WIR ATMEN AUF, DENN DIE STAMMZELLENÜBERTRAGUNG SCHEINT GEGLÜCKT ZU SEIN. Knapp drei Wochen nach dem Eingriff steigt die Anzahl der weißen Blutkörperchen bei Azylis wieder an. Sie bilden sich wie vorgesehen; das Infektionsrisiko wird von Tag zu Tag geringer. Uff! Die Ärzte scheinen durch das vorzeitige Ende der Aplasie-Phase angenehm überrascht zu sein. Es lässt für den weiteren Verlauf der Dinge hoffen; wir sehen Licht am Ende des Tunnels. Die erste Chimärismus-Analyse bestärkt unseren Optimismus: Einundneunzig Prozent der Stammzellen unserer Tochter stammen aus der Transfusion. Azylis ist ein gastlicher Wirt.
Die gute Nachricht beruhigt mich. Die schmerzhafte Anspannung zwischen meinen Schulterblättern lässt nach. Meine stetig zusammengezogenen Augenbrauen, die mir eine strenge Falte auf die Stirn geprägt haben, entspannen sich ebenfalls. Ich werde lockerer. Ich kümmere mich um mein Baby mit einer Sorglosigkeit, die ich mir bis dahin verboten hatte.
Azylis ist süß. Sie lächelt, brabbelt, strahlt. Fast alle Beschwerden, die von der Chemotherapie herrührten, sind verschwunden. Sie hat keine körperlichen Beschwerden oder Schmerzen mehr. Es geht ihr gut. Auch wenn sie noch immer kein Fläschchen annimmt, scheint sie kräftig zu sein. Und zwar in jeder Hinsicht. Allerdings ist das ein bisschen gemogelt: Ihre rundlichen Wangen sind auf das Cortison zurückzuführen.
Auf der Isolierstation gibt es eine Psychologin, die sich auf Wunsch um die Eltern und die kleinen Patienten kümmert. Sie besucht mich regelmäßig. Im Lauf der Wochen wird die Verbindung zwischen uns immer stärker. Ich genieße unsere Gespräche und ertappe mich dabei, sie beinahe herbeizusehnen. Ihre professionelle Herangehensweise und ihre vernünftigen Überlegungen helfen mir, diese schwierige Zeit so gut wie möglich durchzustehen.
Eines unserer Gespräche dreht sich um Azylis’ Wohlbefinden. Wir haben beide den Eindruck, dass die Kleine angesichts ihrer Lebensumstände eine außergewöhnliche Lebensfreude an den Tag legt. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist das allerdings nicht verwunderlich. Für sie sind die Umstände nichts Ungewöhnliches, nur für uns. Wir fühlen uns in diesem Zimmer beunruhigt, nicht sie. Denn dieses Zimmer ist ihre Welt, etwas anderes kennt sie kaum. Zwei Drittel ihres Lebens hat sie hier im Zimmer Obelix verbracht. Sie ist daran gewöhnt, uns mit Masken, Hauben, Kitteln und Überschuhen zu sehen. Das Piepsen der Apparate, die durch die Gegensprechanlage verzerrten Stimmen und die Tonsignale der Spritzenpumpe machen ihr keine Angst, denn sie wohnt hier. Die mitfühlenden Krankenschwestern verhätscheln und verwöhnen sie und knuddeln sie auch gern einmal, wenn es möglich ist. Azylis hat den Vorteil, dass ihr Papa oder ihre Mama ständig bei ihr sind – etwas, worum viele andere Kinder sie sicher beneiden würden. Für einen Säugling ist die Anwesenheit seiner Eltern ein geradezu lebensnotwendiges Bedürfnis. Und solange wir da sind, ist alles gut.
»MAMA, WANN FAHREN WIR ENDLICH WIEDER NACH HAUSE?«
Gaspard ist traurig. Seit die Ferien zu Ende sind, ist er zunehmend unzufrieden mit dem Aufenthalt in Marseille. Ihm wird klar, was er in Paris zurückgelassen hat und was ihm fehlt. Seine Schule, sein Zuhause, seine eigene Welt. Natürlich gefällt ihm auch Marseille mit seinem milden Klima, dem nahen Meer und der unbeschwerten Lebensart. Aber er gehört nicht hierher und hat den Eindruck, ein Fremder in dieser Stadt zu sein. Jeden Tag fällt es ihm ein wenig schwerer, fröhlich zu sein. Er hat keine Freunde und fühlt sich fremd, obwohl er mit allen Mitteln versucht, sich anzupassen und angenommen zu werden.
»Heute habe ich in der Schule versucht, Dialekt zu sprechen. Danach waren die Jungen in meiner Klasse sogar ein bisschen freundlicher zu mir.«
Kinder sind oft gnadenlos. Trotz aller Aufforderungen der Lehrerin schließen die anderen Kinder Gaspard aus. Sie finden den Jungen seltsam, der keinen Dialekt spricht und dessen Schwestern beide krank sind. Einige haben ihn sogar als Lügner bezeichnet. Dazu muss man allerdings sagen, dass die Offenheit, mit der Gaspard seinen Einstand in der Schule gegeben hat, sicher für viele verwirrend war. Am ersten Tag nach den Ferien stellte er sich seinen Mitschülern so vor:
»Ich heiße Gaspard und wohne in Paris, nicht hier. Ich bin nach Marseille gekommen, weil eine meiner Schwestern metachromatische Leukodystrophie hat und bald sterben wird. Und meine andere Schwester, die gerade erst zur Welt gekommen ist, hat die Krankheit auch. Aber meine Eltern und die Ärzte hier in Marseille tun alles, um sie gesund zu machen. Vielleicht überlebt sie ja. Aber das wissen wir noch nicht.«
Die Kinder starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Eine solche Geschichte hatte sicher noch keines von ihnen gehört.
