MONTAG, FRÜHMORGENS. Ein Krankenwagen fährt vor, um Azylis in die Klinik zu bringen. Wir haben beide unsere Gesichtsmasken auf und sind bereit. Insgeheim fürchte ich mich vor diesem ersten Kontakt mit der Außenwelt und hoffe inständig, dass kein gefährlicher Krankheitserreger an unserem Ausflug teilnimmt. Doch die Krankenwagenfahrer sind Risikotransporte gewöhnt und verhalten sich extrem umsichtig. Azylis braucht nichts zu befürchten. Sie macht sich jedoch die wenigsten Sorgen. Unser Ausflug gefällt ihr. Während der kurzen Fahrt bemüht sie sich, Bruchstücke einer Welt zu erhaschen, die ihr vorenthalten wird. Sie reckt den Hals und blickt mit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. In der Klinik wird sie sofort in einen gründlich desinfizierten Raum gebracht. Als die Krankenschwester die Tür schließt und sie wieder von der bunten und lebhaften Welt dort draußen trennt, wirkt sie unzufrieden.

Wir lernen die Räumlichkeiten und das Team kennen, das für die Nachsorge zuständig ist. Der Chefarzt horcht Azylis ab und stellt einen Betreuungsplan auf. Die kommenden Monate sind voller Termine. Azylis soll einmal pro Woche zur Untersuchung vorbeigebracht werden. Alle drei Wochen werden ihr Antikörper gespritzt, um ihre noch schwache Immunabwehr zu unterstützen. Die sonstige Behandlung wird zu Hause stattfinden; zur Katheterpflege kommt zweimal in der Woche eine Krankenschwester vorbei.

Der Arzt schärft uns noch einmal ein, dass Azylis bereits beim geringsten Fieber sofort in die Klinik muss. Das ist nicht sehr erfreulich. Ein fünf Monate altes Kind kann oft, durchaus auch ohne gefährliche Ursache, eine erhöhte Temperatur aufweisen. Wenn wir Azylis bei jedem durchbrechenden Zahn ins Krankenhaus bringen müssen, dann fürchte ich, dass sie die meiste Zeit dort verbringen wird. Trotzdem nehmen wir den Rat natürlich nicht auf die leichte Schulter; hinter einem Fieber kann sich auch etwas anderes, viel Schlimmeres verbergen, zum Beispiel ein durch den Katheter hervorgerufener Infekt.

Nach dem Tag in der Klinik ergötzt sich Azylis sichtlich an den ungewohnten Freuden der Heimfahrt im Krankenwagen. Und ich atme ein wenig auf. Der erste Kontakt mit dem Personal war angenehm, was ich, um ehrlich zu sein, nicht unbedingt erwartet hatte. Wir waren an die Ärzte und Methoden der Klinik in Marseille gewöhnt und müssen jetzt in Paris wieder bei null anfangen. Es ist nicht leicht, sich einer neuen Institution anzuvertrauen, so gut ihr Ruf auch sein mag, und ihr das Liebste zu überlassen, das man hat. Wir werden sehen …

Wir kommen gleichzeitig mit Loïc zu Hause an. Ich nehme mir ein wenig Zeit, über meine ersten Eindrücke aus dem Krankenhaus zu berichten, ohne allerdings zu sehr ins Detail zu gehen. Die Zeit drängt. Schnell packe ich meine Übernachtungsutensilien, ein gutes Buch und ein Foto von den Kindern in eine Tasche und haste zurück ins Krankenhaus zu Thaïs. Draußen ist es schon dunkel, aber mein Tag ist noch lange nicht zu Ende.

DIE KRAFT EINER LÖWIN IM KÖRPER einer zierlichen Libelle. Genau das sehe ich vor mir, während ich an Thaïs’ Bett wache. Die Kleine ist blass, mager und atmet mühsam. Aber sie klammert sich ans Leben. Sie ist entschlossen, zu kämpfen. Seit ihrer Einlieferung in die Klinik häufen sich die Komplikationen. Die Gastroenteritis hält an, die Atemwegsinfektion will nicht weichen. Thaïs ist körperlich sehr geschwächt, aber sie gibt nicht klein bei. Sie verteidigt sich mit Zähnen und Klauen gegen die Krankheit. Dafür wird sie allerdings Zeit brauchen – viel mehr Zeit als ein anderes Kind. Die Leukodystrophie arbeitet gegen sie. Trotzdem bleibe ich zuversichtlich. Ich weiß, dass sie es dieses Mal noch schaffen wird, weil sie es unbedingt will.

An diesem Abend allerdings geben die Symptome wenig Anlass zur Hoffnung. Thaïs’ Zustand verschlechtert sich. Ihre Atmung wird langsamer, ihr Herz rast. Die Krankenschwestern verlassen das Zimmer keine Minute. Ständig messen sie ihre Temperatur, überprüfen das EKG und die Sauerstoffsättigung des Blutes. Sie vermehren die Aerosole und erhöhen die Sauerstoffabgabe, um Thaïs’ unregelmäßige Atmung zu unterstützen.

