EIN FÜSSCHEN VOR DAS ANDERE. Ein wenig zögernd noch. Ein Schritt, dann ein zweiter. Es sieht noch ein bisschen wackelig aus, aber Azylis läuft! Nicht ganz allein, sondern an Loïcs Finger geklammert. Doch diese kleine Unterstützung zählt nicht wirklich, sie dient nur dazu, ihr Sicherheit zu geben. Wichtig ist, dass sie sich auf den Beinen hält, auch wenn noch Unsicherheiten zu sehen sind.

Ja, sie läuft! Schon seit einigen Tagen machte sie Ansätze, traute sich jedoch nicht recht. Aber heute hat sie es gewagt. Sie fixiert das nahe Sofa, die Endstation ihres Abenteuers. Schritt für Schritt geht sie darauf zu, ohne die Hand ihres Papas loszulassen. Und ich beobachte sie. Mit klopfendem Herzen starre ich wie gebannt auf ihre Schuhspitzen.

Verdreht sich ihr Fuß? Ich bringe es nicht fertig, den Gedanken beiseitezuschieben. Ich habe Angst. Ich fürchte mich davor, auch bei Azylis eines Tages die Spur der Krankheit zu erkennen, ganz nebenbei, bei einem banalen Bewegungsablauf. Mehr als alles andere auf der Welt graut mir vor einem zitternden Händchen oder einer verdrehten Ferse. Denn das wäre ein erstes Anzeichen für das Übel. Obwohl ich mich zur Ruhe zu zwingen versuche, wächst meine Angst mit jedem verstreichenden Monat. Jeder Tag bringt uns näher an die kritische Phase heran, in der sich die ersten sichtbaren Symptome der MLD zeigen können.

Schon fast unbewusst analysiere und seziere ich jede noch so kleine Geste und das Verhalten von Azylis. Ich beobachte sie beim Trinken, beim Essen, wenn sie sich setzt oder hinlegt, wenn sie läuft und wenn sie weint. Geradezu zwanghaft mustere ich jeden ihrer Schritte in eine neue Lebensphase und versuche, mich zu erinnern, wie es bei Gaspard und vor allem bei Thaïs gewesen ist …

Dreht sich also ihr Füßchen? Auf den ersten Blick habe ich nicht den Eindruck. Nein, ich glaube nicht. Es sei denn, ich habe nicht aufmerksam genug hingeschaut. Aber mir schmerzen bereits die Augen, so intensiv starre ich auf ihre Schuhspitzen. Ich weiß nicht mehr, was ich sehe. Ich habe noch nicht einmal die ersten Schritte meiner kleinen Tochter genossen. Ich habe sie nicht zu ihrer Heldentat beglückwünscht. Stattdessen habe ich mich von dieser unkontrollierten Angst überwältigen lassen. Ich setze mich auf die Couch, die sie so hochgemut erstürmt hat wie andere den Gipfel des Mont Blanc, und muss weinen. Es sind Tränen der Angst und Tränen unbändigen Stolzes. Ich beglückwünsche Azylis, indem ich sie fast ein wenig zu fest an mich ziehe. »Bravo, mein Liebling. Du kannst ja laufen!« Ja, sie läuft. Aber auch Thaïs ist gelaufen. Und doch …

WIR HABEN NICHT BEMERKT, WIE DIE ZEIT VERGING. Aber genau daran erkennt man eine gute Zeit. Der Monat August stürmte vorbei wie ein Windstoß. Mir ist, als wären wir erst gestern angekommen, aber wir müssen schon wieder packen, das Haus aufräumen und die Rückreise antreten. Die Kinder verabschieden sich mit dem Versprechen voneinander, sich möglichst bald wiederzusehen. Tränen fließen. Niemand freut sich über das Ende der Ferien.

Die Besatzung des Krankenwagens ist pünktlich. Es sind wieder dieselben Männer wie auf der Hinfahrt. Auf der Rückfahrt bleibt uns jeglicher Stress erspart, und nach wenigen Stunden setzt uns der Krankenwagen wohlbehalten vor unserer Haustür ab. Wir sind wieder daheim. Und die alten Gewohnheiten kehren schnell zurück.

Thaïs freut sich sehr über die ihr bekannten Krankenschwestern und ihren geliebten Physiotherapeuten. Und auch unsere Helfer sind glücklich, ihre kleine Patientin nach einem langen Trennungsmonat wiederzusehen. Trotz ihrer Freude spüre ich jedoch, dass ihnen die Veränderungen bei Thaïs nicht entgangen sind. Natürlich wissen auch wir, dass ihr Zustand nicht mehr so ist wie bei der Abreise.

