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Kate näherte sich dem Stanhope nur zögernd. Es war kein Treff-punkt nach ihrem Geschmack. Nur die »richtigen« Leute waren hier gern gesehen, und man hatte unweigerlich das Gefühl, daß es eine Ehre war, überhaupt hier geduldet zu werden. Kate lag es nicht, irgendwelchen Oberkellnern um den Bart zu gehen, um in den Kreis der erlauchten Gäste aufgenommen zu werden. Simon dagegen beherrschte die Kunst, Maîtres zu beeindrucken, offenbar bis zur Vollendung, denn als sie eintrat, entdeckte sie ihn an einem der be-vorzugten Tische. Während er sich erhob und ihr den Stuhl zurecht-rückte, sah er sie an, als sei er auf das Schlimmste gefaßt.
»Sie gucken mich an, als wäre ich drauf und dran, ein Kaninchen aus der Tasche zu zaubern«, sagte Kate schließlich.
»Gut beobachtet. Ich war aber eher darauf gefaßt, daß Sie gleich Ihren Vorschuß aus der Tasche ziehen und mir die Scheine wieder hinblättern.«
»Sie sind also auf etwas Dramatik vorbereitet?«
»Sollte ich das nicht?«
»Doch, in gewisser Weise schon. Lassen Sie mich Ihnen zuerst erzählen, was geschehen ist, und dann, wenn’s recht ist, komme ich mit Vergnügen auf den Vorschuß zurück, wenngleich nicht in bar.
Tut mir leid, wenn ich nicht genug Dramatik in meinen Auftritt lege.
Das Ganze ist dramatisch genug. Scotch und Soda«, sagte sie zum Kellner, »kleiner Scotch, großes Soda.«
»Für mich das gleiche«, bestellte Simon. »Das Soda bitte extra.
Und könnten wir etwas zum Knabbern haben?«
»Gewiß doch, Sir«, sagte der Mann, als hätte Simon ihm einen grundlosen Vorwurf gemacht. Wehmütig dachte Kate an das Café in Genf zurück, in dem sie und Nellie gesessen hatten und niemand sie beeindrucken, hetzen oder beschämen wollte. Aber war sie wirklich fair? Vielleicht projizierte sie nur ihr eigenes Unbehagen auf die Umgebung. Daß die Leute eher aus Statusgründen hierherkamen und kaum, um sich zu amüsieren, war unverkennbar. Kate hatte nie etwas davon gehalten, auf ein Vergnügen zu verzichten, es sei denn, aus den schwerwiegendsten Gründen, aber gewiß nicht wegen so etwas Nebensächlichem und Überflüssigem wie Status… Ohne ersichtlichen Grund spürte Kate plötzlich, daß alles gut laufen würde. Warum sollte Simon schließlich seinen Drink nicht im Stanhope ein-173
nehmen? Er wohnte um die Ecke, und spätnachmittags hier zu sitzen, war wirklich sehr angenehm.
»Wenn Sie fertig mit Tagträumen sind«, sagte Simon, »seien Sie doch bitte barmherzig und erlösen mich von meiner Qual. Sagen Sie einfach keine Biographie, falls das, wie ich fürchte, die schreckliche Nachricht ist. Erklären können Sie mir alles später. Hier ist Ihr Drink. Wenn Sie wirklich so schlechte Nachrichten haben, bestelle ich mir am besten gleich einen zweiten Scotch, einen doppelten, gemixt mit Alka Seltzer. Ist es so – keine Biographie?«
»Ganz recht. Keine Biographie. Aber ich hätte, wenn Sie wollen, ein sehr aufregendes Buch für Sie, dem ich eine kurze Biographie, genauer gesagt, ein biographisches Porträt hinzufügen könnte.« Kate griff zu ihrem Drink, fügte das Soda hinzu und nahm dankbar den ersten Schluck. »Es ist eine ziemlich lange Geschichte, fürchte ich.«
»Ich darf also davon ausgehen, daß Nellie wirklich alle Briefe zerstört hat – und damit auch Ihre Lust an einer Biographie über ihre Großmutter.«
Die gar nicht ihre Großmutter ist, wollte Kate schon sagen, hielt sich aber zurück. Sie hatte beschlossen, niemandem (außer Reed) etwas von den Geheimnissen zu erzählen, die sie erfahren hatte. Das war für sie ein unverrückbarer Teil des Abkommens. Die Wahrheit über Nellies und vielleicht sogar über Annes Vater würde womöglich eines Tages ans Licht kommen, aber Kate sah es nicht als ihre Aufgabe an, diese Geschichten in Umlauf zu bringen. Sie hatte einen Handel mit Anne abgeschlossen, und dabei sollte es bleiben: Sie würde Gabrielles Roman herausgeben, dazu eine (wie sie hoffte) gutgeschriebene, prägnante Biographie Gabrielles, und die Foxx-und Goddard-Ge-heimnisse in Frieden schlummern lassen. Diese zu lüften, blieb dem detektivischen Eifer einer anderen Generation überlassen.
