauen.

»Ich fühle mich auch oft allein«, sagte Julia mit leiser Stimme. »Selbst als ich mit Silke zusammen war, habe ich mich oft einsam gefühlt.«

Ich löste mich etwas von Julia und schaute sie mit verheulten Augen an. »Aber ich dachte, du magst es, allein zu sein.«

»Das tue ich. Aber allein sein und einsam sein sind zwei unterschiedliche Dinge. Weißt du, was ich meine?«

»Nein.«

»Du kannst in einer Menschenmenge stehen und trotzdem einsam sein. Oder du kannst allein an einem Ort sein und auf den Menschen, den du aus ganzer Seele liebst, warten, weil du weißt, sie«, Julia schaute mich an, »oder er kommt jeden Augenblick.«

Langsam dämmerte mir, was sie meinte. »Du wartest.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, das ist es, warum ich mich so allein fühle. Ich habe aufgehört zu warten oder zu suchen, weil ich nicht glaube, dass irgendwann jemand kommt, der mich glücklich machen kann.«

Ich richtete mich auf. »Wir sind beide noch jung. Warum hast du denn jetzt schon aufgegeben? Ich bin ja schon pessimistisch, aber du klingst ja fast depressiv.«

Julia schaute mir tief in die Augen. »Vielleicht habe ich Angst, verletzt zu werden.«

Ich nahm ihre Hand. »Wenn irgendjemand dir wehtun sollte, schick sie zu mir. Ich werde mich dann mit ihr … unterhalten.«

Einen Moment sahen wir einander an. Zeitgleich fingen wir an zu lachen. Es war genau das, was wir nach all den ernsten Gesprächen brauchten.

»Lass uns wieder nach oben gehen«, sagte Julia. »Das Feuer brennt oben, und es ist schön warm. Und bald müssen wir auch schon los.«