In diesem Monat August blieben uns zwar die heftigen Ängste wie zu Pfingsten oder am vergangenen Weihnachtsfest erspart, aber es gab immer wieder kleinere Schreckmomente. Wenn zum Beispiel, ohne dass man einen Grund erkennen konnte, ihr Herzschlag plötzlich rascher wurde oder aussetzte, sie zu atmen aufhörte oder ein Fieberschub ihre Temperatur in schwindelerregende Höhen trieb. Jede Krise bedeutet Gefahr. Und Thaïs lässt sie nie ohne Spuren hinter sich. Inzwischen döst sie die meiste Zeit. Der Grund dafür ist leider nicht allein das Morphin. Ihre Lethargie verwandelt sich mehr und mehr in den Verlust von Bewusstsein. Die MLD attackiert zunehmend Thaïs’ Gehirn.

Ihre leichten Komaphasen führen bei mir zu ganz merkwürdigen Gefühlen. Auch wenn Thaïs so aussieht, als schlummere sie friedlich, spürt man doch, dass es sich nicht um einen normalen Schlaf handelt. In diesen Augenblicken geht eine ganz besondere Präsenz von ihr aus. Die Intensität ihrer unbewussten Anwesenheit ist so deutlich, dass sie uns dazu bringt, mit ihr zu reden und uns so zu verhalten, als wäre sie wach.

Ich bin immer sehr erleichtert, wenn Thaïs aus ihren komaähnlichen Tiefschlafphasen erwacht, weil ich oft fürchte, dass sie nie mehr munter wird. Im Dezember haben uns die Ärzte ihren unmittelbar bevorstehenden Tod verkündet. Inzwischen sind neun Monate vergangen, und Thaïs ist immer noch bei uns. Gaspard glaubt längst, dass seine Schwester unsterblich ist.

An Leukodystrophie erkrankte Kinder sterben häufig an Problemen mit der Atmung oder an Infektionen. Seit Weihnachten sind Thaïs solche Komplikationen erspart geblieben. Sie hat sich weder einen Virus noch auch nur die kleinste Erkältung eingefangen. Tief innerlich bin ich dennoch davon überzeugt, dass Thaïs den Weg ihrer Krankheit bis zum Ende gehen muss. Und ich hege den Verdacht, dass sich dieses Ende mit großen Schritten nähert.

MORGEN IST SCHULBEGINN. Gaspard hat seine Schulsachen vorbereitet, seine Stifte sortiert, seine Hefte geordnet und seine Schuluniform bereitgelegt. Jetzt steht eine Schultasche, gepackt für den großen Tag, in unserem Flur. Nur eine Schultasche. Denn Thaïs wird morgen nicht in die Vorschule gehen. Weder morgen noch irgendwann.

Morgen ist der Tag, an dem alle Kinder ihres Alters in die Vorschule eingeschult werden. Mutig werden sie an der Hand ihrer stolzen und ein wenig bewegten Eltern einen großen Schritt tun. Aber der Tag von Thaïs wird aussehen wie der heutige, wie der Tag davor und der vor diesem. Sie wird nicht aufstehen, sich nicht anziehen, nicht ihren kleinen Rucksack umhängen und nicht meine Hand umklammern, ehe sie das erste Mal ein Klassenzimmer betritt. Für sie gibt es morgen kein besonderes Ereignis. Ihr Leben wird bestimmt von der üblichen Abfolge aus Krankenschwestern, Physiotherapeuten und Lieferung von Sauerstoff und Nährlösung. Ihre ganz persönliche Routine.

Morgen wird Gaspard mit gesenktem Kopf zur Schule gehen – traurig, weil Thaïs nicht mit ihm zusammen den Schulbeginn feiert. Ich werde ihn vor sich hinmurmeln hören: Er rechnet aus, in welcher Klasse er ist, wenn Azylis bei den ganz Kleinen eingeschult wird. Und dann wird er sich wünschen, dass er der Grundschule noch nicht entwachsen ist, um wenigstens ein Schuljahr mit ihr an der gleichen Schule zu verbringen. Ich werde nicht wagen, ihm zu sagen, dass Azylis vielleicht nie in der Lage sein wird, zur Schule zu gehen. Ich sage nichts, weil die Zukunft von Azylis noch völlig im Dunkeln liegt. Warum sollte ich Gaspard seine Hoffnungen vorzeitig rauben?

Morgen wird Gaspard von dem Eingang seines neuen Schultrakts lange in meinen Armen weinen. Wie viele andere kleine Schüler auch. Aber nicht aus denselben Gründen. Er wird weinen, weil es ihn bedrückt, als Einziger aus der Familie zur Schule zu gehen. Während ich ihn zu trösten versuche, werde ich darüber nachdenken, wie schwer erträglich die Normalität sein kann, wenn sie zur Ausnahme wird.

Morgen wird mich Gaspard, ehe er mit zusammengebissenen Zähnen die Schule betritt, um etwas bitten: »Mama, könntest du meiner Klasse die Sache mit Thaïs und Azylis erklären? Bitte, Mama. Es ist besser, wenn du es tust. Dir werden die Kinder wenigstens glauben.«

Morgen wird unser Berg dem Himalaja gleichen. Nur höher wird er sein.