»Erinnern Sie sich an die Papiere, die Gabrielle Anne anvertrau-te? Sie hat sie in einem Safe deponiert und dann vier Jahrzehnte vergessen.«
»Aber selbstverständlich! Schließlich war ich derjenige, der Ihnen Annes Memoir geschickt hat, oder sollte Ihnen das entgangen sein?«
»Simon, bitte, seien Sie nicht so empfindlich. Haben Sie etwas Geduld mit mir. Meine Geschichte wird nicht ewig dauern, aber ich muß sie auf meine Art erzählen.«
»Geduld ist mein Losungswort, geradezu mein Lebensmotto.«
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»Erfreut zu hören. Ich dachte immer, Geduld…«
»Kate, wenn Sie jetzt einen wissenschaftlichen Disput über Geduld anfangen sollten, und sei er noch so scharfsichtig, werde ich Sie auf der Stelle erwürgen, und dann bekomme ich nie wieder einen Tisch im Stanhope in der Fifth Avenue. Was geschah also mit Gabrielles Papieren, nachdem sie vier Jahrzehnte lang in irgendeiner verdammten Bank vor sich hingeschlummert hatten?«
»Die Bank war vollkommen in Ordnung.«
»Kate«, schrie Simon auf, die Gäste an den Nebentischen hoben die Köpfe und sahen ihn mit einer Mischung aus Neugier und Miß-
billigung an.
»Wir haben die Papiere aus der Bank geholt und in ein Haus in Highgate gebracht, das Anne mitsamt Katze gemietet hatte. Nachdem wir die Papiere aus der Versenkung geholt hatten, fanden wir eine sehr nette Taxifahrerin… aber ich glaube, den Teil überspringe ich lieber.« Kate lächelte Simon an, und er lächelte verzagt zurück.
»Die Papiere waren wild durcheinander, und wir brauchten fast eine Woche, um sie in irgendeine vernünftige Ordnung zu bringen. Nun, ich will Sie nicht auf die Folter spannen: Bei Gabrielles geheimnis-vollen Papieren handelt es sich um einen Roman, sozusagen das Gegenstück zu Emmanuel Foxx’ ›Ariadne‹. Daß wir überhaupt in der Lage waren zu entscheiden, wohin die einzelnen Seiten gehörten, war allein der Tatsache zu verdanken, daß Gabrielle ihren Roman, zumindest in groben Zügen, auf Foxx’ aufgebaut hatte. Sie hat ihre eigene Version der Ariadne-Geschichte aufgeschrieben, die Emmanuels Version widerspricht. Und wenn Sie jetzt noch wissen wollen, warum ich heute nachmittag hier sitze und diesen herrlichen Scotch trinke – nun, ich möchte Ihnen vorschlagen, daß ich den Roman herausgebe, und, falls Sie mit meinem Vorschlag einverstanden sind und das Buch herausbringen wollen, ein kurzes biographisches Porträt Gabrielles hinzufüge, das ich so elegant wie möglich abfassen werde. Außerdem habe ich meinen Vorschuß mitgebracht, werde Ihnen aber keine Scheine hinblättern, sondern, bar jeder Dramatik, einen Scheck. Falls Sie interessiert sind, werden wir wohl einen neuen Vertrag aufsetzen müssen, falls nicht, zerreißen Sie den alten einfach. Ich hoffe, Sie spielen jetzt nicht den pingeligen Geschäfts-mann und fuchteln nicht mit Paragraphen herum, obwohl ich natürlich zugebe, daß ich Sie in eine peinliche Situation gebracht habe.«
»Peinlich. Von allen Worten dieser Welt hätte ich genau das ge-wählt.«
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»Ich glaube wirklich, lieber Simon, daß Sie und Ihr Verlag mit diesem Roman sehr gut dastehen werden. Meiner – unmaßgeblichen
