Kapitel 5

»Spuck‘s aus«, sagte Nathalie.

Ich spielte mit dem Träger meines Rucksacks, während Nathalie und ich über den Campus schlenderten. »Was meinst du?«

»Irgendwas geht mal wieder in deinem Kopf vor, das sieht ein Blinder, und ich will wissen, was es ist.«

»Ganz ehrlich, Nathalie, ich hab keine Ahnung. Eigentlich müsste ich total happy sein. Ach, ich weiß auch nicht.«

»Ist es wegen Oliver? Meinst du vielleicht, es war ein Fehler, ihm eine zweite Chance zu geben?«

War das der Grund für meine schlechte Laune? Ich schüttelte den Kopf. »Oliver ist toll. Er ist doch alles, was sich eine Frau wünschen kann, findest du nicht?«

Nathalie legte den Arm um meine Schulter. »Darüber lässt sich streiten.« Sie holte tief Luft. »Abgesehen davon bist du nicht irgendeine Frau. Die Frage ist: Willst du Oliver?«

Ich seufzte. »Ich weiß nicht, was ich will.« Das war nicht ganz die Wahrheit. Ich wollte, dass es klick machte. Dass ich endlich mal jemanden kennenlernen würde, bei dem die Funken sprühten, bei dem es prickelte oder zumindest …

»Warum zum Teufel bist du dann mit Oliver zusammen?«

Die Frage riss mich aus den Gedanken, und ich brauchte einen Moment, um eine Antwort zu formulieren. »Ich mag ihn. Und er kann gut küssen.«

Nathalie lachte. »Okay, das sind zwei gute Gründe.« Sie tätschelte mir die Schulter. »Sieh die ganze Sache nicht so ernst. Hab einfach deinen Spaß und schau, wo die Sache hinführt.«

Irgendwie hatte Nathalie wohl das Richtige gesagt, denn ich fühlte mich besser. Genau das würde ich tun: Spaß haben. Ich holte mein Handy raus und rief Oliver an.

* * *

Ich war kaum in Olivers Zimmer, da zog er mich auch schon zu sich und schloss die Tür. Bevor ich etwas sagen konnte, begann er, mich zu küssen.

In meinem Kopf hörte ich Nathalie sagen: »Hab Spaß.« Also erwiderte ich den Kuss. Ehe ich mich versah, lag ich auf dem Bett und Oliver auf mir.

Er küsste mich stürmisch und stöhnte.

Hatte ich eigentlich Nathalie ihre Vorlesungsnotizen zurückgegeben? Vielleicht sollte ich später noch mal …

»Ich geh zu Nina«, rief Julia durch die geschlossene Tür. »Bin so in zwei Stunden zurück.«

Julias Worte stoppten mich. Die Sache mit Oliver ging mir zu schnell. Wir kannten uns doch kaum. Und ich war eh nicht ganz bei der Sache. Ich rutschte etwas umständlich unter ihm weg, setzte mich auf und schaute mich im Zimmer um, in der Hoffnung, etwas zu finden, worüber wir reden konnten.

Oliver seufzte und setzte sich im Schneidersitz hin. »Entschuldige, wenn ich etwas zu … motiviert an die Sache rangegangen bin. Ich wollte dich nicht bedrängen.«

»Hast du nicht.« Ich rutschte noch etwas von ihm weg. Wenn ich nicht gestoppt hätte, wäre ich in wenigen Minuten wahrscheinlich nackt gewesen. Warum wollten einem Männer bloß immer an die Wäsche? So toll war Sex ja nun auch nicht. Mein Blick wanderte wieder durch den Raum. »Ihr beide steht euch sehr nahe, was?« Ich zeigte auf das Foto von ihm und Julia auf dem Nachttisch.

Oliver lächelte. »Ja, schon.«

Ich erwiderte sein Lächeln. »Es muss schön sein, eine Zwillingsschwester zu haben.« Ich schaute auf meinen Schoß. »Ich bin ja ein Einzelkind.«

»Schätze, es ist schon ziemlich cool«, sagte Oliver.

