ICH WEISS NICHT, WAS SCHLIMMER IST – das Wissen oder das Warten. Das Warten zwingt einen dazu, sich erschreckend passiv zu verhalten. Alles ist noch möglich, auch das Furchtbarste. Es nährt den Zweifel, liefert aber nicht die notwendige Energie für jemanden, der sich, wohl wissend, dass er scheitern wird, in einen aussichtslosen Kampf wirft.

Ich betrachte Azylis, die in ihrem Plexiglasbettchen schläft, und weiß nicht, was vor mir liegt. Ist es Hoffnung oder eine weitere Bewährungsprobe? Sorglosigkeit oder Krankheit? Ich zermartere mir den Kopf, wie die Antwort lauten könnte. Azylis sieht Gaspard ähnlicher als Thaïs. Vielleicht bleibt ihr die Krankheit erspart. Mit Logik aber ist der Genetik nicht beizukommen. Ich versuche es auf andere Weise. Wenn eine Krankenschwester mein Zimmer betritt, ehe ich bis zehn gezählt habe, ist Azylis nicht krank. Doch die Genetik gehorcht auch keinem Aberglauben.

In dieser Nacht finde ich wieder keinen Schlaf. Die Freude über das Neugeborene ist noch immer da, doch darüber liegt wie ein düsterer Schatten die Angst.

An diesem Nachmittag lernen Gaspard und Thaïs ihre kleine Schwester kennen. Beide betrachten sie andächtig, aber Gaspard verliert schnell das Interesse an dem Baby und widmet sich ganz dem Zorro-Kostüm, das wir ihm zur Feier der Geburt geschenkt haben. Thaïs hingegen würdigt ihre neue, vollständig eingerichtete Kinderküche keines Blickes. Sie hat nur Augen für Azylis, streichelt sie und wiederholt immer wieder die Worte: »Hallo, Baby. Ich habe dich lieb, Baby.« Die Begegnung der beiden kleinen Mädchen bietet ein rührendes Bild.

Neben ihrer neugeborenen Schwester wirkt Thaïs plötzlich so groß. Ich beobachte sie aufmerksam und mit einer gewissen Unruhe. Es ist kaum vierundzwanzig Stunden her, dass ich sie zuletzt gesehen habe, doch sie erscheint mir verändert. Mir fällt auf, wie stark sie zittert. Ihr Kopf wackelt ein wenig. Wenn sie spricht, verhaspeln sich die Worte in ihrem Mund. Sie hält sich nicht mehr gerade; sie lässt die Schultern hängen. Auch ist sie sehr blass. Das Übel wütet auf hinterhältige Weise. Angst umklammert mein Herz.

Ich will mich nicht mehr von ihr trennen. Nie mehr. Ich fürchte, etwas zu versäumen und eines Tages die nicht an ihrer Seite verbrachte Zeit zu bereuen. Diese Zerrissenheit ist eine schreckliche, maßlose Belastungsprobe. Und sie ist immer da. Wie gern würde ich mir Zeit für Gaspard nehmen, aber ohne Thaïs allein zu lassen. Wie gern würde ich ruhige Augenblicke mit Loïc genießen, ohne das Gefühl zu haben, mein Töchterchen zu vernachlässigen. Ich müsste mich nicht nur in zwei, sondern in drei oder gar vier Personen aufspalten, um jedem meiner Lieben genügend Zeit widmen zu können. Ich wünsche mir unbegrenzte Möglichkeiten. Welch wunderbarer Traum … Die einzige Rettung vor der Verzweiflung ist und bleibt das Leben im Jetzt und Hier. Nicht mehr und nicht weniger. Carpe diem? Nicht ganz. Denn Sorglosigkeit existiert nicht mehr in unserem Leben.

Thaïs wird nervös. Ihr Haar fällt ihr ins Gesicht, und es will ihr nicht gelingen, es aus der Stirn zu streichen. Ihr Lieblingshaarband ist irgendwo auf dem Weg zwischen Auto und Bürgersteig abhandengekommen. Gaspard beginnt, in dem engen Krankenhauszimmer herumzutoben. Auch Azylis wird unruhig. Sie hat Hunger.

Es ist Zeit für den Abschied. Beklommen gebe ich Gaspard und Thaïs einen Kuss und wünsche ihnen eine gute Reise. Loïc bringt die Kinder in die Bretagne zu seinen Eltern. Mir kommt es vor, als reisten sie ans Ende der Welt. Wir werden ihnen in wenigen Tagen folgen. Trotzdem kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Schließlich weiß ich, was uns in dieser kurzen Zeit bevorsteht. Eine Nachricht, die unser Leben grundlegend ändern wird. In welche Richtung auch immer. Und zwar unwiderruflich. Jetzt aber sehe ich erst einmal Loïc und den Kindern nach. Thaïs entschwindet meinem Blick und fehlt mir bereits.