– Meinung nach wird er die bisherige Betrachtungsweise der klassischen Moderne auf den Kopf stellen. Er wird die Frage nach männlicher und weiblicher Sicht dieser literarischen Periode aufwerfen und aufzeigen, wie reaktionär und männerzentriert sie war. Er wird einfach Furore machen, das kann ich Ihnen versichern.«
»Ich muß das Ganze erst in unserer Lektoratssitzung vortragen, aber natürlich wollen wir den Roman veröffentlichen. Warum wollen Sie mir den Vorschuß überhaupt zurückgeben?«
»Weil wir eine völlig neue Abmachung treffen müssen. Die Tantiemen aus Gabrielles Roman gehen an Nellie und Anne. Für mein biographisches Porträt können Sie mir ein angemessenes Honorar zahlen, wenn Sie wollen, vielleicht sogar einen kleinen Tantiemen-anteil für Einleitung und Herausgabe – ganz, wie Sie es für angemessen halten. Wenn Sie mir darüber hinaus bei den Kosten für Recherchen, Tippen, Kopieren und dergleichen ein wenig unter die Arme greifen, würde ich das selbstverständlich begrüßen. Kommen wir also ins Geschäft – vorausgesetzt natürlich, Ihre Verlagsleitung ist einverstanden?«
»Sie haben mich überwältigt – aber doch nicht so sehr überwältigt, daß ich vollkommen ignorieren könnte, wieviel Informationen über Gabrielle sie haben und offenbar für sich behalten wollen. Es muß ja wohl einen Grund haben, wenn Sie den Plan einer vollständigen Biographie so schnell und so bereitwillig fallenlassen. Wir könnten doch Gabrielles Roman herausbringen und eine vollständige Biographie, was spräche dagegen?«
»Wir könnten«, sagte Kate. »Aber so viel möchte ich mir nicht aufladen. Und da alle Briefe verbrannt sind – auf welches dokumen-tarische Material sollte ich zurückgreifen? Wer Gabrielle in Wirklichkeit war, was sie dachte und worin – neben ihrer Rolle als Emmanuels Frau – ihr Leben eigentlich bestand, das wird aus ihrem Roman ersichtlich. Wissenschaftler und Biographen werden ihr Leben in Zukunft nach diesem Roman rekonstruieren. Simon, bitte nehmen Sie den Scheck, bestellen Sie uns noch einen Drink, und finden Sie so schnell wie möglich heraus, ob Ihr Verlag Gabrielles Roman machen will.«
»Kate, niemand gibt einen Vorschuß zurück, es sei denn nach langwierigen Gerichtsverhandlungen oder durch höhere Gewalt. Im Gegensatz zu meinem früheren Rat fürchte ich, Sie brauchen wirk-176
lich einen Agenten. Behalten Sie den Vorschuß wenigstens so lange, bis wir wissen, woran wir sind. Sie haben Leute befragt, sind gereist, haben viel Zeit aufgewendet. Wir wollen jetzt nicht über Geld sprechen, sondern lieber über den Zeitplan für die Veröffentlichung.«
»Ich will versuchen, die Editionsarbeit in einem Jahr zu schaffen und danach sofort das Porträt zu schreiben, falls Sie es haben wollen.
Ich bin übrigens schnell.«
»Was mir nicht entgangen ist. Aber es ist eine Menge Arbeit für ein Jahr.«
»Gut, sagen wir zwei Jahre. Wenn wir uns einig sind, fange ich sofort an und bleibe ohne Unterbrechung dran. Falls Sie den Roman haben wollen…«
»Hören Sie endlich mit Ihrem falls auf. Natürlich will ich den Roman! Aber über Geld müssen wir noch einmal ernsthaft reden.