»Wie war es für dich, als sie … na ja …«

»Als sie was?«

Wie konnte ich das am diplomatischsten ausdrücken? »Dass Julia nicht … normal ist.«

Oliver neigte den Kopf zur Seite. »Nicht normal?«

Es war so süß, wenn er das tat. Er sah dabei fast wie unser Familienhund Popeye aus. Oh, stopp mal. Upps, das war wohl doch nicht nicht so diplomatisch gewesen. »Ähm, ich meine …«

»Du meinst, als sie sich geoutet hat?«

Ich nickte. »Ja, genau.«

»Als sie mir vor sechs Jahren sagte, sie sei lesbisch, war das schon hart. Ich meine, nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung, sondern weil ich Julia an dem Tag hab weinen sehen. Zum ersten Mal, seit sie sich mit sieben Jahren das Knie an einer Rutsche aufgeschlagen hatte.« Oliver ließ den Atem laut entweichen. »Sie sagte mir, sie wolle diese Gefühle nicht haben, und sie wünschte sich so sehr, Männer attraktiv zu finden. Ich sagte ihr, es sei doch scheißegal, ob sie Männer oder Frauen attraktiv findet. Hauptsache, sie sei glücklich damit.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Was sollte ich auch sonst sagen?«

»Heißt das, es war für dich von der ersten Minute an in Ordnung, dass sie lesbisch ist?«

Oliver zuckte mit den Schultern. »Merkwürdig war es natürlich schon.« Er grinste mich an. »Aber es war auch irgendwie cool, nachdem ich mich dran gewöhnt hatte und wir merkten, dass wir einen ähnlichen Geschmack haben. Also was Frauen betrifft.«

Ich musste schlucken. Hoffentlich hieß das nicht, Julia fand mich auch …

»Nachdem sie sich mir anvertraut hatte, waren wir noch unzertrennlicher als zuvor. Sie wurde von einigen Mitschülern ziemlich fertiggemacht.« Er lachte humorlos. »Man möchte meinen, wir leben in einer toleranten Gesellschaft, aber Julia hat davon nicht viel mitbekommen.«

»Was heißt ›ziemlich fertig‹?«

Olivers Gesichtszüge verdunkelten sich. »Dumme Kommentare, Beschimpfungen, so was halt. Aber«, er holte tief Luft, »das war nichts im Vergleich zu dem, was ein paar Monate nach ihrem Outing passierte.«

»Warum hat sie es denn an die große Glocke gehängt?«

Olivers Blick schien mich für einen Sekundenbruchteil zu durchbohren. »Ich riet Julia, sich nicht zu verstellen und offen damit umzugehen. Sie trug einen Regenbogen-Pin und schnitt sich sogar ihre Haare ab, um ihrer Lieblingssängerin ähnlicher zu sehen.«

»Lieblingssängerin?«

»K.D. Lang.«

Nie gehört. »Aha.«

»Weil meine Eltern sie nicht alleine gehen lassen wollten, hab ich sie sogar in einige Szeneclubs begleitet.«

Meine Kinnlade fiel runter. Oliver war in diese Perversenclubs gegangen? »Na wenigstens war sie da unter Gleichgesinnten.«

Oliver lächelte mich verkrampft an. »Es war das dritte oder vierte Mal überhaupt, dass wir in einem Club für Lesben und Schwule waren, als Julia …« Olivers Blick verfinsterte sich. »Während ich unsere Jacken von der Garderobe abholte, war sie schon vorausgegangen.« Seine Augen blitzten auf. »Beim Rausgehen wurde sie von einer Gruppe Männer angegriffen. Sie beschimpften und bespuckten Julia, warfen sie zu Boden und traten mehrfach auf sie ein.« Olivers Gesicht wurde kreideweiß. »Ich … kam zu spät.«

Oh Gott. Wollte ich wirklich mehr hören?

»Die Türsteher des Clubs sahen Gott sei Dank, was los war, und kamen ihr zu Hilfe. Aber Julia hatte trotzdem ganz schön was abbekommen.«

»W… wie schlimm war es?«

»Sie war fast eine Woche im Krankenhaus.« Oliver ballte die Hände zu Fäusten. »Julia hatte eine schwere Gehirnerschütterung, weil die mehrfach auf ihren Kopf eingetreten hatten, als sie am Boden lag. Außerdem war eine ihrer Nieren geprellt und zwei Rippen waren angeknackst.« Oliver knirschte mit den Zähnen. »Die haben diese Schweine nie gekriegt.« Seine Stimme zitterte und eine seiner Halsvenen hämmerte deutlich sichtbar unter der Haut.

