6
Zeit war vergangen. Er hatte wieder geschlafen, eine Spritze, er war fast bewusstlos gewesen, als Anders Tommysson kam.
An der Decke war ein Fleck, den er jetzt lange angeschaut hatte, das gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Wie lange war dieser Fleck ein Teil seiner Wohnung gewesen?
Er wurde wieder wach. Neben dem Bett lag ein Zettel. Er hörte Tommyssons dröhnende Stimme aus den Zeilen: Gehirnerschütterung, aber nicht so schlimm. Stumpfer Gegenstand. Die wollten dich wirklich umbringen. Wenn es dir schlechter geht, ruf mich an.
Niemand hatte ihn wirklich umbringen wollen. Wie ging noch die Zeile . mit solchen Freunden braucht man keine Feinde. Oder war es in diesem Fall umgekehrt?
In seinem Bewusstsein wartete noch etwas auf seinen Auftritt. Er erinnerte sich an den Anruf, die Frau, die ihn angerufen hatte. Wann war das gewesen? Er sah auf die Uhr, aber die gab keinen Anhaltspunkt. Schließlich begriff er, dass er sie verkehrt herum hielt. Machte das einen Unterschied? Wie wäre es, wenn man mit der australischen Zeit auf der Armbanduhr durchs Leben ginge? Vielleicht würde das als asoziales Verhalten eingestuft werden.
Er stellte die Uhr richtig hin und sah, dass es Nachmittag war, der zweite Tag. Er überlegte, wie ein Boxer die Zeit unter Kontrolle halten würde . es war ein schönes Gefühl, die Gedanken noch eine Weile frei schweifen zu lassen. Er wusste, dass er etwas erledigen musste.
Die Sonne war zum Feind geworden. Gegen sie konnte man sich nur schwer wehren, die harten Strahlen trafen ihn unbarmherzig, als er aus der Tür trat. Göteborg war wie ein kleines Kind ohne Sonnenschutz. Stadt und Land waren für die Kälte ausgerüstet, für Regen und Schnee. Die Zentralheizungen konnten jetzt nicht helfen, Klimaanlagen waren nötig, merkwürdige Kisten waren an den Häusern aufgetaucht: groteske Auswüchse, wie grauschmutziger Wärmeausschlag.
Die Sonnenstrahlen drangen zu jedem Wesen vor, das sich nachmittags hinaustraute, jagten alles Lebendige wieder hinein. Ein neuer Hitzerekord wurde aufgestellt, mitten am Tag waren die Badestrände leer.
Wide ging zu seinem Auto. Seine Lungen schienen sich mit Schwere zu füllen.
Er öffnete die Autotür und setzte sich in die 50 Grad Wärme. Er startete den Motor, stieg noch einmal aus und nahm drei tiefe, schmerzhafte Atemzüge, ehe er sich wieder hineinsetzte und in Richtung Majvallen fuhr. Die Klimaanlage im 242 hatte ihren Geist aufgegeben, die heruntergedrehten Fenster ließen nur eine Ahnung von Luft herein. Bei anderer Gelegenheit hätte ihn das vielleicht amüsiert.
Wide fuhr die Godhemsgatan hinunter zum Schlosswald, an der Schrebergartenkolonie vorbei, wo Kinder jauchzend durch die Strahlen der Rasensprenger rannten. Im Augenblick herrschte Bewässerungsverbot. Aber allmählich ging es ums Überleben für Pflanzen, Tiere und Menschen. Ein Strahl wurde auf die Straße gerichtet, über eine niedrige Hecke hinweg, und traf sein Auto. Er spürte die plötzliche Kraft des dünnen Wasserstrahls, die Kühle, hörte das Lachen eines Kindes.
Wide nahm den Geruch nach gegrilltem Fleisch wahr.
Plötzlich wurde ihm übel.
Im Schatten vom Skytteskogen konnte er zum ersten Mal wieder normal atmen, und als er auf die Dag-Hammarskjöld-Umgehung einbog, hatte sein Körper etwas Widerstandskraft gegen die Hitze gesammelt.
Sie hatte ruhig und kontrolliert gesprochen, aber mit verhaltener Verzweiflung in der Stimme, die Worte hatten sich in einem wilden Haufen am Ende der Sätze geballt. Irgendwo in dem Haufen befand sich auch ihre Adresse. Sie musste sie wiederholen.
»Das klingt, als sei es ein Fall für die Polizei.«
Nachdem er in etwa begriffen hatte, was sie wollte, fragte er sich, warum sie ausgerechnet ihn angerufen hatte.
