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Sie sah eine Amsel, die ihren Futterplatz bewachte, drei Krümel, auf Abstand die Meisen, bis sich eine drei Hüpfer näher wagte. Die Amsel hob den Schnabel und dann den ganzen Körper, einen Augenblick sah sie wie ein schwarzer Stein im Laubwerk aus, bevor sie in die Sonne flog.
Sie sah ihren Mann an.
»Noch ein Tag in der Welt der Männer.«
Sten Ard massierte seinen Nasenrücken, den Blick auf einen Punkt über ihrem Kopf gerichtet.
»Ich glaub, mir wachsen Haare auf der Nase.«
»Das kommt daher, weil du so ein Mann bist. Weil du dich in einer männlichen Umgebung aufhältst, einer kraftvollen Umgebung.«
»Viele der Kraftvollsten können nicht mehr als zwei Kilo anheben.«
»Vielleicht das Alter. Aber im tiefsten Innern sind sie die Männer, die sie immer sein wollten. Außerdem habt ihr doch die Autos.«
»Du bist also der Meinung, dass das Auto Macht ausdrückt?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen, Sten? Hat das Auto nicht immer die Macht der Männer ausgedrückt?«
»Tja, wie es den Jungs im Punischen Krieg gegangen ist, das weiß ich nicht .«
»Ich weiß es. Sie haben von etwas geträumt, was sie vorwärts bringen würde, und zwar schnell. Die Männer haben es nie geschafft, sich nur aus eigener Kraft vorwärts zu bewegen. Es gibt nichts Verletzlicheres als einen Mann, der nichts weiter besitzt als seinen Körper.«
Er spürte seinen Körper, er fühlte sich schwerer an denn je - wie eine Rüstung, die zu rosten begann. Verletzlich.
»Und die Jungs im Schlosswald? Versuchen die sich in ihrer ganzen Verletzlichkeit zu zeigen?«
»Das ist auch ein Zeichen von Schwäche. Wer in einem Park herumrennt, läuft vor etwas weg. Sehen die aus, als ob ihnen das Spaß macht?«
»Es soll wehtun. Der Schmerz ist der Weg. Außerdem kriegt man vom Laufen einen schönen Körper. Das kommt den Frauen zugute.«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Dann lassen sich Frauen also willig von Fleischklöpsen umlegen?«
»Manchmal, wenn es ein denkender Fleischklops ist.«
»Wer seinen Körper pflegt, denkt nicht nach? Willst du das damit sagen?«
»Dir gehen wohl die Argumente aus. Du weißt doch, dass ich es nicht so meine. Aber mir ist schlecht von all dieser Mentalität >Bau deinen Körper zu einer Festung auf<, diese Fixierung auf den Körper und die Muskeln. Es scheint nur einen Körper zu geben, kein Gehirn, als ob der Kopf und der übrige Leib eine Skulptur wären, die man pflegen und putzen und aufpumpen und so lange wie möglich glänzend erhalten muss.«
Sten Ard sah seine Frau an. Sie hatte ja Recht. Er hatte das aus ziemlicher Nähe gesehen: Jugendliche, die Pillen aus dem Ostblock schluckten, um ihr Ziel auf kürzestem Weg zu erreichen.
Aber konnte einem Jogger, der mit glasigem Blick zum dritten Mal um den Robbenteich lief, der ganze Schrott über die Mythen des Körpers angelastet werden?
»Maja, ich glaub nicht, dass wir dem Jogger im Schlosswald alle Schuld geben können.«
»Und ich halte diese ganze Verherrlichung des Körpers für verdammt gefährlich«, sagte sie »Du weißt, wie der Faschismus entstanden ist und sich entwickelt hat. Es ist gut, zu widersprechen und sich ein wenig gesunde Skepsis gegen übertriebene Körperbetätigung zu bewahren.«
Sten Ard lachte auf. Er liebte ihre genaue und trotzdem etwas umständliche Art zu argumentieren. Übertriebene Körperbetätigung.
Er lachte auch in der Erinnerung. Es war am letzten Wochenende auf einer glühend heißen Tribüne gewesen. Ard und die Nächsten im Gamla-Ullevi-Stadion, und sein geliebter Allianzclub, abgestiegen aus der Landesliga, und er Ausschau haltend nach etwas, was ihn mitreißen könnte. Es war übertriebener Körpereinsatz, den er sehen wollte. War die Hitze daran schuld, dass sich alle wie in Zeitlupe bewegten?