Ich hatte einen dicken Kloß im Hals und meine Augen brannten.

»Sie war danach in Therapie, weil sie Angst hatte, rauszugehen.« Oliver starrte mich an. »Nach dieser Sache zog sie sich total von mir zurück.«

Ich fühlte mich auf einmal wie das größte Arschloch auf Gottes Erdboden. Es war zwar falsch, wie Julia lebte, aber das hatte sie nicht verdient. Der Gedanke an Olivers Schwester, wie sie verletzt am Boden lag, fügte mir fast körperlichen Schmerz zu. Ich schloss die Augen, als ob ich dadurch dieses Gefühl aussperren könnte.

Oliver umarmte mich. »Keine Sorge. Mittlerweile ist alles wieder wie vor dem Angriff. Also zwischen ihr und mir.«

Ich öffnete die Augen wieder und rang mir ein Lächeln ab. Vielleicht sollten wir das Thema wechseln. »Äh, wolltest du schon immer Medizin studieren?«

Oliver schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich Biologie und Mathematik auf Lehramt studieren, aber als Julia sich für Medizin entschied, bin ich ihr gefolgt.«

»Wirklich?«

Oliver nickte.

Das war ja mal ein Hammer. War ihm seine Berufswahl so egal? »Warum?«

Oliver zuckte mit den Schultern. »Es schien einfach das Richtige zu sein. Und ich bin froh, dass ich mich so entschieden habe. Ich liebe die Medizin.«

In den folgenden zwei Stunden redeten wir über so ziemlich alles. Kindheit, Hobbys, alles, was uns so einfiel.

Ich mochte es, mich mit Oliver zu unterhalten. Knutschen und Fummeln brachte einen doch nicht näher. Reden schon.

* * *

Als ich hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, verstummte ich, sprang aus Olivers Bett und riss die Zimmertür auf.

Julia hatte gerade ihre Jacke aufgehängt und schaute jetzt mit gerunzelter Stirn in meine Richtung.

Ich ging mit wenigen Schritten auf sie zu und schlang die Arme um sie.

Julia versteifte sich. »Ist alles in Ordnung, Scarlett? Ist irgendwas passiert?« Zögerlich legte Julia ihre Arme um mich.

»Alles okay.« Ich hielt sie ganz fest. Es tat mir so leid, was ihr passiert war. Ich atmete tief ein. Keine Ahnung, warum. Ich fühlte mich auf einmal so … geborgen. Geborgen? Ich riss die Augen auf, die ich wohl während der Umarmung geschlossen hatte, und löste mich von ihr.

In diesem Moment tauchte Oliver auf und lächelte uns an. »Ich habe Scarlett von dem Angriff auf dich erzählt.«

Julia hob eine Augenbraue.

»Vorm ›Blu‹.«

Julias Augen wurden zu Schlitzen. Sie sah erst Oliver an, dann mich. »Ich brauche kein Mitleid. Mir geht es jetzt gut. Oliver hatte kein Recht, dir von dieser Sache zu erzählen.«

Oliver senkte den Kopf.

»Mitleid?«, fragte ich. »Ich empfinde kein Mitleid für dich.«

»Ach nein?«

»Nein. Du weißt, was ich über deine Art zu leben denke. Aber das gibt niemandem das Recht, dich so zu behandeln.«

Julia öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne etwas zu sagen.

Oliver schaute zwischen Julia und mir hin und her. Er legte die Hände auf meine Schultern und ich lehnte mich an ihn.

Julia stapfte den Gang runter. »Ich muss lernen.«

Au. Mensch, ich hatte, ohne es zu merken, auf meine Unterlippe gebissen. Mein Blick folgte Julia, bis sie in ihrem Zimmer verschwand. Anschließend nahm ich meine Jacke von der Garderobe und öffnete die Tür. »Ich geh jetzt besser.«

»Warum denn?«, fragte Oliver. »Wegen Julia?«

Ich drehte mich zu ihm und schüttelte den Kopf. »Es ist schon spät und ich muss auch noch lernen.«

Oliver nickte und küsste mich zum Abschied, bevor ich schweigend die Wohnung verließ.

* * *

Die Woche verging wie im Flug.