Besorgen Sie sich unbedingt einen Agenten! Ich käme mir sonst vor wie ein Schwindler, der eine arme Witwe um ihre letzten Spargro-schen bringt.«
»Ich bin nicht naiv«, sagte Kate, »auch wenn ich bei passender Gelegenheit recht bescheiden sein kann. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich möchte sichergehen, daß Nellie und Anne die Tantiemen bekommen, und wenn ich recht verstehe, wird ein Vorschuß mit den Tantiemen verrechnet. Sie müßten also den Vorschuß an Anne und Nellie zahlen, was ein bißchen merkwürdig wäre. Mir ist klar, daß die Situation ungewöhnlich ist: Ich habe dafür ein besonderes Talent.
Simon, wichtig ist im Augenblick nur, ob Sie dieses Buch wollen oder nicht! Ich finde, allein die Tatsache, daß Anne Ihnen das Memoir geschickt hat, ist doch schon ein Omen dafür, daß Sie der Richtige sind. Und Dorindas Informationen nach steht der Verlag auf sehr gesunden Füßen, und Sie sind in Ordnung.«
»Wann bekomme ich den Roman in seiner jetzigen Form zu lesen?«
»Wenn der Vertrag unterzeichnet und alles geklärt ist. Mit anderen Worten: Bei dem Ärger, den Anwälte machen – einerseits, um selbst auf ihre Kosten zu kommen, andererseits, um ihren Mandanten abzusichern –, wahrscheinlich in ungefähr sechs Monaten. Aber wenn Ihr Entschluß feststeht, fange ich gleich an. Schließlich gebe ich den Roman nicht für einen Verlag, sondern für Gabrielle heraus.«
»Das war die perfekte Abgangszeile«, sagte Simon. »Aber gehen Sie noch nicht! Erzählen Sie mir mehr über Nellie und Anne und Dorinda. Haben Sie Dorinda kennengelernt?«
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»Ich habe sie alle drei kennengelernt«, sagte Kate. »Sie sind wie ein Bund guter Hexen, falls Sie sich darunter etwas vorstellen können. Alle drei in den Sechzigern, und ich ertappe mich ständig dabei, wie ich in ihnen junge Frauen sehe. Nicht wegen ihres Aussehens, sondern ihre ganze Art, ihre Lebendigkeit und Vitalität sind der Grund. Mir kommt es vor, als hätten sie die Freude der Jugend entdeckt, als diese ihnen keine Fesseln mehr anlegte, sondern sie wirklich jung sein ließ.«
»Das war eine herrliche Fansler-Bemerkung, voller Tiefgründigkeit, die entweder überhaupt keinen Sinn ergibt oder sehr viel. Nun, ich verstehe, was Sie meinen. Ist das der Grund, warum die drei, oder vielmehr Anne, plötzlich beschlossen, Gabrielles Roman nach all den Jahren aus der Versenkung zu holen?«
»Sie wollten den richtigen Moment in der Geschichte der Moderne abwarten«, sagte Kate. »Und nachdem ich mich mit mehreren Kollegen darüber beraten habe, glaube ich, sie haben ihn genau getroffen.«
»Ich glaube eher, die drei haben auf Sie gewartet«, sagte Simon.
»Ich tauchte nur zufällig am Horizont auf, als sie einen Herausgeber suchten«, sagte Kate, »und ich war sowieso auf der Suche nach neuen Abenteuern. So, wie Sie gerade nach einem guten neuen Buch Ausschau hielten. Wir beide haben nur zunächst mißverstanden, worauf wir uns einließen.«
Der Kellner erschien, und Simon bestellte noch eine Runde, ver-zichtete aber auf das Alka Seltzer. Er sieht aus, dachte Kate, wie jemand, der auf der Straße Geld gefunden hat und nicht recht weiß, was er damit anfangen soll. Nein, eher sah er noch wie jemand aus, der ein Geschenk bekommen hat und sich nicht ganz sicher über die Folgen ist, wenn er es annimmt. Im großen und ganzen, fand Kate und lächelte ihn an, sah er aber recht zufrieden aus.
