ICH HÄTTE NICHT GEDACHT, dass es so beschwerlich werden würde. Eigentlich ist es nämlich keine große Sache – lediglich ein kleines Loch im Bauch, das mit einer Art »Knopf« verschlossen ist: die Magensonde, durch die Thaïs ernährt wird. Für sie ist diese inzwischen lebensnotwendig. Zunächst hatte man ihr eine Nasensonde gelegt, die auch ihren Zweck erfüllte, ihr aber unbequem war. Sobald die Krankenschwestern ihr den Rücken kehrten, riss sie die Schläuche heraus. Daraufhin schlugen uns die Mediziner eine zwar aufwändigere, aber auch wirksamere Methode vor: die Gastrostomie. Wir versuchten, die Entscheidung hinauszuschieben, bis man uns mit der schrecklichen Wahrheit konfrontierte: Thaïs kann fast nicht mehr schlucken. Es ist nicht nur ein Problem, was sie überhaupt noch essen kann, vielmehr wird es auch immer gefährlicher für sie, selbstständig zu essen. Jeder Bissen könnte den falschen Weg nehmen und anstatt in die Speise- in die Luftröhre geraten. Thaïs wird sich also nie wieder auf normalem Weg ernähren können. Wir geben unseren Widerstand auf.

Die Operation verläuft ohne Probleme. Langsam kommt Thaïs zu sich. Ich werfe einen Blick unter ihre Decke. Ein kleiner Schlauch kommt unmittelbar über dem Nabel aus ihrem Bauch. Es sieht sauber und gut aus, scheint ihr keine Schmerzen zu verursachen, und er ist praktisch und leicht zugänglich. Ja, ich weiß um die vielen Vorteile. Trotzdem berührt mich der Eingriff in meinem tiefsten Inneren: Nie mehr werde ich meiner Tochter etwas zu essen geben können. Die Erkenntnis fährt mir in die Glieder. Der Wunsch, das eigene Kind zu ernähren, ist ein Instinkt. Von nun an werde ich eine Maschine programmieren, die Thaïs ihre »Mahlzeiten« verabreicht, und entscheide über Uhrzeit, Dauer und Menge. Ich hasse die Vorstellung, die Kleine mit einer wenig appetitlich aussehenden Flüssigkeit künstlich zu ernähren. Nie wieder wird sie den Geschmack köstlicher Dinge auf der Zunge spüren, nie wieder ein Aroma, etwas Salziges oder Süßes schmecken. Ausgerechnet unser Leckermäulchen …

Die Krankenschwester reißt mich aus meinen düsteren Gedanken, als sie verkündet: »Ich zeige Ihnen jetzt, wie man die Maschine bedient, mit der sie gestopft wird.« Um Himmels willen, wie schrecklich! Wie kann sie nur hinsichtlich der Ernährung eines kleinen Mädchens von »stopfen« sprechen? Thaïs ist doch keine Mastgans! Ich weiß natürlich, dass die Krankenschwester es nicht böse gemeint hat. Die burschikose Krankenhaussprache ist nun einmal keineswegs sentimental. Ich reiße mich mit aller Macht zusammen und bitte die Schwester ruhig, dieses Wort nicht mehr zu benutzen.

Sie entschuldigt sich sehr verlegen. »Aber ›ernähren‹ ist in Ordnung, oder?«, schlägt sie stattdessen vor.

Oh ja. Viel besser. Wir wollen Thaïs’ Würde erhalten. Unter allen Umständen.

ÄUSSERLICH BETRACHTET PASSIERT ÜBERHAUPT NICHTS. Azylis schläft so friedlich in ihrem kleinen Gitterbett wie alle Säuglinge ihres Alters. Ihr Gesichtchen ist rosig, ihr Atem und ihr Puls sind ruhig. Natürlich ist sie von vielen medizinischen Apparaturen umgeben, aber abgesehen von den Geräten scheint alles ganz normal zu sein. Allerdings nur äußerlich betrachtet. In ihrem Innern aber geht es zu wie in Hiroshima. Die Ärzte haben mit der Chemotherapie angefangen. Die Stammzellentransplantation geht folgendermaßen vor sich: Man vernichtet zunächst das gesamte vorhandene, weil kranke Knochenmark, um nach der Stammzellentransplantation auf einem gesunden Fundament wieder aufbauen zu können. Jetzt sind also die Bulldozer im Einsatz. Das Timing ist sehr präzise. Innerhalb von acht Tagen muss Azylis’ gesamtes Knochenmark durch eine besonders wirksame und zerstörerische Chemotherapie vernichtet werden. Die Dosierung spricht für sich: Azylis, die gerade einmal vier Kilo wiegt, erhält die für eine hundert Kilo schwere Person vorgesehene Dosis. Ein weiterer Hinweis auf Obelix?

Wir lassen unsere hübsche kleine Gallierin keine Sekunde allein, beobachten jede noch so winzige Regung und achten auf verdächtige Veränderungen. Aber sie scheint die Tortur gut auszuhalten. Jeden Tag werden wir von den Ärzten über die Erfolge der Chemotherapie in Kenntnis gesetzt. Getreulich berichten sie über die Anzahl »neutrophiler Granulozyten«, »Erythrozyten« und andere Dinge. Uns sagen die medizinischen Fachausdrücke nicht viel, und auch die Werte können wir nicht einordnen. Jedes Mal müssen wir die Fremdworte für uns übersetzen, entschlüsseln und verstehen. Die Medizin sträubt sich offenbar dagegen, allgemein verständlich zu sein. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das Fachchinesisch, dass sich die Blutzellen rasch verringern und dass Azylis auf die Behandlung anspricht. Bald ist der richtige Augenblick für die Transfusion erreicht.

