13
Sie hatten eine Menge zu besprechen. Nicht etwa über das Wetter. Es war Mitternacht geworden, und Ard hatte Wide endlich erwischt.
»Du siehst aus, als würde es dir nicht gut gehen.«
»Scharf beobachtet.«
Jonathan Wide ging es trotzdem etwas besser als in den vergangenen beiden Tagen. War es das Adrenalin, das durch seine Adern strömte? Es könnte der eigene Hei-lungsprozess des Körpers sein, der so untertänig arbeitete, loyal bis zum Letzten. Man konnte ihn schlagen, ihn vergiften, ihn wieder schlagen und wieder vergiften. Der Körper rückte aus zur eigenen Verteidigung, mobilisierte, reparierte. Wide wusste nicht, ob er den Einsatz wert war.
Er würde seinen Alkoholkonsum verringern. Vielleicht ein so genannter trockener Alkoholiker werden, wenn er überhaupt Alkoholiker war.
»Ich hab einige anstrengende Tage hinter mir.«
»Besonders zum Ende hin.«
»Du weißt, dass ich keinen Streit suche.«
»Nein. Der sucht immer dich. Was hast du bloß an dir, dass du ihn so anziehst?«
»Mein unschuldsvolles Aussehen. Typen wie ich geraten immer in unangenehme Situationen.«
Ard schwieg. Nach einer Weile hustete er verhalten und kratzte sich mitten auf der Brust. Juckte es ihn dort vom Husten?
»Es ist Preben Kragersen. Nicht gerade ein Gemütsmensch.«
»Ein Bekannter?«
»Tja, wir haben ihn mal wegen Körperverletzung vernommen.«
»Körperverletzung? Er?«
»Ich verstehe, dass du es nicht glauben kannst.«
»Er wirkt nicht so, als würde er mit so was fertig werden.«
»Für Kragersen ist es immer gut ausgegangen. Zeugen und Anklagen haben sich stets rechtzeitig in Luft aufgelöst.«
»Ich frage mich, was er hier macht.« Wide massierte sich vorsichtig den Hinterkopf.
»Er bezahlt die Krankenpflege, nachdem er unglücklich gestürzt und gegen eine Theke geknallt ist.«
»Ich weiß schon.«
»Wie soll ich wissen, was er ausgerechnet jetzt hier macht? Vermutlich den Leuten eins aufs Maul geben, etwas oder jemanden schützen, kaufen oder verkaufen.«
»Rauschgift? Eine Rauschgiftgeschichte?«
»Soweit wir informiert sind, nicht. Aber genau darum geht es . Ich hab heute versucht, dich zu erreichen . nein, gestern.«
»Ich war ziemlich beschäftigt.«
»Das hab ich gemerkt. Was für ein Glück, dass du unserem dänischen Freund bei der Atmung geholfen hast und ihm auch sonst behilflich warst, bis unsere Jungs ankamen. Was hattest du übrigens in einem der eher anspruchsvolleren Aufreißerlokale der Stadt zu suchen?«
»Ich hab niemanden aufgerissen.«
»Du sitzt also zu Hause und schreibst das Tagebuch eines Geschiedenen?«
»Ich war ... ich habe eine Dame begleitet. Jetzt begleitet sie ein anderer.«
Ard sah Wide an. Diese kryptische Formulierung passte nicht zu Wide. Er gehörte nicht zu denen, die erzählten, wenn sie bei Frauen abblitzten, auf der anderen Seite setzte er sich diesem Risiko auch selten aus. Es war etwas anderes.
»Eine Dame? Ich bin auch auf der Jagd nach einer Dame. Sie ist gerade Witwe geworden, weiß es aber noch nicht.«
»Und du bist derjenige, der ihr diese Neuigkeit übermitteln soll?«
»Ja.«
»Wer?«
»Du kennst ihn vermutlich, stadtbekannter Drecksack, angesiedelt in den etwas höheren Regionen.«
»Klingt nach irgendeinem Geschäftsmann oder Politiker, der an Macht und unbegrenztem Einfluss Geschmack gefunden hat.«
»Dieser hier hat Göteborg ein neues Gesicht gegeben. Georg Laurelius.«
»Wa... zum Teu... Laurelius! Ist er tot? Seit wann?«
»Ge. vorgestern Morgen, gegen fünf oder sechs, give or take 45Minuten.«
»Aber das ist doch unmöglich! Er hat zu Hause angerufen . um . er hat nachmittags zu Hause bei seiner Frau angerufen.«
Ard betrachtete Jonathan Wide sehr aufmerksam.