Und das war er auch. Als alle Vereinbarungen getroffen, noch einmal überdacht, abgeändert und schließlich bis ins kleinste geregelt waren und die Verträge vor Kate auf dem Schreibtisch lagen, begriff sie, daß es ernst wurde: Jetzt mußte sie sich an die Arbeit machen, die sie sich und Simon eingebrockt hatte. Aber auch die drei guten Hexen Dorinda, Anne und Nellie hatten ihr das eingebrockt, hatten sie mit äußerster Geschicklichkeit dahin manipuliert.
Aber ehe sie sich in die Arbeit stürzte, hatte Kate vor, ein langes Gespräch mit allen dreien zu führen – ein Gespräch, das für Kate das Ende vom Anfang des ganzen Unternehmens markieren würde.
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Sie hatte alle drei in ihre Wohnung zitiert (eingeladen wäre das höflichere, allerdings weniger zutreffende Wort gewesen). Nellie war nicht nur wegen dieses Treffens und eines Wiedersehens mit dem Rest des Triumvirats nach New York gekommen, sondern auch, um mit Simon Pearlstines Verlag und Kate die Verträge für die Ver-
öffentlichung von Gabrielles Roman zu unterzeichnen. Heutzutage schien im Verlagsgeschäft und auch überall sonst rein gar nichts ohne Verträge zu geschehen, durch die jede vorstellbare und unvorstellbare Eventualität abgedeckt war, angefangen vom Tod bis hin zu plötzlicher Unlust. Die von Dorinda rekrutierten Anwälte Annes und Nellies hatten strengste Auflagen zur Werbung für Gabrielles Buch durchgesetzt, und auf den Rat eines weiteren Anwalts hin hatte Kate darauf bestanden, daß Buchumschlag, Klappentext und die Anzeige im Verlagsprospekt ihre Zustimmung brauchten.
Wenn man Kates Studenten zum Maßstab nahm, verspürten kluge junge Leute offenbar immer noch den Wunsch, ins Verlagswesen zu gehen, obwohl die Arbeit dort unterbezahlt war und im Grunde künstlerische oder literarische Interessen weniger wichtig waren als geschäftliche. Nach ihren eigenen jüngsten Erfahrungen hatte Kate beschlossen, ihren Studenten zu raten, doch lieber ein Buch herauszugeben. Dabei lernte man zweifellos mehr über die Tücken und Mechanismen des Verlagsgeschäfts, denn als Assistent in irgendeiner Abteilung für Nebenrechte.
Alle drei – Dorinda, Anne und Nellie – waren damit einverstanden, zu Kate zu kommen und sich in deren Wohnzimmer ihre Lieb-lingsgetränke kredenzen zu lassen. Was das Zuhause der drei betraf, zog Kate es auch weiterhin vor, in Unkenntnis zu schweben. Außerdem konnte sie in ihrer eigenen Wohnung besser Regie führen und die Dramaturgie des Treffens selbst bestimmen. Daran lag ihr viel, denn sie mußte die drei dazu bringen, noch einmal über die Vergangenheit zu sprechen, und zwar so, daß Kate wirklich alles erfuhr, was es zu erfahren gab. Danach würde sie alles vergessen und sich in die nächste Phase ihres Lebens stürzen, die Herausgabe von Gabrielles Roman.
