AUF NACH PARIS! Seit heute Morgen wissen wir es: Wir werden alle gemeinsam nach Hause zurückkehren. Nach langen Diskussionen haben die Ärzte eingewilligt, Azylis früher zu entlassen. Die guten Untersuchungsergebnisse und einige Schlucke mit gewissem Appetit getrunkener Milch konnten sie überzeugen. Eine Klinik in Paris wird die Nachbehandlung übernehmen.
Im Nu sind unsere Koffer gepackt. Die administrativen Formalitäten sind erledigt, die letzten Empfehlungen der Ärzte, wie Azylis zu Hause zu behandeln ist, notiert. Unsere Zeit in Marseille neigt sich ihrem Ende entgegen.
Und dann sind wir auf dem Heimweg. Bewegt blättern wir eine Seite unseres Lebensbuches um. In Marseille lassen wir uns lieb gewordene Menschen und die Nähe einer neuen Familie zurück – es sind die uns vertraut gewordenen Krankenschwestern und andere Freunde. Vergangenheit ist der mit Pinien gesäumte Schulweg, vorbei die Sonne, die uns Körper und Seele wärmte, vorbei die Abendessen im Freien bei Kerzenlicht und Roséwein. Vorbei die in einem Liegesessel zusammengekauert verbrachten Nächte, die Tage mit Masken und Kitteln, Gaspards Ausflüge in den Garten, die Ankunft von Ticola, das erste Lallen von Azylis und die letzten Blicke von Thaïs; wir lassen eine Menge süßer und bitterer Erinnerungen zurück, Tage des Weinens und des Lachens. Und wir vergießen eine kleine Träne.
Aber Paris erwartet uns mit offenen Armen. Wir freuen uns auf unsere Wohnung, auf alles, was uns vertraut ist, unsere Gewohnheiten, unseren Alltag … auf die letzten noch auszupackenden Umzugskartons, auf die Bilder und Vorhänge, die noch aufgehängt werden müssen, und sogar auf den Riesenberg an Aufgaben im Haushalt, der uns nach vier langen Monaten Abwesenheit erwartet.
»HOME, SWEET HOME!« WIR SIND WIEDER ZU HAUSE. Alle fünf. Endlich. In der Wohnung erwartet uns eine angenehme Überraschung. Während wir von Marseille nach Paris unterwegs waren, hat sich ein ganzes Bataillon guter Feen mit Besen, Schrubbern, Mobs und Schwämmen in unserer Wohnung zu schaffen gemacht. Einen ganzen Tag lang wurde geputzt, gewienert, poliert, gestaubsaugt und aufgeräumt. Das Ergebnis ist verblüffend. Nach vielen Monaten Abwesenheit ist nicht das kleinste Stäubchen zu entdecken.
In einem Eimer mit Eisstückchen wartet eine Flasche Champagner, und auf einer improvisierten Karte steht mit großen Buchstaben »Willkommen!«. Wie schön ist es doch zu Hause! Ein kleines, ganz einfaches Glück.
Gaspard freut sich wie ein Schneekönig. Er räumt seine gesamten Spielsachen aus und ist entzückt über jedes wiedergefundene Stück, als sähe er es zum ersten Mal. Thaïs liegt auf ihrem Spezialbett und lächelt. Die Reise hat sie sehr ermüdet, aber sie scheint glücklich zu sein. Azylis hingegen bekommt von der Glückswoge, die über die Familie hinwegschwappt, nicht viel mit. Wir haben sie gleich bei der Ankunft in ihrem abgeschirmten Zimmer sicher untergebracht. Das war eine der Bedingungen dafür, dass wir mit ihr zurückkehren durften.
Ihre Quarantäne wird noch mehrere Monate andauern – so lange, bis ihr Immunsystem ausreichend entwickelt und in der Lage ist, sie vor den von Mikroben und Viren ausgehenden Gefahren zu schützen. Vorläufig darf sie ihr Zimmer nur zur wöchentlichen Überwachung in der Klinik verlassen. Einmal in der Woche wird die Entwicklung des Transplantats kontrolliert, die Blutzellenproduktion überprüft und untersucht, ob jede Art von Infekt sicher ausgeschlossen werden kann.
