SIE HAT MICH NICHT GESEHEN. Fast bleibt mir das Herz stehen. Thaïs liegt brav in ihrem Bettchen, ihre Augen sind weit geöffnet. Ich trete näher, aber ihr Blick folgt mir nicht. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Hieb: Thaïs kann nicht mehr sehen.
Der Schock lässt mich schwanken, ich ringe nach Luft und kralle mich an ihr Bett, um nicht den Halt zu verlieren. Ich fühle mich orientierungslos und verloren. Mir fehlen die Worte; kein Ton wagt sich aus meinem Mund. Thaïs ist blind. Ich kann es noch nicht fassen. Vor dieser Folge ihrer Krankheit hat mir fast am meisten gegraut, und nun ist es schon so weit. Nie werde ich das annehmen können. Niemals.
Ich stürze aus dem Zimmer, denn ich will meinen Schmerz allein herausweinen, weit weg von ihr. Sie soll mich nicht in dieser Verfassung erleben, auch wenn sie mich nicht mehr sehen kann. Ich rolle mich auf meinem Bett zusammen. Untröstlich. Ich bete, flehe den Himmel an, meiner Prinzessin das Augenlicht zurückzugeben.
»Nur das Augenlicht, bitte, bitte, nur das Augenlicht!«
Es dauert lange, ehe ich wieder ein wenig Energie aufbringe. Ich muss zu meiner Tochter gehen und diesen Augen begegnen, die nichts mehr sehen.
Ich öffne die Tür in der leisen Hoffnung, mich getäuscht zu haben. Vielleicht schaut sie mich jetzt ganz normal an. Wenn doch nur … Sie wendet mir den Kopf zu, doch ihre Augen finden mich nicht.
Ich schließe sie in die Arme. »Ich bin hier, mein Liebling«, flüstere ich ihr ins Ohr. »Mama ist bei dir. Hab keine Angst.« Ich wiege sie, um ihr ein wenig die Furcht zu nehmen und ihren Schmerz zu lindern. Aber welche Furcht? Welchen Schmerz? Sie scheint nicht den geringsten Kummer zu haben. Ich spüre, dass sie ganz ruhig ist. Mein Herz ist es, das zum Zerspringen schlägt, nicht ihres.
In meinen düstersten Albträumen habe ich mir ausgemalt, wie verzweifelt Thaïs bei ihrer Erblindung wäre. Ich habe mir ihre Verängstigung vorgestellt, sobald ihre Krankheit sie zu einem Leben in Finsternis verdammte. Ich würde zwar versuchen, sie zu trösten, doch ihre Verzweiflung hielte an. Die Wirklichkeit jedoch nimmt eine ganz andere Wendung. Thaïs hat sich nicht verändert. Nichts an ihrem Verhalten lässt darauf schließen, dass sie unter ihrer plötzlichen Erblindung leidet. Sie ist das gleiche kleine Mädchen wie gestern – obwohl sie gestern noch sehen konnte. Hätte ich nicht ihren Blick gesucht, wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen, dass sie erblindet ist.