Aber nicht die Hitze hatte die Mannschaft absteigen lassen, er hatte sich umgeschaut, die Männer mittleren Alters angesehen, die zusammen mit ihm eine kleine Gruppe mitten auf der Stehplatztribüne bildeten, und er hatte den Blick zum Polizeipräsidium gehoben, das einige hundert Meter von dem Platz entfernt lag, wo er sich jetzt aufhielt.
Das Polizeipräsidium, Gamla Ullevi, das waren Orte, wo er sich aufhielt. In dieser Saison den Club zu begleiten war mehr Arbeit als Vergnügen gewesen, ganz zu schweigen von der vorherigen Saison, eine verdammt harte Arbeit war das gewesen, Trauerarbeit.
Er gehörte zu der Generation der Aussterbenden und das war gut so. Fußball war kein Sport der Zukunft.
Jemand hatte diesen Sport einmal als Rasenschach bezeichnet. Sten Ard hatte den Ausdruck immer für idiotisch gehalten, aber jetzt war er nicht mehr so sicher. Hatten die Spieler überhaupt so etwas wie Freiheit? Waren es nicht vielmehr die unsichtbaren Strippen des Trainers, die sie auf dem Platz agieren ließen? Ich sehne mich vom schwarzen Feld zu dem weißen /Ich sehne mich vom roten Faden zum blauen, vielleicht konnte Mutter Fußball mit Ekelöf beschrieben werden, Ard trug immer seinen Ekelöf mit sich herum wie eine schusssichere Weste. Die Leute machten sich nachsichtig über ihn lustig, und er wurde immer geneigter, ihn zu zitieren.
»Sten? Sten! Bist du müde?«
Sie berührte ihn leicht am Arm. Der tägliche Wortwechsel war vorbei, ein Ritual, wenn sie sich nach der Arbeit zu Hause trafen.
Maja sah selber müde aus. Eine Sozialarbeiterin, die schon viel gesehen und sich trotzdem ein starkes Engagement bewahrt hatte. Hatte sie sein ... Zynismus enttäuscht, wenn es denn Zynismus war, was er manchmal ausdrückte? Er hoffte, es war nicht so.
Auch er hatte viel gesehen. Ihm fiel es schwer, die richtigen, unmittelbaren Gefühle zu zeigen.
»Ja, ich bin müde. Ich möchte einen Whisky.«
»Talisker?«
»Nein, heute will ich nicht den Rauchmelder hören.« »Einen, der weniger rauchig schmeckt?« »Genau.« »Glenkinchie?«
»Ausgezeichnetes Getränk after a walk in the hills.« »Reden wir nicht von einem pre-dinner-drink?«
Wieder ein kleines Ritual. Der Malt Whisky Companion von Michael Jackson - ein Buch, aus dem man viel zitieren konnte.
»Ich bin ziemlich nah der Ängsgärdsberge gewandert und werde bald was essen. Her mit dem Schnaps!«
War es das, was am Ende etwas bedeuten würde? Maltwhisky, die echte Ware ohne Beimischung von Alkohol aus Kartoffeln und einfachem Getreide? Er trank nicht viel, aber er saß gern eine Weile da, die Nase in das glühende Getränk gesteckt. Es war eine Frage von . Stil geworden, vielleicht sogar Ethik. In einer Abstellkammer hatte er einige hübsche Flaschen. Er würde sie niemals herausnehmen, nie mehr als eine zur Zeit. Vielleicht war das eine Klassenfrage. Sein Vater hatte den Branntwein nicht auf den Tisch gestellt. Ard stammte aus einer Schicht, in der man sich nie ganz von der Scham für das Trinken und die Flaschen befreien würde.
Er meinte, den frühen Abend da draußen hereingleiten zu hören, wie ein Schiff in den Heimathafen. Die vertrauten Geräusche.
»Da läuft ein Mörder frei herum.«
Sie saßen in dem, was sie jetzt Bibliothek nannten, ein großer, heller Raum, der mit jedem Bücherregal, das aufgestellt wurde, immer dunkler geworden war, die Jahre ihres Lesens waren wie Jahresringe an den Bücherregalen abzulesen. Sie las mehr als er. Er las die Bücher immer mehrmals, daher reichten sie lange für ihn. Er war dankbar, dass er im Lauf seines Lebens gewisse Sätze hatte lesen dürfen.