Schon die erste Pause zeigte den tiefen Graben zwischen Gaspard und seinen Mitschülern. Innerhalb weniger Minuten wussten alle Kinder Bescheid, und Gaspard wurde zu einer Art Jahrmarktsattraktion. Die meisten trauen sich nicht in seine Nähe. Viele haben Angst vor dieser Krankheit, die sie nicht kannten und die offenbar Verheerendes anrichtete. Gaspard mochte hundertmal versichern, dass man diese Krankheit von Geburt an habe, die Kinder blieben lieber auf Abstand und flüsterten sich nur gegenseitig die seltsame Geschichte des »Neuen bei den Großen« ins Ohr.
SEIT EINEM MONAT GEHT GASPARD nun wieder in die Schule, aber dadurch verbessert sich die Situation für ihn nicht. Er kommt inmitten von oft gestressten oder sehr müden Erwachsenen zu kurz. Zwar hat er sich zunächst über Thaïs’ Rückkehr gefreut, doch schnell musste er feststellen, dass er mit seiner geliebten Schwester nicht mehr spielen konnte.
Was ihn auffängt und ihm Kraft spendet, ist der Garten. In unserer Wohnung in Paris fühlte er sich mit seiner überbordenden Energie oft beengt. Hier verschwindet er jeden Tag nach der Schule in seiner grünen Oase. Er zerkrümelt sein Brot, um Insekten anzulocken, sucht nach Grillen, indem er ihrem Zirpen folgt, und beobachtet aufmerksam das Verhalten einer ihm bis dahin unbekannten Käferart. Er denkt sich tausend Abenteuer aus und verwandelt die wenigen Bäume in einen feindlichen Dschungel. Doch er ist immer allein bei den Erlebnissen, die seiner Fantasie entspringen. Seine Einsamkeit bereitet mir Sorgen.
Eines Abends, als ich aus der Klinik komme, läuft mir Gaspard jubelnd entgegen.
»Mama! Mama, ich habe einen Freund. Einen Freund ganz für mich allein!«
Er lässt mir kaum Zeit, aus dem Auto auszusteigen. Am Ärmel zerrt er mich hinter sich her in den Garten. Im Schatten einer Zypresse steht ein glänzender Käfig, in dessen Innern eine kleine, schwarz-weiß-braune pelzige Kugel in einer Ecke kauert. Gaspard streckt die Hand durch die enge Öffnung und greift vorsichtig nach dem kleinen Tier.
»Mama, das ist Ticola, mein Meerschweinchen. Oma hat ihn mir geschenkt. Aber ich durfte ihn im Geschäft ganz allein aussuchen und ihm auch seinen Namen geben.« Seine Stimme verrät Stolz und tiefes Glück. Dann schaut er mich beunruhigt an. »Ich darf ihn doch behalten, oder? Er ist ganz freundlich. Er beißt fast überhaupt nicht und schmust gern mit mir. Ich habe ihm schon von unserer Familie erzählt. Bitte, Mama, sag ja.« In seinen Augen leuchten Sterne.
Ich bin gerührt. »Aber natürlich, mein Gaspard. Weißt du, als ich klein war, hatte ich auch einmal ein Meerschweinchen. Es hatte sogar die gleichen Farben wie deins.« Sanft nehme ich Ticola in meine Hände und betrachte lächelnd seine wilden Haarwirbel, die kleinen, durchscheinenden Ohren und die pfiffigen schwarzen Knopfaugen. »Herzlich willkommen in unserer Familie, Ticola. Ich freue mich, dass du Gaspards Freund bist. Pass gut auf ihn auf.«
Ich bin Loïcs Mutter Raphaëlle zutiefst dankbar, dass sie auf die großartige Idee gekommen ist, Gaspard ein Haustier zu schenken. Schnell werden die beiden unzertrennlich. Gaspard erzählt dem kleinen Tier, was er tagsüber erlebt, teilt mit ihm seine Freuden und vertraut ihm seine Kümmernisse an. Sobald er zu Hause ist, holt er ihn aus dem Käfig und schleppt das Tierchen dann überall mit sich herum. Manchmal sehe ich sogar bei den Mahlzeiten ein kleines rosa Schnäuzchen aus Gaspards Tasche lugen …
Der Neuankömmling bereitet auch Thaïs Freude. Sie streichelt ihn gern und muss lachen, wenn er ihre Hand kitzelt. Sie wirkt glücklich. Und wir sind erleichtert, denn Ticola beschäftigt Gaspard. Das Tierchen füllt eine Lücke aus, die Thaïs nicht mehr schließen kann; es wird Gaspards Spielgefährte.
Gaspard erwartet nicht mehr so viel von seiner Schwester. Immer noch verbringt er gern einige Zeit mit ihr, aber er beklagt sich nicht mehr darüber, dass er nicht richtig mit ihr spielen kann. Dafür beteiligt er Thaïs an seinem Glück. Er beschreibt ihr ganz genau, was er mit seinem Freund Ticola alles unternimmt. Auch erklärt er ihr, wie er ihn füttert und saubermacht, wie er ihn auf Spaziergänge mitnimmt und wie er ihn sanft wiegt, wenn er einschlafen soll. Tatsächlich kümmert er sich um Ticola, wie wir uns um Thaïs kümmern. Eines Tages fragt er mich sogar äußerst beunruhigt: »Mama, bist du ganz sicher, dass Ticola keine Leukodystrophie hat?«