IN DEN LETZTEN MONATEN HABE ICH ALLES, was Thaïs fühlte, aus ihrem klaren Blick ablesen können. Ich entdeckte Erstaunen, Schmerz, Entschlossenheit, Freude, Ernst und Glück. Aber niemals, nicht ein einziges Mal, sah ich Verzweiflung. Ihr Vertrauen ist unerschütterlich. Unbeirrbar setzt sie ihren Weg fort. Sie ist und bleibt unsere geheimnisvolle Prinzessin Courage, die uns immer wieder überrascht …
Aber ich will es wissen. Ich muss Gewissheit haben. Wenn ich tief in Thaïs’ Augen schaute, fand ich dort bisher immer einen leuchtenden Funken, der mich anzog, mich festhielt und mir Leben einhauchte. Ich nähere mein Gesicht dem ihren, bis ich es fast berühre, und blicke forschend in die großen, schwarzen Augen. Und da ist sie – die kleine, lebhafte, leuchtende Flamme. Sie tanzt. »Ich bin da. Ich sehe zwar nicht mehr, aber ich bin immer noch da. Das Leben geht weiter.« Sie gibt mir die Hoffnung zurück und erfüllt mich mit Mut und Tatkraft. Dieses Licht ist das Leuchten von Thaïs’ Seele. Ein Satz aus Der Kleine Prinz schleicht sich in meine Gedanken wie ein zärtliches Augenzwinkern. »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«
BEI EINEM MARATHONLAUF sollen die letzten Kilometer die schwierigsten sein. Und so ist es auch hier. Die Zielgerade stellt die höchsten Anforderungen an uns. Unsere Leiden in Marseille neigen sich zwar dem Ende zu, doch die verbleibende Distanz ist nur mit Mühe zu überwinden. Ich weiß noch nicht einmal, ob wir alle gemeinsam die Ziellinie erreichen …
Insgeheim hatte ich Allerheiligen mit dem Ende unseres Exils gleichgesetzt. Jetzt nähert sich der Festtag mit großen Schritten, aber nichts lässt auf unsere bevorstehende Abreise schließen. Es gibt nämlich eine weitere Komplikation: Azylis verweigert weiterhin das Fläschchen. Seit ihrer Verlegung in die Überwachungsstation bemühen wir uns, sie zum Saugen zu bewegen. Doch unsere Mühe ist umsonst. Sie schafft es nicht, mehr als ein paar Tropfen pro Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Die Ärzte haben klar Position bezogen: So lange Azylis von künstlicher Ernährung abhängig bleibt und nicht zunimmt, kann sie nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden. Trotzdem machen sie sich keine Sorgen und versichern uns, dass es sich allenfalls noch um einige Wochen, höchstens um einen Monat handeln kann. Aber so viel Zeit können wir nicht mehr aufbringen. Zumindest nicht in Marseille.
Unsere ausgeklügelte Organisation beginnt aus dem Ruder zu laufen und droht zusammenzubrechen. Chantal ist aus ihrem Sommerdomizil in den Bergen zurückgekehrt. Sie zeigt sich nach wie vor großzügig und hat uns eingeladen, so lange wie nötig zu bleiben, aber wir wollen ihr natürlich nicht zur Last fallen. Wir haben ihre Gastfreundschaft schon viel zu lange in Anspruch genommen.
Loïc kann nicht länger bei der Arbeit fehlen. Man erwartet ihn in wenigen Tagen in Paris zurück. Er kann seinen Aufenthalt in Marseille nicht unendlich verlängern. Und unsere Eltern und Großeltern haben auch noch andere Verpflichtungen. Das Gerüst, das unser anfälliges Lebenskonstrukt stützt, gerät ins Wanken.
Ich habe die Situation in meinem Kopf hin und her gewälzt, ehe ich mich den Tatsachen stellte. Uns bleibt keine große Wahl, wir müssen uns trennen. Die einfachste Lösung ist, dass Loïc mit Thérèse, Gaspard und Thaïs nach Paris zurückkehrt, während ich mit Azylis so lange in Marseille bleibe, wie es nötig ist. Für die verbleibende Zeit kann ich im Elternhaus unterkommen, das unmittelbar an die Klinik angrenzt, und sobald alles in Ordnung ist, kehren wir zum Rest der Familie zurück. Dieser Plan ist zwar physisch einfach umzusetzen, aber psychisch unmöglich.
Um stark zu sein, müssen wir zusammenbleiben. »Einer für alle, alle für einen.« Die Devise der Musketiere haben wir zu unserem Leitspruch erhoben. Vor allem während der vergangenen Wochen. Denn Thaïs’ Gesundheitszustand verschlechtert sich weiter. Manchmal nur ein kleines bisschen, kaum feststellbar, dann aber wieder mit großen Sprüngen. Keiner von uns brächte es fertig, sie allein zu lassen, selbst wenn es nur kurz wäre. Man weiß schließlich nie, was in dieser Zeitspanne passiert … Ein Monat bedeutet im Vergleich zu einem Leben eine kurze Zeit. Im Fall von Thaïs jedoch könnte dieser Monat aber ein sehr langer Teil ihres Lebens sein. Denn die Monate, die ihr noch bleiben, sind gezählt. Die Zeit drängt.
Wieder steht uns eine Schlacht bevor.