»Du pflegst sie nicht mit nach Hause zu bringen.«
Sie saß in dem Ledersessel neben seinem. Eines Tages vor einigen Jahren hatte er die Klassenzugehörigkeit sorgfältig im Garten vergraben, danach einen Anruf getätigt und war zur Bank gefahren. Hinterher ging er zu einem Möbelhaus und hatte für 29000 Kronen diese Sessel gekauft, hohe Modelle. Als sie angeliefert wurden, war er für einen Moment in Panik geraten, und es hatte zwei Tage gedauert, ehe er sich zum ersten Mal hineingesetzt hatte.
Es war das beste Geschäft, das er jemals gemacht hatte.
»Dieser Mörder ist vielleicht ein Künstler. Er braucht Publikum.«
»Es reicht ihm nicht, jemanden umzubringen?«
»Nein, es soll gesehen werden, es soll in einer Art selbstverständlicher Nonchalance inszeniert werden. Wie ein Schauspiel. Vielleicht ist es so.«
»Das kann ja nicht der einzige, na ja . öffentliche Mord in Göteborg sein.«
»Normalerweise kriegen wir sie fast immer sofort, Überfall auf offener Straße, Totschlag und ... ja, die Morde in den Kneipen und in dem Gedränge davor.«
Er schwieg eine Weile.
»Diesmal wirkt es so raffiniert.«
»Eine Warnung für andere.«
»Eine Kreuzigung. Es war wie eine Kreuzigung.«
»Aber so was hast du doch früher auch schon erlebt?«
»Nein, es ist neu. Ich spüre, dass es etwas Neues ist. Jetzt sind andere Spieler auf dem Platz. Davon gehen wir jedenfalls aus.«
»Das klingt unheimlich.«
»Es ist unheimlich. Göteborg ist wie ein weit offenes Feld, wie eine unendliche Fläche von unberührtem Neuschnee.«
Wie treffend der Vergleich ist, merkte er erst, als er die Worte ausgesprochen hatte.
»Früher hatten wir Probleme mit dem Rauschgift, aber damit sind wir noch irgendwie fertig geworden. Man kann sagen, es spielte sich auf einem mittleren Niveau ab.«
»Und jetzt geht es um die Elite?«
»Göteborg hatte sein eigenes Debüt in der Landesliga des Rauschgifts.«
»Kann man Fußball für alle Arten Metaphern benutzen?«
»Wir sind jetzt Mitglied in der Rauschgift-EU, wenn dir das lieber ist. Oder eher Rauschgift-UNO, das ist ein treffenderes Bild.«
»Und dieser Mord . der passt da rein?«
»Es sind deutliche Absender, deutliche Nachrichten für alle, die die Sprache verstehen. Es ist eine brutale Sprache, nein, das Wort ist zu kraftlos, sie besteht aus Lauten, entsetzlichen Lauten.«
»Aber die, die diese Sprache sprechen, beherrschen auch andere Sprachen.«
»Vielleicht ist das das Allerschlimmste. Die harten Akteure sind zu intelligent, sie sitzen auf den richtig hohen Posten. Den althergebrachten Soziopathen schnappen wir früher oder später. Seinen Bruder an der Spitze hingegen kriegen wir nie.«
»Ist das nicht der übliche Polizeizynismus?«
»Ich fürchte, diesmal ist es anders. Dies sind neue Wege. Unsere Autos sind nicht schnell genug auf diesen Wegen.«
Sie spürte das Engagement, aber auch die Resignation, sein Gesicht mit den drei kurzen Falten zwischen den Augen. Sie waren schon früh da gewesen, wurden aber tiefer und waren in den Jahren ihres Zusammenseins immer deutlicher hervorgetreten.
»Wie wollt ihr mit dieser finsteren Grundeinstellung etwas ändern?«
»Nicht finster. Realistisch. Man muss von diesen Voraussetzungen ausgehen. Sonst erlebt man Enttäuschungen. Von Enttäuschungen auszugehen ist nicht gut.«
»Ihr seid doch ein Team.«
»Wir sind viel zu wenig.« Er wiederholte die Worte. »Wir sind viel zu wenig.«
Sie schwiegen eine Weile. Er trank den Whisky aus, oder besser, er atmete die letzten Dämpfe ein.
Die Wärme legte sich für die Nacht zur Ruhe, ein kleines Stück oberhalb des Bodens. Ein schwacher Schatten hatte sich über das Zimmer gesenkt. Sten Ard schaute auf.
»Dem langsam dunkelnden Abend ziehe ich freundlos entgegen.«
»Ekelöf?«
»Fast richtig, bis auf ein paar Buchstaben. Es ist Eke-lund.«
Er hielt sein Glas gegen das weiche Licht und sah eine kleine Welt im Bernstein mit gerundeten Formen.
»Möchtest du noch einen?«