Die drei kamen gleichzeitig. Kaum daß sie eingetreten war, schwatzte Dorinda drauflos: Die beiden anderen waren stiller – so war es wohl schon in ihrer Jugend gewesen, dachte Kate. Anne und Nellie hatte sie recht gut kennengelernt – bewunderte und mochte sie und freute sich darüber, daß sie ihr, Kate, eine Rolle in ihrem Leben und in ihren Plänen zugedacht hatten. Dorinda kannte sie weniger 179
gut, fühlte sich aber spontan stärker zu ihr hingezogen. Sie verstand Dorindas Leben. Mochte es sich auch in ein oder zwei Aspekten noch so sehr von ihrem eigenen unterscheiden – in Kates Familie hatte niemand etwas auch nur halb so Interessantes getan, wie einen berühmten Schriftsteller zu heiraten (in ihrem Clan tat man gar nichts Interessantes, außer, das mußte Kate zugeben, daß man viel Geld machte, was für die Mitglieder ihrer Familie als einziges zählte und auch für sie selbst nicht ganz uninteressant war, denn sie konnte es schließlich ausgeben, wofür sie es wollte) –, außer ein oder zwei Aspekten also, war Dorinda ähnlich aufgewachsen wie Kate – nur eine Generation früher. Und Kate wußte, wie lähmend und entsetzlich das Leben dieser Frauengeneration gewesen war. Aber Dorinda war aufgewacht: Und war dieses Aufwachen auch recht spät geschehen, so hatte die plötzliche Erkenntnis dessen, was wirklich zählte im Leben, bei ihr wie bei Kate zu ungefähr dem gleichen Zeitpunkt im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts eingesetzt. Wie so viele vitale Frauen hatte Dorinda als junges Mädchen vor Leben gesprüht und war dann viele Jahre lang in einen Dornröschenschlaf gefallen, war in ihrer Rolle als Sexualobjekt, Mutter, Gastgeberin und Hausfrau aufgegangen und hatte ihr Selbst erst jetzt wieder auferstehen lassen.
Kate glaubte an die Wiedergeburt von Frauen, und Dorinda war ein seltenes und wundervolles Beispiel.
»Bier für Anne«, sagte Kate, die sich vorerst an die wesentlichen Dinge des Lebens halten wollte. »Sherry für Dorinda. Und Nellie, was möchten Sie? Oder haben alle inzwischen ihre Vorlieben geändert?«
»Wir haben eine Flasche französischen Champagner mitgebracht«, verkündete Dorinda und holte sie aus ihrer riesigen Lederta-sche. »Echten französischen«, versicherte sie, so als ob Champagner die Angewohnheit hätte, heimlich in anderen Ländern aufzutauchen.
»Wir wollten gern auf Gabrielles Roman anstoßen und auf Sie, Ka-te.«
»Für Champagner ist es noch zu früh«, sagte Kate und nahm Dorinda die Flasche ab. »Sosehr ich das herrliche Zeremoniell, Erfolge mit Champagner zu begießen, schätze – wir müssen noch einige Dinge klären. Ich stelle die Flasche in den Kühlschrank, damit sie schön kalt ist, wenn der richtige Moment kommt – falls er kommt.
Und in der Zwischenzeit – was möchten Sie gern trinken?«
»Aber ich dachte, alles sei geregelt«, sagte Dorinda und ließ sich wie ein aus einem Flugzeug abgeworfenes Paket auf die Couch 180
plumpsen. »Für mich Sherry wie immer. Ich dachte, wir feierten Gabrielles Roman, den Sie zusammen mit dem biographischen Porträt herausgeben. Können wir das denn nicht?«
»Nicht ganz«, sagte Kate. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Bier, An-ne?«
»Seit der Zeit in unserem Hampstead-Pub bin ich ziemlich von Bier abgekommen«, sagte Anne. »Nach einem gutgezapften englischen Bitter schmeckt einem einfach kein Flaschenbier mehr – jedenfalls eine Weile nicht. Haben Sie Weißwein?«
»Also Weißwein«, sagte Kate. »Und was das frischgezapfte Bitter betrifft, gebe ich Ihnen völlig recht. Genau darauf hätte ich in diesem Augenblick Lust. Und Sie, Nellie? In Genf haben wir immer nur Kaffee getrunken.«
»Für mich bitte auch einen Weißwein«, sagte Nellie, die neben Dorinda auf der Couch saß. Anne folgte Kate in die Küche, um ihr mit den Getränken zu helfen.