»Ich will keine Polizei.«
»Das ist deren Job.«
»Ich hab Sie nicht angerufen, um mir von Ihnen sagen zu lassen, ich soll mich an die Polizei wenden.«
»Im Augenblick bin ich nicht in Form, jemandem zu helfen. Nicht mal mir selber.«
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ihren Namen kenne ich.«
»Falls es am Geld liegt.«
»Für das, was Sie wollen, reden Sie ganz einfach mit der falschen Person.«
»Sind Sie kein . Detektiv?«
»Ich bin Privatdetektiv. Wissen Sie, was ein Privatdetektiv macht?«
»Deswegen hab ich Sie doch angerufen. Weil ich weiß, was Sie tun.«
Sie nannte einen Namen. Es ging um einen Job, den er erledigt hatte.
»Sie waren ... gut. Sie haben verstanden.«
»Wenn ich gut bin, kommt das daher, weil ich nichts verstehe. An dem Tag, an dem ich verstehe, was ich eigentlich treibe, springe ich vermutlich von der Älvs-borgsbrücke.«
Er erinnerte sich an den Fall. Die Frau, von der Lea Laurelius gesprochen hatte, wollte sich scheiden lassen. Wide hatte für Beweise der Untreue gesorgt. Seit er Privatdetektiv war, hatte er viele solcher Beweise beschafft. Das war ein ziemlich schmutziger Job. Den meisten Dreck wusch er mit Schnaps ab.
»Selbst wenn dies außerhalb Ihres normalen . Jobs liegt, hoffe ich, dass Sie bei mir eine Ausnahme machen.«
Die Verzweiflung in ihrer Stimme nahm zu. Er hörte auch noch etwas anderes heraus. Was war es? Angst?
»Wenn Sie keine Polizei im Haus haben wollen, gibt es denn keinen Freund, den Sie anrufen können? Oder eine Art . Dienst, Sozialdienst?«
»Ich habe versucht, meinen Mann anzurufen.«
In diesem Moment fiel ihm der Name ein. Der Mann, dessen Vornamen er vergessen hatte. Er tauchte oft am Rand von etwas zweifelhaften Geschäften auf. Wide hatte schon früher Einsicht in Akten von Wirtschaftsvergehen gehabt. Im Hause Laurelius gab es also auch keine Ethik. Auf diese Weise hatten sie etwas gemeinsam. War er wirklich genügend in Form, um herauszufinden, was die Frau eigentlich wollte? Brauchte er Geld? Auf beide Fragen war die Antwort ja.
»Okay«, sagte er in den Hörer, »ich komme.«
Jetzt war er hier, in der stilvollen Welt. In Hoväs besaßen die Einwohner genügend Geld, um sich gegen die Sonne zu schützen. Überwiegend hatten sie auch genügend Geld, um sich gegen den schmutzigen Teil der äußeren Wirklichkeit zu schützen. Er fuhr durch stille Straßen, an ordentlich gestutzten Hecken und hohen Mauern entlang, ein Stück dahinter Häuser, schöne Häuser, die nicht unbedingt ewiges Glück bedeuteten, aber den Weg dorthin zu erleichtern schienen.
Geld half nicht immer gegen eine innere Wirklichkeit. Jonathan Wide war kein Kommunist, eigentlich fand er, er stehe ein Stück außerhalb der Gesellschaft. Seine eigene Ethik war seine Privatangelegenheit, für die er kritisiert worden war . jeder Mensch braucht ein soziales Gewissen . aber eine kleine rote Flamme von Klassengefühl züngelte doch in seinem Inneren, als er an diesen Häusern entlangfuhr.
Er war schon früher hier gewesen, als Vertreter der äußeren Wirklichkeit. So manches Mal hatte er innerlich rebelliert.
Er erinnerte sich an eine angetrunkene Frau, die fast einen kleinen Jungen überfahren hatte. Als er kam, schenkte sie sich noch einen Gin ein und verwies nur auf ihren Anwalt.
Oder drei Jugendliche, die versucht hatten, einen schlafenden Penner anzuzünden. Der Vater eines dieser Jungen war fast gewalttätig geworden. Die Jungs hätten der Gesellschaft einen Dienst erwiesen, so was in der Art hatte er gesagt. Wide war roher, offener Menschenverachtung begegnet und es war nicht das erste Mal gewesen.
»Wisst ihr nicht, auf welcher Seite ihr stehen sollt, ihr verdammten roten Socken?!«, hatte der Mann sie angeschrien. »Wir sind es, die das Land am Leben erhalten!«
Wide war wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt worden und das hatte ihm nicht gefallen. Vielleicht war er ein Mensch zweiter Klasse - oder der dritten Klasse, aber er besaß eine Form von Freiheit, und er war nicht sicher, ob er sie behalten würde, wenn die erste Klasse - die außerdem unbefleckt weiß war - mehr zu sagen bekam. Sie war auf dem besten Weg dorthin.
