ES GIBT AHNUNGEN, DIE NIE TÄUSCHEN. Das gilt zum Beispiel für das Gespür einer Mutter, dass das Leben ihres Kindes erlischt. Ich brauche die Diagnose der Krankenschwester nicht, um den Ernst der Lage zu begreifen. Ich brauche auch nicht die schrillen Signaltöne der Überwachungsgeräte, um zu wissen, dass der Abschied unmittelbar bevorsteht.

Es ist ein sonniger Pfingstsonntag, und Thaïs durchlebt ihre letzten Augenblicke. Der wunderbar leichte und schöne Vortag erscheint mit einem Mal weit entfernt. Gestern war Thaïs mit rosigem Gesicht und regelmäßigem Atem aufgewacht. Alles schien bestens zu laufen. So gut, dass wir wagemutig waren. Wir machten uns für ein paar Stunden aus dem Staub. Und zwar aus einem ganz besonderen Anlass. Gaspard, Loïc und ich zogen uns hübsch an und nahmen an der Hochzeitsfeier von Nicolas teil. Nicolas ist Gaspards Taufpate. Die Mädchen ließen wir zu Hause. Ohne schlechtes Gewissen und ohne Unruhe, denn sie befanden sich in der liebevollen Obhut ihrer Großeltern, die sich über dieses traute Tête-à-tête freuten.

Der Tag war wundervoll. Die Feier fand nicht weit von zu Hause statt – wir hätten beim kleinsten Alarmzeichen schnell zurück sein können. Natürlich haben wir zwei oder drei Mal, vielleicht auch öfter, angerufen und nachgefragt. Die Antwort aber war immer die gleiche: »Alles in bester Ordnung. Genießt das Fest.«

Gelegenheiten wie diese sind selten und daher umso wertvoller für uns geworden. Und so feierten wir alle drei bis tief in die Nacht. Wir übernachteten in einem Hotel und setzten das Fest am nächsten Morgen so lange fort, bis Gaspard alle Konfitüren des königlichen Frühstücks gekostet hatte. Kurz vor Mittag kehrten wir glücklich und zufrieden nach Hause zurück. Wir freuten uns auf unsere kleinen Mädchen.

Wir begrüßten uns, als hätten wir uns endlos lange nicht gesehen. Wir herzten und küssten Thaïs und Azylis wie nach jahrelanger Abwesenheit. Ja, manchmal können vierundzwanzig Stunden eine kleine Ewigkeit sein. Azylis empfing uns mit Freudengeschrei. Die Begeisterung von Thaïs war weniger geräuschvoll als die ihrer Schwester, aber ebenso spürbar. Es ist schön, dass wir uns diese Auszeit gönnen konnten; während unserer Abwesenheit ist alles gut gegangen. Und es ist gut, dass wir zurückgekommen sind, ohne uns noch länger aufzuhalten. Denn kurz nach unserer Rückkehr ist das Gewitter ohne Vorankündigung über uns hereingebrochen.

Nichts geht mehr. Thaïs’ Herz wird mit jedem Schlag langsamer. Die Atmung setzt für lange Sekunden aus. Wie gebannt lauschen wir dem Stocken ihres Atems. Jeder Atemzug kann der letzte sein. Die Krankenschwester sagt nichts mehr. Sie schüttelt den Kopf zum Zeichen, dass sie machtlos ist, und verlässt auf Zehenspitzen das Zimmer, um uns bei unserem Abschied nicht zu stören.

Je blasser das Gesicht meines geliebten Töchterchens wird, desto aggressiver werde ich. Sogar mein Glaube verlässt mich. Zwar bin ich seit Langem auf diesen schicksalhaften Augenblick vorbereitet, aber ich bin trotzdem nicht bereit. Wie könnte ich das je sein? Meine Seele sträubt sich, bockt und rebelliert.

Nein, nicht das! Alles, aber nicht das!

Bleib noch ein wenig, meine Prinzessin, meine wunderschöne Thaïs! Ich kann dich nicht gehen lassen. Mir fehlt der Mut, dich zu begleiten. Ich habe nicht die Kraft, ohne dich zu leben. Ich klammere mich an deine Arme, an deinen Hals, an deinen ganzen Körper, um dich zurückzuhalten. Nur noch ein bisschen. Ein kleines bisschen.

Verlass mich nicht. Nicht jetzt. Nicht so früh. Ich will dich bei mir behalten. Für immer. Dich pflegen, bei dir wachen, dich umsorgen, dich lieben. Du bedeutest mir so viel: dein beredtes Schweigen, dein kindlicher Duft, deine weiche Haut, deine honigfarbenen Locken, deine halb geöffneten Hände, all die kleinen Dinge, die Laute, die Geräusche, die Bewegungen, die dich ausmachen. Und die ich so liebe.

Ich flehe dich an, meine kleine Tochter. Widerstehe! Kämpfe! Ohne dich bin ich nichts. Du bist meine Sonne, mein Horizont, meine Zärtlichkeit, meine Kraft und meine Schwäche. Du bist mein Fels und mein Abgrund. Meine große Liebe.