Kurz vor Mitternacht, als der Arzt bereits darüber nachdenkt, das Reanimationsteam zu benachrichtigen, lassen die Messungen wieder ein wenig Hoffnung zu. Es sind die ersten positiven Anzeichen seit vielen Stunden. Thaïs’ Puls wird ruhiger, ihre Atmung gleichmäßiger. Das Gewitter zieht ab. Thaïs hat nicht nachgegeben.

In den folgenden Tagen bleibt ihr Zustand kritisch, auch wenn einiges auf eine Besserung hindeutet. Meine kleine Löwin rappelt sich langsam wieder auf, bleibt aber sehr verletzlich. Die Infektion hat sie körperlich gezeichnet; diese Spuren werden für immer bleiben. Nichts wird wieder werden wie zuvor.

NACH ZWEI WOCHEN KLINIKAUFENTHALT KOMMT THAÏS NACH HAUSE. Die Symptome sind abgeklungen, doch dafür hat unsere kleine Tochter einen hohen Preis zahlen müssen.

Unsere Prinzessin Courage hat viel Energie aufgebracht, um den Infekt zu überwinden. Ihr Zustand hat sich weiter verschlechtert. Sie leidet unter starken spastischen Lähmungen, einer erhöhten Eigenspannung der Skelettmuskulatur. Sie kann nicht mehr in ihrem Spezialstuhl sitzen, und wenn man sie trägt oder ihre Haltung verändert, verzieht sie schmerzlich das Gesicht, selbst wenn man ganz vorsichtig ist. Daraus folgt unwiderruflich: Sie wird ab sofort ihr Bett nicht mehr verlassen können.

Es ist merkwürdig, zwei Töchter zu haben, die beide in ihren Zimmern liegen, aber durch einen unüberwindbaren Korridor getrennt sind. Und noch schlimmer ist es, mit ansehen zu müssen, wie sich ihre Zukunft in völlig entgegengesetzte Richtungen entwickelt. In einigen Wochen wird Azylis endlich die Schwelle überschreiten und die Welt entdecken dürfen, die für sie bisher noch hinter ihrer Zimmertür verborgen lag. Für sie geht es nun stetig voran.

Thaïs hingegen entwickelt sich zurück. Im Verlauf ihres Lebens hat sie jeden Raum unserer Wohnung erkundet; zunächst aufrecht auf ihren Beinchen stehend, später auf allen vieren und zum Schluss in einem Spezialstuhl. Von nun an wird sie das nie mehr tun. Sie wird das Leben nur noch durch das erfahren, was man von jenseits ihrer vier Wände und des Rechtecks ihrer Matratze zu ihr bringt. Ihr Universum hat sich auf eine Fläche von zwei Meter Länge und neunzig Zentimeter Breite reduziert. Mir zerreißt es fast das Herz.

Es ist allgemein bekannt, dass Unbeweglichkeit sowohl zu körperlichen als auch zu seelischen Problemen führt. Thaïs allerdings zeigt sich keineswegs betrübt. Sie liegt friedlich in ihrem Bett, hört ihre Geschichten an, genießt Besuche und macht manchmal mit ihrem Bruder Radau. Körperlich jedoch verursacht ihre Bettlägerigkeit durchaus Probleme. Der Mensch ist nun einmal nicht dafür geschaffen, sein Leben im Liegen zu verbringen. Und bei Thaïs zeigen sich viele Beschwerden. Die Haut an den Auflagepunkten entzündet sich, ihre Gliedmaßen werden steif, ihre Bronchien verschleimen. Wenn wir nichts unternehmen, kann sich ihr Zustand rasch verschlechtern. Als Gegenmaßnahme empfiehlt der Arzt, täglich einen Physiotherapeuten aufzusuchen, um ihr die Atmung zu erleichtern und wenigstens eine gewisse Beweglichkeit zu erhalten.

Wir durchforsten die Gelben Seiten, um einen Heilgymnastiker zu finden, der sich mit dieser seltenen Krankheit auskennt und ins Haus kommt. Die Suche erweist sich als schwieriger als gedacht. Wir sind kurz davor zu verzweifeln, als wir wieder einmal voll ins Schwarze treffen. Jérôme sagt auf unsere Anfrage hin zu. Als wir ihn Thaïs vorstellen, akzeptiert sie ihn sofort, obwohl sie ihn nicht sehen kann. Aus dem Bauch heraus. Ich spüre, dass sie jeden Tag auf ihn wartet. Wenn er schließlich da ist, seufzt sie glücklich und lässt sich vertrauensvoll von ihm behandeln. Mich als Mutter berühren diese Gefühlsäußerungen sehr tief. Obwohl Thaïs’ körperliche Fähigkeiten zusehends verfallen, stelle ich fest, dass das Herz meiner kleinen Tochter immer noch in der Lage ist, große Zärtlichkeit zu empfinden.