EINE KNOCHENMARKTRANSPLANTATION könnte Azylis vielleicht retten. Ich kenne mich zu wenig mit Anatomie aus und weiß zunächst nicht, wo das Knochenmark sitzt. Ich bringe es mit dem Rückenmark in Verbindung. Doch schnell belehrt man mich eines Besseren. Im Knochenmark werden die weißen und roten Blutkörperchen sowie die Blutplättchen produziert. Es befindet sich im Innern von Knochen, daher sein Name. Bei der Operation wird das erkrankte Knochenmark durch das eines Spenders ersetzt – durch gesundes Mark, das gesunde Blutzellen hervorbringt. Im Fall von Azylis könnte der Eingriff dazu führen, dass sie selbst Arylsulfatase A produziert, jenes Enzym, dessen Fehlen für all unsere Probleme verantwortlich ist.
Der Professor hat diese Möglichkeit bereits bei unserem ersten Besuch im letzten April erwähnt. Allerdings nur für unser ungeborenes Baby, falls es ebenfalls unter dem Gendefekt leiden sollte – nicht für Thaïs. Für sie war es damals bereits zu spät. Bei der kindlichen Form der metachromatischen Leukodystrophie hat sich der Eingriff nach dem Auftreten der ersten Symptome als unwirksam erwiesen. Je früher die Operation jedoch stattfindet, desto besser stehen die Heilungschancen. Bis zum heutigen Tag wurden bei mehreren betroffenen Kindern Knochenmarktransplantationen durchgeführt. Wie es aussieht, hat sich ihr Leben durch den Eingriff verbessert. Geheilt wurde aber keines. Allerdings waren alle zum Zeitpunkt der Operation älter als Azylis – zwar nur um wenige Monate, aber in solchen Fällen können auch wenige Monate einen großen Unterschied ausmachen. Noch nie zuvor war die Diagnose so früh nach der Geburt gestellt worden wie bei Azylis. Wir gestatten uns, Hoffnung zu hegen.
Die Operation muss so schnell wie möglich erfolgen. Die Zeit drängt; das Problem ist fast ein mathematisches. Der Erfolg des Eingriffs zeigt sich etwa zwölf bis achtzehn Monate nach der Transplantation. Bei Kindern, die unter metachromatischer Leukodystrophie leiden, treten die ersten Symptome bereits in der Zeit zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr auf. Wir müssen also schneller sein als die Krankheit. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
Wir dürfen keinen Tag verlieren. Eine Knochenmarktransplantation ist kein Routineeingriff. Vor der Operation muss das Knochenmark des Patienten durch eine Chemotherapie zerstört werden, die in aller Regel eine gute Woche dauert. So viel Zeit ist nötig, um die kranken Zellen zu vernichten. Anschließend wird das Spendermark injiziert. Ehe man den Eingriff planen kann, müssen wir allerdings noch eine unerlässliche Hürde nehmen: Das passende Knochenmark muss gefunden werden.
Die Suche nach einem Spender kostet Zeit. Zeit aber hat unsere Tochter nicht. Schnell verwerfen die Ärzte den Plan einer Knochenmarktransplantation. Stattdessen erwägt man eine Transfusion von fremdem Nabelschnurblut, das ebenfalls Stammzellen enthält. In unserer Situation bietet das Nabelschnurblut einige Vorteile: Es wird bei der Geburt entnommen, eingefroren und in speziellen Blutbanken deponiert. Daher ist es schnell verfügbar.
Die Ärzte stehen bereits in den Startlöchern. Sie wollen mit der Suche nach dem passenden Blut beginnen. Sie warten nur noch auf unser Einverständnis.
»DER EINGRIFF BIRGT GEWISSE RISIKEN und ist nicht ungefährlich.«
Das wissen wir zwar bereits, doch der Arzt erinnert uns noch einmal daran. Wir müssen unsere Entscheidung in vollständiger Kenntnis der Sachlage fällen. Natürlich hatten wir schon während der Schwangerschaft über die Möglichkeit eines solchen Eingriffs gesprochen und das Für und Wider erwogen. Wir waren bereit, den Versuch zu wagen. Allerdings ist es ungleich leichter, sich bestimmte Situationen vorzustellen, solange sie abstrakt sind. Heikel wird es erst, wenn sie Wirklichkeit werden. Jetzt ist Azylis da. Sie liegt hier in unseren Armen. Was sollen wir tun?
Manche Patienten überleben die Blutübertragung nicht. Natürlich könnte man annehmen, dass dieses Risiko in unserem Fall keine Rolle spielt, denn wenn wir nichts unternehmen, stirbt Azylis in wenigen Jahren sowieso. Und doch gibt es da einen gravierenden Unterschied. Einerseits, weil jeder mit ihr verbrachte Tag doppelt und dreifach zählt, und andererseits, weil wir uns unser Leben lang Vorwürfe machen würden, Schuld an ihrem Tod zu sein und die falsche Entscheidung getroffen zu haben, wenn der Eingriff misslingen und Azylis dabei sterben würde. Es ist ein schwieriger Spagat zwischen handeln und geschehen lassen. Zwischen Schuld und Verantwortung.
Ein anderer Arzt macht uns darauf aufmerksam, dass die Mehrheit der Patienten nach der Blutübertragung unfruchtbar wird. Der Hinweis klingt lächerlich, aber wir nehmen ihn dennoch sehr ernst. Man ist auf Anhieb versucht zu denken, dass Azylis, wenn sie nicht behandelt wird, nie die Geschlechtsreife erreicht. Aber auch hier erfordert die Situation eine genauere Überlegung. Tatsächlich ist es so: Wenn wir etwas unternehmen und versuchen, sie zu heilen, greifen wir in den Krankheitsprozess ein. Und wir wissen nicht, welche Folgen ein solcher Eingriff nach sich zieht. Wenn Azylis gesund wird, freuen wir uns über unsere Entscheidung. Stirbt sie, werden wir sie bitter bereuen. Sollte sie jedoch nicht vollständig gesund werden, zum Beispiel gewisse Symptome der Krankheit entwickeln und für den Rest ihres Lebens dahinsiechen, ohne dass ihr Leben direkt bedroht wäre – vielleicht würde sie uns dann ein Leben lang vorwerfen, dass wir etwas unternommen haben. Sie könnte uns für ihre Unfruchtbarkeit und alle anderen Gebrechen verantwortlich machen. Wir überlegen hin und her, aber im Grunde ist uns klar, dass wir als Eltern verpflichtet sind, es mit einer Transfusion zu versuchen. Wenn man Kinder hat, trifft man tagtäglich Entscheidungen für sie. Entscheidungen, die wichtig für ihr Leben sind. Man trifft sie ohne Reue, weil man überzeugt ist, das Beste für sie zu tun. Man fragt sie nicht nach ihrer Meinung, ehe man ihnen etwas zu essen gibt, sie wäscht oder anzieht. Und auch nicht, ehe man sie vom Arzt behandeln lässt. Es ist unser elterlicher Instinkt, der uns den Weg weist.
Ich erinnere mich an einen wunderbaren Ausspruch des berühmten Krebsforschers Jean Bernard, der sagte: »Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern darum, den Tagen mehr Leben.« Der Satz drückt das aus, was wir heute für Azylis unternehmen. Wir werden zunächst einmal alles tun, um deinem Leben Tage zu geben, mein Liebling. Und anschließend tun wir alles, um deinen Tagen Leben zu geben. Ganz gleich, was geschieht.