»Mir ist gerade etwas Lustiges aufgefallen«, sagte Anne, während sie Flaschen und Gläser auf ein Tablett stellte. »Als wir jung waren, sah Dorinda viel besser aus als ich. Aber jetzt, wo wir beide alte Frauen sind, hat sich der Unterschied verwischt. Das liegt bestimmt daran, daß wir uns keine besondere Mühe gegeben haben, für alle Ewigkeit jung zu erscheinen. Aber Dorinda ist natürlich schlanker, das hat sie mir voraus.«
»Schlankheit ist einem entweder mit den Genen gegeben oder das Ergebnis enormer Anstrengungen«, sagte Kate. »Darüber würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Sie sehen beide wundervoll aus, wenn ich Ihnen das sagen darf.«
»Danke. So fühlen wir uns auch. Ist das nicht erstaunlich?« Kate und Anne kehrten ins Wohnzimmer zurück und setzten sich in die Sessel rechts und links von der Couch.
»Fehlt nur noch die Katze«, sagte Anne.
»Zwei Seelen, ein Gedanke«, sagte Kate. »Gerade dachte ich, daß eigentlich Lavinias Katze jetzt hier sein müßte. Für mich war sie wie eine Verbündete. Empfinden Hexen ihre Katzen nicht auch so?«
»Sind wir denn Hexen?« fragte Dorinda. »Wie witzig!« Nellie und Anne schauten verblüfft.
»Nur von der allerbesten Sorte«, sagte Kate. »Wie der Sirup der Haselmaus. Diese ganze Geschichte hatte von Anfang an etwas von Alice im Wunderland. Vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge glauben, durch Spiegel gehen… Vielleicht verstehen Sie, 181
worauf ich hinauswill.«
»Auf das Verwirrspiel mit unseren Vätern?« sagte Dorinda. Die anderen beiden konzentrierten sich schweigend auf ihre Weingläser.
Kate wurde plötzlich klar, daß natürlich Dorinda die Anführerin war, diejenige, die alles eingefädelt hatte, so wie sie schon früher alles eingefädelt hatte. Wer wessen Vater war, hatte keine Rolle gespielt, sondern nur Dorindas Wunsch, daß Anne und später Nellie mit ihr zusammenlebten. Und dieser Wunsch war so viele Jahre später wieder in ihr erwacht – als sie Anfang Fünfzig war, wohl kurz nach ihrer Begegnung mit Mark Hansford.
»Ja, es gab eine Menge Geheimnisse«, sagte Nellie. »Und verbrannte Briefe. Ich weiß, daß Sie mir das übelnehmen. Aber wahrscheinlich stand gar nichts Wichtiges darin. Gabrielle wollte einfach reinen Tisch machen. Weil nicht ihre Briefe ihr wahres Selbst enthüllten, sondern ihr Roman.«
»Bleibt die Frage«, sagte Kate und sah Nellie an, »warum Sie bei unserer ersten Begegnung davon sprachen, daß ich Detektivin bin.
Und ich bin eine, wenn auch nur eine literarisch inspirierte Amateu-rin. Haben Sie davon gesprochen, weil Sie wollten, daß ich die Detektivin in mir verleugne und mich nur auf Gabrielles Manuskript beschränke?«
Anne sprach: »Nellie meinte, daß es einer detektivischen Spürna-se bedürfe, um hinter die Reihenfolge von Gabrielles Papieren zu kommen. Und damit hat sie ja recht behalten. Sind übrigens nicht alle Gelehrten im Grunde Detektive? Irgendwo habe ich das einmal gehört.«
»Was hat Sie drei so viele Jahre nach Gabrielles Tod wieder zusammengeführt?«
»Ich begann, mein Leben zu überdenken«, sagte Dorinda. »Ausgerechnet dieser schreckliche Mark Hansford hat das alles in Gang gesetzt, so sehe ich es zumindest heute. Nachdem Arthurs Bann erst einmal gebrochen war, fühlte ich mich von Tag zu Tag stärker, frei-er. Ich besann mich wieder auf meine Jugend, auf Anne und Nellie.