Bleib noch. Wenigstens heute. Und morgen. Und übermorgen.

HAT SIE MICH GEHÖRT? Hat sie das verzweifelte Flehen meines zerrissenen Herzens gespürt? Ich werde es nie erfahren. Und doch ist es so, dass Thaïs’ Seele von ihrem Weg zwischen Erde und Himmel noch einmal zurückgekehrt ist in den kleinen, verbrauchten Körper, von dem sie sich bereits gelöst hatte.

Wider jedes Erwarten erholt sich Thaïs. Ganz langsam, einen Herzschlag nach dem anderen, einen Atemzug nach dem anderen, kehrt sie ins Leben zurück. Mit zögernden Schritten erklimmt sie den Weg in umgekehrter Richtung. Wie eine Seiltänzerin. Ich halte sie fest in meinen Armen und flehe weiter. Ich kann nicht aufhören. Je sichtbarer die Hoffnung das Grau aus ihren Wangen vertreibt, desto inniger bete ich.

Es dauert mehrere bittere Stunden, ehe wir sicher sein können, dass Thaïs außer Gefahr ist. Die Krankenschwester und der von ihr herbeigerufene Arzt stoßen gemeinsam mit uns einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie wissen, wie ernst es um unsere Kleine stand. Doch die Geheimnisse des Lebens und des Todes lassen sich oft nicht mit der menschlichen Wissenschaft erklären. Niemand – weder der kompetenteste Arzt noch ein Sachkundiger oder ein aufmerksamer Verwandter – kann den Tag und die Stunde voraussagen. Und vielleicht ist das auch gut so …

Diese Begegnung mit dem unmittelbar bevorstehenden Tod, mit dieser unermesslichen Qual und abgrundtiefen Leere, die ich in meinem Innersten gespürt habe, hätte mich vernichten können, doch sie hat mich gestärkt und mir eine Last von den Schultern genommen. Schluss mit den heldenhaften, stoischen, tapferen Vorsätzen! Ich bereite mich nicht mehr auf den Abschied von Thaïs vor. Seit heute weiß ich, dass es verlorene Liebesmühe ist. Und dass es nicht das ist, was letztlich zählt. Es ist ganz egal, wie ich reagiere, wenn sie uns eines Tages verlässt. Ich werde ihr so zur Seite stehen, wie ich in Wirklichkeit bin: einfach nur als ihre Mama, mit all meinem Schmerz, meiner unendlichen Furcht, meinen Tränen, meiner Schwäche, aber auch mit meiner ganzen, großen Liebe.

Auch Loïc wird bei ihr sein, das weiß ich. Er wird uns nicht im Stich lassen. Trotz aller Prüfungen. Wie an diesem Nachmittag, als mein Herz sich vor Schmerz wand und sich eine hoffnungslose Einsamkeit einnisten wollte. In einer solchen Situation ist kaum vorstellbar, dass jemand anderes ebenso leiden kann. Noch nicht einmal der Mensch, der an unserer Seite weint.

Als Thaïs mit dem Tod rang, haben Loïc und ich uns unendlich weit voneinander entfernt gefühlt. Jeder war allein in seinem Schmerz. Er, der Vater, unfähig, sein Kind zu schützen; ich, die Mutter, unfähig, es am Leben zu erhalten. Zwischen uns entstand ein Riss, der zum unüberwindbaren Abgrund hätte werden können, wenn wir uns nicht vorgesehen hätten. Es genügt nicht, sich aneinanderzuschmiegen, um einander nah zu sein. Man muss selbst im tiefsten Leid die Kraft aufbringen, die Tränen des anderen zu trocknen. Man muss sich ihm zuwenden und spüren, wie er mit dem Schmerz lebt. Wir haben den fatalen Riss rechtzeitig erkannt und ihn gekittet, indem wir uns geliebt, miteinander geredet und einander zugehört haben. Und indem wir miteinander fühlten.

Und von diesem Ausgangspunkt aus werden wir, verliebter denn je, einen Schritt weitergehen. Die gemeinsam ausgestandene Angst, Thaïs für immer zu verlieren, wirft ein neues Licht auf unsere Zukunft. Wir haben gesehen, wie das Leben sie verließ; jetzt werden wir jeden Augenblick mit ihr als unschätzbar wertvollen Aufschub und gesegnetes Geschenk genießen.

Bis heute, so muss ich gestehen, habe ich jeden Abend gedacht: »Wieder ein Tag weniger mit ihr«. Von jetzt an aber möchte ich jeden Abend sagen können: »Heute haben wir wieder einen Tag mehr mit ihr erleben dürfen.« Es ist nur eine Frage der Perspektive, die jedoch alles verändert. Wir werden Thaïs genießen. Bis zum letzten Moment. Danach bleibt uns unser ganzes restliches Leben, um mit dem Verlust fertigzuwerden.