»Ich hab das Gefühl, dass du etwas weißt, was ich nicht weiß.«
Ein fahrbares Krankenbett rasselte vorbei, dahinter ein Pfleger in einem fröhlichen Gespräch mit dem Patienten. Der konnte nicht unterwegs sein zu etwas Ernstem, vielleicht war es nur eine kleine Rundtour durch das unterirdische Gängesystem. Jeder brauchte mal eine Abwechslung. Der Pfleger hatte einen elastischen Gang, es war vermutlich Dienstbeginn für ihn. Fünfzehn Kilometer am Tag, irgendwo hatte er gelesen, dass die Pfleger jeden Tag fast einen halben Marathon zurücklegen mussten.
Dieser hier schien seinen Job zu mögen.
Im Östra konnte es keine fünfzehn Kilometer Gänge geben, er hatte noch keinen einzigen gesehen.
Zimmer sieben, einen Beutel Bananen in der Hand. Irgendetwas musste man ja mitbringen, und Bananen waren neutral. Er hatte an Blumen gedacht, aber die wären ... falsch gewesen. Hallo, ich hab das Auto gefahren, du erinnerst dich nicht, aber offenbar habe ich dein Leben gerettet. Warum bin ich jetzt hier? Ich weiß es tatsächlich nicht. Er hatte ein Gespräch mit ihren Antworten geübt, er wollte auf einige Varianten vorbereitet sein. Aber über seinen ersten Satz war er sich noch nicht im Klaren. Vielleicht sollte er abwarten. Und wenn sie Besuch hatte?
Dann konnte er immer noch umkehren.
Sie war wach und sah ihn an, aber im Zimmer gab es drei weitere Betten, und erst als er vor ihrem Bett stand, begriff sie, dass der Besuch ihr galt.
»Hallo.«
»Ha. halloo .« »Wie geht es dir?« »Gut, glaub ich.« »Das ist schön.« »Ja .«
»Das ist ein gutes Krankenhaus.« »Ich weiß, wer du bist.«
»Wie?«
»Ich weiß, wer du bist.« »Ja.«
»Warum bist du gekommen?«
»Tja . ich weiß nicht. Wollte wohl wissen, wie es dir geht .«
»Sie sagen, ich bin gerade noch rechtzeitig eingeliefert worden.«
»Ja.«
»Warum?« »Warum was?«
»Warum hast du mich hierher gefahren? Wie hast du begriffen, was los war?«
»Das war nicht besonders schwer.«
»Ich bin kein Junkie.«
»Das hab ich auch nicht geglaubt.«
»Es war eine Party, da war einer . Sie sagen, ich hätte was getrunken .«
»Jemand hat dir das Zeug heimlich reingetan.«
»So muss es wohl gewesen sein.«
»Aber jetzt geht es dir besser?«
»Es war ziemlich knapp, sagen sie.«
»Aber es geht dir besser?«
»Essen ist anstrengend, aber sonst .«
»Und du musst noch eine Weile hier bleiben?«
»Ja . komisch . im Augenblick möchte ich nirgendwo anders sein.«
»Ich leg die . äh . Bananen hierher.« »Willst du schon gehen?«
»Nicht zu lange, haben sie gesagt. Du kriegst doch bestimmt noch mehr Besuch.«
»Meine Mutter ist hier gewesen, ein paar Freunde. Bleib ruhig, das geht schon.«
»Niemand sonst?«
»Freunde .«
»Was ist dein Beruf ... Linn?«
»Du weißt, wie ich heiße.«
»Nur so konnte ich dein Zimmer finden.«
»Wie heißt du?«
»Manfred.«
»Wirklich wahr? Manfred!«
»Nach meinem Großvater. Na, den Namen hab ich wenigstens ganz für mich allein. Wäre ich ein bisschen taff, würde ich mich Man nennen.«
»Oder Fred.«
»Peace, man.«
»Machst du noch was anderes außer Taxi fahren?«
»Ich versuch zu malen. Letztes Jahr hab ich die Kunsthochschule abgeschlossen. Und was machst du?«
»Ich bin arbeitslos. Ich hab bei einer Computerfirma gearbeitet, aber . tja, die hat dichtgemacht. Jetzt versuch ich, das Abi auf der Abendschule nachzuholen.«
»Wann darfst du nach Hau. ach, darüber haben wir ja schon gesprochen. Lass es ruhig angehen. Ich muss jetzt wohl gehen.«
»Du .«
»Ja?«
»Kommst du mal wieder?«
»Tja, ich wollte sehen, wie's dir geht und so, aber ...« »Ich möchte gern, dass du wiederkommst.« »Äh ... klar komm ich wieder. Morgen?« »Tu das. Komm morgen.«
Er ging rasch durch den Korridor, fast lief er die Treppen zur Rezeption im Erdgeschoss hinunter. Wie leicht es sich ging ohne eine Tüte voller Bananen! Er grüßte die Frau hinter dem Empfangstresen, hielt einem alten Mann die Tür auf und ging zu seinem Auto.