Aber zunächst schärfen wir unsere Aufmerksamkeit noch einmal. Durch die rapide Abnahme ihrer weißen Blutkörperchen hat Azylis keine Immunabwehr mehr. Sie kommt in die Aplasie-Phase, in der wegen des Mangels an Leukozyten, weißen Blutkörperchen, jede Infektion tödlich enden kann. Sie besitzt keine Abwehrkräfte mehr – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn.

HEUTE MORGEN HAT AZYLIS IHR FLÄSCHCHEN VERWEIGERT. Und auch am Mittag verzieht sie das Gesicht und weint bei jedem Schluck. Ich verstehe nicht, was mit ihr los ist. Wir haben weder den Sauger noch die Milch gewechselt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Der Arzt klärt mich auf. Azylis hat eine Mundschleimhautentzündung und Schwellungen im Mund- und Rachenbereich. Es handelt sich um eine der unangenehmen Nebenwirkungen der Chemotherapie. Bisher hatte sie nur ihre Haare verloren, was aber bei einem sechs Wochen alten Säugling, der ohnehin kaum einen Vogelflaum auf dem Köpfchen hat, kaum auffällt.

Die Entzündung der Mundschleimhaut aber tut weh. Es ist so peinigend, als hätte man ganze Kolonien von Aphten in Mund und Kehle. Azylis will nicht trinken, weil es ihr Schmerzen bereitet. Das jedoch ist problematisch, denn sie muss bei Kräften bleiben. Energie braucht sie jetzt mehr denn je. Aber die Lösung ist ganz einfach. Man wird sie künstlich ernähren.

Der Zugang erfolgt über den Zentralkatheter, der Azylis bereits vor ihrer Aufnahme auf der Isolierstation gelegt wurde. Durch diesen Katheter werden alle Medikamente verabreicht, ebenso wie die Chemo und ab sofort auch die Nahrung.

Von diesem Tag an wird meine Jüngste mehr als zwei Monate lang keinen Tropfen Milch mehr zu sich nehmen. Sie wird sogar den Schluckreflex verlieren. Ich fühle mich nutzlos, denn ich kann keine meiner beiden Töchter selbst ernähren. Für eine Mutter ist so etwas sehr schwer zu akzeptieren.

WARUM GESCHIEHT NICHT ALLES SO, WIE MAN ES SICH WÜNSCHT? Thaïs sollte endlich aus dem Krankenhaus entlassen werden. Wir alle waren glücklich, sie wieder zu Hause zu haben, und auch sie freute sich darauf. Aber ausgerechnet heute, an diesem seit einem Monat sehnlichst erwarteten Tag, fühlt sie sich nicht wohl. Sie fiebert ein wenig, und ihr ist schlecht. Die Ärzte lassen nicht mit sich reden – in diesem Zustand wird sie auf keinen Fall aus dem Krankenhaus entlassen.

Die schlechte Nachricht entlastet uns. Wir haben uns verausgabt. Wir sind erschöpft durch den ständigen Wechsel zwischen zwei Etagen, zwei Zimmern, zwei Töchtern und der ständigen Sorge um ihre Gesundheit. Wir wissen nicht, wo wir die Energie hernehmen sollen, auf diesem unberechenbaren Weg weiterzugehen, und wünschen uns nichts sehnlicher als eine Ruhepause vor Azylis’ Transfusion.

Thaïs verzieht das Gesicht. Ich weiß, dass es nicht an ihrer Übelkeit liegt; sie ist enttäuscht. Genau wie wir, vielleicht sogar noch stärker. Sie ist schon so lange hier. Aber sie hat begriffen, dass sie sich noch ein paar Tage gedulden muss, ehe sie nach Hause darf. Geduld ist nicht gerade die Stärke kleiner Kinder. Und doch … Von ihrem Bett aus sieht sie zunächst traurig zu, wie ich die Koffer wieder auspacke, aber plötzlich trocknen ihre Tränen, sie greift nach einer Puppe und beginnt so ruhig zu spielen, als ob nichts wäre. Sie lächelt sogar der Krankenschwester zu, die zur Blutabnahme kommt. Ich setze mich an ihr Bett und kann die Augen nicht von diesem kleinen Mädchen wenden, das mich immer wieder in Erstaunen versetzt. Wie gern würde ich ihr Geheimnis ergründen.

Wie bringt sie es fertig, alles mit diesem Lächeln zu ertragen? Woher nimmt sie den inneren Frieden und die Kraft, so viele Bewährungsproben durchzustehen? Natürlich kann man es damit erklären, dass sie nur ein Kind ist. Dass sie sich vieler Dinge nicht bewusst ist, dass sie die Zukunft nicht abschätzen kann, dass sie schlechte Erfahrungen schnell vergisst. Sicher stimmt das, doch ich spüre, dass mehr dahintersteckt. Es ist nicht so, dass Thaïs ihre Krankheit erduldet – sie lebt ihr Leben. Sie kämpft um das, was sie verändern kann, aber alles, was unvermeidlich ist, erträgt sie. So viel Weisheit! Und welch eine Lektion! Dieses kleine Mädchen ringt mir uneingeschränkte Bewunderung ab. Und ich bin nicht die Einzige, die so empfindet. Beim Hinausgehen sagt die Krankenschwester leise: »Bis gleich, Prinzessin Courage …«