27

Sten Ard blieb noch ein Weilchen, in dem guten Sessel, wegen der Musik: Violettas Lied in Addio, del passato bei sogni ridenti, fast vier Minuten, die das ärmliche Zimmer in etwas anderes und Größeres verwandelten.

»Das lern ich nie, Jonathan. Welcher Akt ist das?« »Ein Stück aus dem dritten.« »Es ist schön.«

»Schön? Mehr fällt dir nicht zu Traviata ein?«

»Tja, das schafft einen besonderen Kontrast zur Umgebung, wenn man so sagen kann.«

»Ich weiß, dass ich ein Ersatzheim habe. Die Musik.«

»Denk doch bei Gelegenheit über beides nach.«

Wide schloss die Augen und lauschte. Wie konnte jemand so wie Joan Sutherland singen? War das angeboren, wie viel war knochenharte Arbeit, wie viel war Routine? Es dauerte lange, ehe man die Einfachheit erreichte .

»Ist das angeboren, was meinst du, so ein Talent?«

»Ganz allgemein? Oder das Singen im Besonderen?«

»Du weißt, was ich meine, Sten.«

»Ich glaube, man kriegt von Anfang an eine gute Dosis mit. Aber genau weiß man das nicht. Man muss es richtig nutzen. Den meisten misslingt das.«

Sten Ard sah auf die Uhr.

»Hast du noch ein Bier?«

Wide ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und rief ins Zimmer:

»Wird man ein glücklicherer Mensch, wenn es einem gelingt?«

Er hörte Ard etwas murmeln, aber die Worte schafften es nicht bis in die Küche, sie blieben an der Schwelle hängen. Wide kehrte ins Wohnzimmer zurück, diesmal mit einer Flasche Tuborg. Zwei Gläser.

»Was hast du gesagt?«

»Na ja, es ist sicher eine Form des Glücks, wenn man seinen Sinn und sein Ziel gefunden hat . jedenfalls müsste es irgendwie zufrieden stellend sein. Aber die Tatsache, ob man ein glücklicher Mensch ist oder nicht, hat wohl nichts damit zu tun. Das ist eher von Anfang an da, glaube ich, Teile des Glücks, Geborgenheit, und vieles kann im ersten Jahr zum Teufel gehen. Dann verbringst du den Rest deines Lebens auf der Suche nach dieser Geborgenheit.«

»Auch als irgendein Weltberühmter?«

»Ja, du kannst auch ein weltberühmter Massenmörder sein.«

»Oder Opernsänger.«

Ard zeigte auf den CD-Player.

»Hör mal hin, da hörst du viel Schmerz.«

»Deswegen hab ich die Musik doch. Nach der Scheidung ... seitdem hör ich häufig Opern. Der Schmerz tut gut.«

»Das tut er. In der Schummerstunde hol ich Overton Vertis Wright vor und leide zusammen mit ihm.«

Wide lächelte und streckte sich nach dem Glas. Ein Teil von Ard war für immer in einer Zeit, als die Zukunft noch unkompliziert und hell war.

»Wright? Dieser Souljunge, den du als Einziger auf der ganzen Welt kennst?«

Draußen ertönte die Sirene eines Krankenwagens, der mit großer Geschwindigkeit fuhr, es klang wie ein Hilferuf in der Nacht. Wide konnte das Auto vor sich sehen, wie es durch den nächtlichen Verkehr kreuzte, den Tod im Schlepptau.

»So ist es. Wright hat so ein Leben geführt, seine ganze Karriere schien darauf hinauszulaufen, dass er vergessen werden würde. Als ob das sein Ziel war.«

Ard hatte einen besonderen Glanz in die Augen bekommen.

»Darüber haben wir neulich geredet. Nimm diesen O. V. Wright, als Kind ein gottbegnadeter Sänger . er wurde entdeckt, machte Karriere mit Gospel und dann Soul. Massenhaft Platten. Auslandstourneen. Der Junge durfte machen, was er wollte, also hätte er glücklich sein müssen, oder?«

»Vergiss nicht den Hang, sich selbst zu verbrennen.«

»Ich hab kürzlich einen guten Ausdruck darüber gehört, einen demanding lifestyle zu führen, das fordert seinen Preis.«

Ard sah Wide an.

»Das könnte auf dich zutreffen.«

»Ich hab gedacht, wir reden über Wright.«

»Right. Er hatte also alles. Weißt du, wie er sein Leben beendet hat?«

Wide wusste es nicht. Die Sirene war verstummt, jetzt war nur noch das unbestimmte schwache Brausen der Stadt zu hören.

»Er ist 1980 in einem Krankenhaus in Mobile gestorben, Alabama. Er war einundvierzig. Sein Herz hat sich nach den vielen Jahren Heroinmissbrauch verabschiedet.«

»Der große Held in deinem Leben war also ein Drogensüchtiger.«

»Das hat er mit vielen geteilt, leider. Fast bizarr daran ist auch, dass er auf allen Ebenen des Lebens den Bodensatz gesucht hat. Dieser fantastische Sänger ist wegen Diebstahl und Überfällen angeklagt gewesen und endete als Handtaschendieb. Kannst du dir das vorstellen . Handtaschen!«

»Dein Held ist also nicht nur ein Drogensüchtiger, sondern auch ein Handtaschendieb gewesen. Hast du das schon einmal mit deinem Arbeitgeber diskutiert?«

Sten Ard überhörte Jonathan Wides Einwürfe geflissentlich.

»Und dann so eine Musik, solche Texte, my life is so confused, but I don't wanna die, I wanna go to heaven, but I'm scared to fly. Von so einer Strophe können sie bei der Scala nur träumen.«

Wide war eine Weile still und sagte dann:

»Das ist gut. Darf man die mal ausleihen?«