Die Luft war wie Samt. Was für ein schönes Wetter!
Wide hatte berichtet.
»Ich hab den Anrufbeantworter abgehört und dich gleich angerufen.«
»Das reicht nicht.«
»Ich hatte keine Mögl.«
»Unverzeihlich! Das ist wirklich unverzeihlich! Unsere Freundschaft ist auf der Stelle beendet!«
Das war nicht bloß Enttäuschung, das war bitterer Ernst. Dienstfehler, auch wenn Wide nicht mehr im Dienst war.
»Aber wie sollte ich einen Zusammenhang herst.«
»Du brauchst keine Zusammenhänge in deinem marinierten Hirn herzustellen. Du brauchst nur die Polizei zu benachrichtigen.«
»Ich wollte erst wissen, was passiert ist, vor allem, was mir passiert ist.«
»Hättest du sofort angerufen, dann hätten wir vielleicht einen Mordfall gelöst. Vielleicht sogar noch viel mehr.«
Wie lange würde er so wütend bleiben? Die Ursache lag in seinem eigenen Fehlverhalten, er wusste es. Wie lange würde die Polizei gezwungen sein, sich mit dem Faktor menschliches Versagen abzuplagen?
Sie saßen in Wides Wohnzimmer. Ard war ein intelligenter Mann, aber kein Genie. Man brauchte allerdings kein Genie zu sein, um zu begreifen, dass nicht Wide selbst verantwortlich war für den Zustand der Wohnung.
Nicht einmal im Delirium wäre er dazu in der Lage gewesen.
Ard war vom Fußboden, wo er gesessen hatte, aufgestanden. Er war steif, ist es normal, dass man sich am Steiß so steif fühlt?, er saß selten auf dem Fußboden, nur wenn er Fußbodenleisten annageln musste. Und das geschah höchst selten.
»Der einzige Ort, von dem Laurelius hätte anrufen können, war die Leichenhalle. Aber du hättest es wahrscheinlich gemerkt, wenn die Stimme aus der Kiste gekommen wäre, oder?«
»Siehst du, dass ich nicht lache? Über so was mache ich keine Witze. Er hat angerufen. Sie hat sich gemeldet. Sie hat zugehört. Wir sind zu dem Treffpunkt gefahren.«
»Du hast selbst mit ihm gesprochen?«
»Eigentlich nicht. Ich hab mich gemeldet und seine Stimme gehört.«
»Kennst du die denn?«
»Hab sie noch nie vorher gehört.«
»Bandaufnahme. Könnte eine Bandaufnahme sein.«
»Unter Drohung aufgenommen. Kriegt man das so glaubwürdig hin?«
»Klang er glaubwürdig?«
»Er klang . na ja, gebieterisch, selbstsicher. Du weißt schon.«
»Vielleicht wurde er ja gar nicht bedroht, als er mit ihr sprach. Er hätte ja auch irgendeine Teufelei planen können.« Ard ballte die Fäuste, wie um dem Wort »Teufelei« Nachdruck zu verleihen.
»Während jemand anders gleichzeitig eine Teufelei mit ihm vorhatte?«
»Ja. Das nennt man Vorwärtsstrategie, wenn man etwas in mehreren Schritten vorbereitet. Das ist wichtig.«
»Gleichzeitig hat jemand eine Teufelei für die Frau, Lea, geplant.«
»Und für dich«, sagte Ard und sah sich im Zimmer um.
»Ja. Ich hab darüber nachgedacht in dem bisschen Freizeit, die ich in der letzten Zeit gehabt habe. Why me?«
»Hast du ein paar bedeutende Geschäfte gemacht in der letzten Zeit?«
»Sehr witzig.«
»Jemand will offenbar, dass du mitspielst. Oder dich raushältst. Nein, dich dabeihaben, glaub ich.«
Da klingelte wieder das verdammte Telefon.