Oliver kam jeden Tag entweder zu mir oder ich zu ihm. In all der Zeit sah ich Julia nur einmal.

Aber da sprach sie keine zwei Worte mit mir.

Oliver und ich sprachen umso mehr.

Tatsächlich genoss ich unsere Unterhaltungen mehr als unser Kuscheln und Küssen. Nicht, dass er nicht gut darin war. Vielmehr war ich einfach nicht in der Stimmung dazu. Ich machte trotzdem immer etwas mit, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, ich sei nicht an ihm interessiert. Denn ich mochte es, Zeit mit ihm zu verbringen. Ehe ich mich versah, kam Freitag.

Wir wollten wieder alle zusammen ausgehen. Also alle, außer Anja. Die war in unserer Runde Persona non grata.

Zu meiner großen Überraschung tauchte Julia mit einer jungen Frau an ihrer Seite in der Bar auf. Ich beobachtete die Unbekannte eingehend. »Wer ist das?«, fragte ich flüsternd, um nicht von den anderen gehört zu werden.

»Das ist Miriam.« Oliver sprach ebenfalls leise. »Sie und Julia haben sich letzte Woche in einer Lerngruppe kennengelernt. Ich glaub, sie will was von Julia.«

Als ich die beiden Frauen miteinander beobachtete, wusste ich, was Oliver meinte.

Miriam strahlte Julia an, als wäre sie ein leckeres Stück Torte nach einer langen Diät.

Mir Julia mit einer anderen Frau vorzustellen, war ja schlimm genug. Aber diese Miriam passte so gar nicht zu ihr. So viel war schon mal sicher. Eingehend betrachtete ich Julias Begleitung. Braune Haare, braune Augen, sogar kleiner, dafür aber mindestens fünf Kilo schwerer als ich und eine halbe Tonne Make-up im Gesicht. Ohne auch nur ein Wort mit ihr gesprochen zu haben, war mir diese Miriam schon unsympathisch. Aber wie sollte ich mich ihr gegenüber verhalten?

Nathalie begrüßte Miriam freundlich mit einem Kuss auf die Wange und einer Umarmung. Offenbar kannten sich die beiden. Wer hätte gedacht, dass Nathalie Lesben kannte. Obwohl, stopp … das war doch hoffentlich nicht die Lesbe, mit der sie …

»Scarlett«, sagte Julia, »das ist Miriam.«

Besagte lächelte mich an und küsste meine Wange.

Ich versteifte mich und versuchte mehr oder weniger erfolgreich, meine Gesichtszüge zu kontrollieren.

Julia kicherte.

Ich ignorierte sie, zog Oliver zu mir und küsste ihn hungrig.

Obwohl wir nicht allein waren, intensivierte er den Kuss, und ich schob ihn nach kurzer Zeit sanft weg.

Während Oliver grinste, war jegliches Amüsement aus Julias Gesicht verschwunden. Sie drehte sich von mir weg und begann, mit Miriam zu sprechen.

* * *

Wir gingen in einen neu eröffneten Tanzclub.

Die Stimmung dort war klasse, und ich genoss es, mit Oliver zu tanzen. Bis ich aus dem Augenwinkel Julia und Miriam zusammen sah.

Sie lagen einander in den Armen.

Mir wurde schlecht, als ich beobachten musste, wie sich ihre Körper im Rhythmus der Musik aneinander schmiegten.

»Sind sie nicht ein süßes Paar?« Oliver blickte verträumt zu seiner Schwester und dieser … Miriam.

Ich wandte den Blick von dem ekligen Spektakel ab und vergrub mein Gesicht in Olivers Nacken. Als ich einige Minuten später wieder hinsah, musste ich mich an Oliver festhalten.

Julia und Miriam standen am Rand der Tanzfläche und … und küssten einander.

Es war wie bei einem Autounfall - ich schauderte, konnte aber einfach nicht wegschauen. Wirklich abartig, wie sie einander in den Armen lagen und die Zunge in den Mund der anderen schoben. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an und prickelte gleichzeitig. Waren das Zeichen, dass ich mich gleich übergeben musste?

Julia hatte die Arme um Miriam geschlungen und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Nach einer Weile endete dieses abartige Rumgeknutsche. Als Julia die Augen öffnete, trafen sich unsere Blicke.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Miriam folgte Julias Blick und sagte etwas zu ihr.