Hoväs Södergatan Nummer 12. Er parkte. Vor dem zweistöckigen Wohnhaus stand kein Auto; Holz und Putz in Weiß und hellem Blau, ungleiche Giebel und eine Veranda mit Blick aufs Meer.
Normalerweise standen mindestens zwei Autos vor den Häusern hier, auf breiten, gut gepflegten Auffahrten.
Wide ging durch einen Garten, der eher einem Park glich, mit einem kleinen Birkenhain. Ihm gefiel das Rauschen der Bäume. Durch das Laub konnte er ein kleines Stück vom Wasser sehen, das intensive Blitzen der Sonne auf einer Oberfläche, die ständig in Bewegung war.
Er streckte die Hand aus, um auf die verzierte Türklingel zu drücken. Ein Löwe - oder ein Tiger? Lea . bedeutete das nicht Löwin?
Er hielt mitten in der Bewegung inne. Die Tür war angelehnt, sie bewegte sich kurz im Windzug, dann war alles ruhig.
»Hallo? Ist da jemand?«
Er nahm den bitteren Geruch von Gefahr wahr. Es war eine klassische Situation. War jemals jemand in so einer Situation auf dem Absatz umgekehrt und weggegangen?
»Frau Laurelius? Lea Laurelius?«
Er lauschte, hörte aber nichts weiter als das weiche Rascheln des Laubs an der Hauswand. Ein Sonnenstrahl in seinem Rücken fiel in den dunklen Vorraum. In dem Lichtstreifen sah er einen zerschlagenen Spiegel, ein Telefon auf dem Fußboden, zwei feingliedrige Stühle, die wie gestürzte Balletttänzer die Beine in die Luft reckten.
Wide betrat den Vorraum und stieg über den kleinen Tisch, den jemand sehr übel behandelt hatte.
Nach einer kleinen Weile hörte er aus dem Innern des Hauses ein schwaches Stöhnen. Vorsichtig durchquerte er den Vorraum und betrat ein sonnendurchflutetes Wohnzimmer.
Das Zimmer war zerlegt worden, eine zielstrebige Zerstörung, wie bei einer Suche, die keine Rücksicht nahm. Die Gardinenstangen waren von den Fenstern gerissen und die Vorhänge lagen auf einem dunkelroten Sofa, wie ein Trauerflor.
Die Frau lag im Arbeitszimmer im ersten Stock. Sie stöhnte wieder. Als Wide die Schwelle überschritt, hörte er ein kratzendes Geräusch von dem auf dem Boden liegenden Körper, das wie ein Räuspern klang.
Sie hatte allen Grund gehabt, Angst zu haben.
Teile eines Computers lagen in einem gezackten Kreis um die Frau verstreut. Blut war von ihrer Stirn auf die Tastatur geflossen. Die Buchstaben w, a, s, e und z hatten sich rot gefärbt. Wenn das eine neue Nachricht ist, dann ist sie wahrhaft kunstvoll gemacht, schoss es Wide durch den Kopf, als sich die Frau auf die Seite rollte und die Augen aufschlug.
Er erkannte sie von einem Foto aus der Zeitung. Jetzt schien sie ein rotes Band um den Kopf zu haben, wie auf dem Weg zu einer Party im Stil der zwanziger Jahre.
Er blieb an der Tür stehen.
»Ich rufe einen Arzt.«
Sie hatte die Augen wieder geschlossen.
Er erinnerte sich an das Telefon auf dem Fußboden im Vorraum und wollte nach unten gehen. Sie rief ihm etwas nach, wieder dieses krächzende Geräusch, diesmal mit mehr Luft.
»Bl. bleib.«
Wide kehrte um, trat näher an sie heran. Die Augen . er war empfänglich für die Augen von Frauen . war es der Schleier von Schmerz, der sie so schön machte?
Diese Augen sah er nicht zum ersten Mal. Langsam wurde es ihm klar, bahnte sich die Erinnerung ihren Weg. Es war viel Zeit vergangen. War es zwanzig Jahre her? Eine kurze Begegnung, aber offenbar ein langer Abschied.
Mit dieser Frau war er an einem Strand entlanggewandert, und er erinnerte sich jetzt, dass sie am Wassersaum einen Stein aufgehoben und ihn zehn Meter weit ins Meer hinausgeschleudert hatte, und er hatte gesagt, dass es zehntausend Jahre dauern würde, ehe der Stein wieder an Land kommen würde. Sie hatte gelacht. Es war ihr letzter gemeinsamer Tag gewesen.