Ihr Zimmer in unserer Wohnung wurde in eine Krankenstation verwandelt und von Grund auf gereinigt. Jetzt riecht es nach Chlor und Desinfektionsmitteln. Der Geruch wirkt auf uns beruhigend. Hier gelten die gleichen Maßstäbe wie im Krankenhaus. Ehe wir ihr Zimmer betreten, desinfizieren wir die Hände, ziehen die Schuhe aus und setzen eine Atemmaske auf. Zwar verhalten wir uns nicht ganz so streng wie auf der Isolierstation, aber wir müssen wachsam bleiben, denn zu Hause sind wir derartige Vorschriften nicht gewohnt. Wir müssen jede noch so kleine Geste überdenken.
Aus Gründen der Sicherheit dürfen Gaspard und Thaïs das Zimmer von Azylis nicht betreten. An diesem Abend jedoch machen wir zur Feier des Tages eine winzige Ausnahme. Sie dürfen sich mit Atemmasken kurz an der Tür des Zimmers ihrer Schwester aufhalten. Thaïs liegt in ihrem Spezialstuhl, Gaspard hält nervös kichernd ihre Hand. Azylis sitzt in ihrem Gitterbettchen und betrachtet ihre beiden Geschwister ein wenig erstaunt. Sie erkennt sie nicht – sie kennt sie ja nicht einmal. Noch nicht. Zum ersten Mal seit langer Zeit befinden sich unsere drei Kinder gemeinsam im selben Raum. Jedenfalls beinahe.
Nach einem langen, mit vielen Gefühlen befrachteten Tag schlafen Gaspard, Thaïs und Azylis rasch ein. Kaum liegen sie in ihren Betten, als Morpheus sie auch schon in seine einladenden Arme nimmt. Nachdem die Kinder friedlich schlummern, köpfen Loïc und ich die Champagnerflasche und stoßen darauf an, dass wir nun alle zusammen sind. Ohne auch nur zu ahnen, dass dies nur einen Abend dauern wird. Wenn wir wüssten.
DAS ERWACHEN IST HEFTIG. Bereits im ersten Morgengrauen erbricht sich Thaïs, hustet, würgt und hat Krämpfe. Durch Gaspards Rufe alarmiert, hasten wir zu ihrem Bett. Ich messe ihre Temperatur. Sie hat über vierzig Grad Fieber. Sofort fahren wir sie ins Krankenhaus in die für sie zuständige Abteilung. Die Ärzte diagnostizieren eine Gastroenteritis und eine schwere Atemwegsinfektion. Die Zukunft sieht wieder düster aus.
Vorbei ist es mit unserem Glück zu fünft. In zwei Tagen muss Loïc wieder zur Arbeit. Für Gaspard beginnen zwei Wochen Ferien. Azylis darf ihr Zimmer nicht verlassen. Thaïs befindet sich in kritischem Zustand im Krankenhaus. Kaum dass wir wieder zusammen sind, zerschlägt es unsere Familie auch schon wieder.
Etwas wüsste ich gern: Wurde Sisyphus wütend, tobte und schrie er, wenn sein so mühsam bis zur Spitze des Berges transportierter Felsen wieder hinunterrollte? Oder begnügte er sich damit, stoisch zu seinem Stein zu gehen und diesen wieder bergan zu bewegen, als ob nichts geschehen wäre? Immer wieder und unermüdlich?
Uns bleibt nicht die Zeit, nach einer Antwort zu suchen oder unsere so abrupt beendete Ruhe zu bejammern. Wir sammeln die Trümmer ein und versuchen, eine Art Ordnung herzustellen. Gaspard wird die Ferien bei seinen Cousins verbringen. Thérèse und ich wechseln uns bei den Mädchen ab, eine im Krankenhaus, die andere zu Hause. Wenn Loïc abends aus dem Büro kommt, übernimmt er die Wache. Die Einteilung könnte funktionieren. So haben wir es vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gemacht. Vielleicht klappt es dieses Mal ja wieder. Zumindest für einige Tage.