Daraufhin schüttelte Julia den Kopf.

Es folgte ein intensiver Wortwechsel.

»Was schaust du denn so interessiert zu den beiden?«, fragte Oliver.

»Was?«

»Du schaust die ganze Zeit zu Julia und Miriam rüber.«

Ich riss den Blick von den beiden los. »Ich hab noch nie zwei Frauen küssen sehen. Also nicht im wirklichen Leben.«

»Ich persönlich finde das ziemlich heiß.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Nur nicht, wenn eine der beiden Frauen meine Schwester ist.«

Ich quälte mir ein Lächeln ab und zog ihn näher zu mir.

Keine Minute später tippte jemand an meine Schulter.

Es war Julia. »Kannst du mal bitte mitkommen?«

Ich glotzte sie mit großen Augen an.

»Geh ruhig«, sagte Oliver. »Ich warte hier.«

Widerwillig folgte ich Julia zum Rand der Tanzfläche. Was zum Teufel wollte sie von mir und wo war Miriam?

In der Nähe der Toiletten drehte sich Julia zu mir. »Die ganze Sache ist lächerlich.«

Ich starrte sie an. Warum sagte sie nicht, was sie wollte?

Julia seufzte. »Miriam denkt, wir … du und ich hätten was am Laufen.«

Ich taumelte einen Schritt zurück und hielt mich an der Wand neben mir fest, um nicht umzukippen. »Waaas?« Wenn ich vorher dachte, mir sei schlecht, musste ich jetzt feststellen, dass dieses Gefühl noch schlimmer werden konnte. »Das ist lächerlich.«

»Das habe ich ihr auch gesagt.«

»Wie kommt sie denn auf so einen Mist?«

Julia runzelte die Stirn und wich meinem Blick aus. »Ich … ich weiß nicht.« Sie sah mich an. »Alles war okay und plötzlich fing sie damit an.«

»Einfach so?«

»Einfach so.« Julia schloss für einen Moment die Augen und schaute mich danach mit einem Gesichtsausdruck an, den ich bloß als verloren beschreiben konnte. »Ich verstehe es auch nicht.«

Das war mir alles zu hoch. »Warum sollte ich mitkommen?«

»Miriam ist da drin.« Julia zeigte auf die Damentoilette. »Könntest du ihr bitte sagen, dass zwischen uns nichts ist?«

Ich konnte das alles nicht glauben. Wie konnte jemand auf die Idee kommen, ich wäre eine … was für ein lächerlicher Gedanke. Ich war doch mit Oliver zusammen. Und warum war diese Miriam überhaupt so eifersüchtig? Sie schien mir ganz schön besitzergreifend nach nur einem Kuss. Obwohl, wer weiß, was die beiden in der einen Woche schon alles angestellt hatten. Bah, bei diesem Gedanken schüttelte es mich.

Julia verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. »Tust du mir den Gefallen?«

Ich schob die Ärmel meiner Bluse hoch und stapfte in die Damentoilette.

Miriam wusch sich gerade die Hände.

»Zwischen mir und Julia ist rein gar nichts.«

Miriam betrachtete mich, sagte aber nichts.

»Ich bin nicht«, pervers, abartig, fehlgeleitet, »lesbisch. Ich steh auf Männer. Und nur auf Männer.«

»Wie du meinst.«

»Und noch was.« Ich ging einen Schritt auf sie zu. »Für jemanden, der Julia erst seit Kurzem kennt, bist du verdammt …«

»Verdammt was?« Miriam kam einen Schritt näher.

Ich schüttelte den Kopf. »Diese Vorstellung ist lächerlich.« Als ob ich jemals mit einer Frau … ekelhaft.

Miriam hob eine Augenbraue.

»Wie kommst du auf so was Bescheuertes? Ich bin mit Oliver zusammen und … und außerdem hat Julia vor ein paar Minuten schließlich mit dir den Tonsillentango abgezogen. Also was w…«

»Was ich mit Julia tue, geht dich gar nichts an.« Miriam schaute zur Seite. Als sie mich wieder ansah, schmunzelte sie. »Andererseits kann ich dir dein Interesse an Julia nicht verübeln.«

Was? Hatte diese Schlampe den Verstand verloren? Ich wusste es: Homos waren alle krank und dachten, jeder um sie herum sei auch pervers.

»Du hast sie nicht mehr alle«, sagte ich und ging zum Ausgang.

»So wie du Julia ansiehst, braucht man kein Gaydar, um zu merken, dass du nicht nur auf Männer stehst.«

Ich wirbelte zu ihr herum. »Spinnst du? Ich schau Julia ganz normal an.« Ich kniff die Augen zusammen. »Und was zur Hölle ist ein Gaydar?«

Miriam grinste. »Du stehst auch auf Frauen. Gib‘s doch zu.«

»Und du kennst mich natürlich, nach einem Abend, ohne drei Worte mit mir gesprochen zu haben.«

Dann passierte es: Miriam kam mit wenigen Schritten auf mich zu, nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich auf den Mund.

Ich versuchte, mich loszureißen, doch sie war stärker. Gott, oh Gott!

»Lass sie los!«

Miriam ließ von mir ab.

Ich strauchelte etwas, konnte mich aber irgendwie in Julias Arme retten. Ich konnte nicht fassen, was hier gerade passiert war. Diese Perverse hatte mich angegriffen. Ich zitterte am ganzen Leib und hatte das Gefühl, nicht atmen zu können.

»Nun flipp mal nicht aus«, sagte Miriam. »Wollte bloß mal sehen, wie sie reagiert. So wie sie dich den ganzen Abend ange…«

»Miriam, es ist genug jetzt«, zischte Julia. »Du kannst nicht einfach durch die Gegend laufen und Frauen gegen ihren Willen küssen. Was dachtest du, was passiert?« Julia rollte mit den Augen. »Hast du erwartet, sie erwidert den Kuss und bedankt sich dafür, dass du ihr die Augen geöffnet hast?«

Miriam öffnete den Mund, doch Julia hob die Hand. »Verschwinde.« Als Miriam nicht reagierte, schrie Julia: »Raus hier.«

Miriam schaute einen langen Moment ungläubig zu Julia und anschließend mit zusammengekniffenen Augen zu mir. »Ich hoffe, ihr werdet glücklich miteinander.« An uns vorbeigehend, warf sie mir einen kurzen Blick zu. »Schlampe.«

Julia trat einen Schritt auf Miriam zu, doch ich hielt sie am Arm zurück. »Lass sie.«

Kaum waren wir allein, sagte Julia: »Es tut mir leid.«

Ich tätschelte ihr den Arm und holte tief Luft. »Danke für deine Hilfe.«

Julia lächelte mich etwas angestrengt an.

»Ich möchte nach Hause gehen«, sagte ich mit heiserer Stimme.

Julia nickte und gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach Oliver.

Ich nahm instinktiv Julias Hand. Ich fühlte mich nach Miriams Angriff sicherer so. Julia beschützte mich.

* * *

Nachdem mich Oliver zu Hause abgeliefert hatte, ging ich erst mal ins Bad. Ich musste duschen. Vielleicht würde ich so dieses schmutzige Gefühl loswerden. Ständig wiederholten sich diese furchtbaren Sekunden auf der Toilette in meinem Kopf. Wie hatte Miriam es wagen können, mich anzugreifen?

Beim Einstellen der Wassertemperatur bemerkte ich, dass meine Hände immer noch zitterten. So eine Schlampe. Ich spülte mir mehrfach den Mund aus. Das heiße Wasser prasselte auf meine Schultern und löste langsam meine verkrampften Muskeln. Eigentlich hatte mich der Abend doch bloß in dem bestätigt, was ich über Homos dachte.

Doch was war mit Julia? Sie war mir zu Hilfe geeilt. Gott sei Dank war sie genau im richtigen Moment hereingekommen. Und der Abend, an dem ich, äh, Magenprobleme hatte. Auch da war sie für mich da gewesen. Julia … vor einer Woche hätte ich sie nicht mal mit der Kneifzange angefasst und jetzt war sie fast schon so etwas wie eine Freundin. Freundin? Konnte ich wirklich mit einer Lesbe befreundet sein? »Es geht hier nicht um irgendeine Lesbe. Es geht hier um Julia«, sagte ich laut und schaltete das Wasser hastig aus, als es kalt wurde.