Wir erneuerten unsere Freundschaft. Kann ich noch einen Sherry haben?«
Kate schenkte ihr ein. »Und als Sie drei wieder öfter miteinander sprachen, war das der Zeitpunkt, als Sie beschlossen, Gabrielles Papiere auszugraben?«
»Nicht gleich«, sagte Nellie. »Wir brauchten eine Weile, bis wir uns wieder so nahe waren, daß wir auch über die Vergangenheit 182
sprechen konnten, über unsere Väter und all das.«
»Also erst, nachdem Emile tot war«, sagte Kate. »Erst dann konnten Sie gefahrlos über Gabrielle, Emile und alles andere sprechen. Erst dann haben Sie, Dorinda, Ihrer Mutter die Wahrheit über Nellies Vater gesagt und Eleanor hat Ihnen anvertraut, wer Annes Vater war. Haben Sie Ihrer Mutter auch den Rest erzählt, Dorinda?
Haben Sie darauf vertraut, daß sie es mir verschweigen würde? Oder hofften Sie, sie würde es mir erzählen?«
»Ihnen was erzählen?« fragte Dorinda wenig überzeugend.
»Antworten Sie mir bitte«, sagte Kate. »Wußte Eleanor Bescheid?«
»Ja«, sagte Dorinda mit einem fatalistischen Seufzer. Sie tauschte Blicke mit den anderen beiden. »Meine Mutter wußte es. Sie meinte, wir sollten Ihnen alles erzählen, nur das eine nicht. Sie ist daran gewöhnt, Geheimnisse zu wahren. Aber ich wollte ihr die Chance geben, Sie kennenzulernen und selbst zu entscheiden, wieviel sie Ihnen erzählen wollte. Sie mag Sie sehr, Kate, aber sie meinte, das sei eine Sache, die niemanden etwas angehe. Und wir beschlossen, daß nie jemand davon erfahren sollte.«
»Nähern wir uns dem Champagner?« fragte Nellie. »Ich möchte nicht ungeduldig erscheinen, aber ich würde gern auf Kates Herausgabe von Gabrielles Manuskript anstoßen und mich dann wieder meinen eigenen Angelegenheiten widmen. Und Dorinda und Anne geht es sicher ebenso. Ich habe das Gefühl, Gabrielle hat uns einen kleinen Schubs gegeben, damit wir uns endlich um unsere eigene Zukunft kümmern. Ich versuche gerade, einen Job bei den UN zu bekommen und will nach New York zurück.«
Sie wollten, daß alles unausgesprochen blieb. Aber Kate wußte, daß es ausgesprochen werden mußte. Leichen kann man nicht einfach links liegenlassen: Man muß sie ordentlich verbrennen und die Asche in alle Winde verstreuen. Mit Ideen war es genauso.
»Hat Gabrielle es Ihnen in London gesagt, damals, als Sie die Papiere mitnahmen, oder schon am Tag davor, Anne? Hat sie gesagt, sie hätte Emmanuel getötet? Oder hat sie Ihnen die Wahrheit erzählt: daß Emile seinen Vater ermordet hat? Oder hat sie etwa überhaupt nicht davon gesprochen?«
Anne wußte, daß der Moment der Wahrheit gekommen war. »Sie hat es mir erzählt. Ich sollte es Nellie verschweigen, überhaupt niemandem davon erzählen, sondern nur ihre Papiere in Sicherheit bringen. Und mich habe sie nur eingeweiht, sagte sie, damit ich Emiles 183
Unschuld bezeugen könnte, falls er je verdächtigt würde.«
»Sie wußte also, daß Emile noch lebte?«
Nellie ergriff das Wort. »O ja. Gabrielle hatte schon lange, ehe mein Großvater starb, Angst, Emile könnte irgend etwas Unberechenbares tun. Das war der Grund, warum sie mich drängte, bei den Goddards zu leben und Eleanor bat, mich nach Amerika zu holen.
Sie erklärte Eleanor nicht, warum, wußte aber, daß Eleanor alles arrangieren würde. Und wie ich Ihnen schon in Genf erzählte, wollte ich selbst unbedingt fort. Die Atmosphäre zu Hause war Gift, schon ehe Emile sich der Résistance anschloß, schon ehe Großvater starb.«
Kate sagte: »Und Sie haben wirklich niemandem davon erzählt, Anne? Einfach die Papiere in dem Safe deponiert und versucht, das Ganze zu vergessen?«
»Schließlich sprach ich mit Eleanor. Ich mußte einfach mit irgend jemand reden. Eleanor hat nicht mit der Wimper gezuckt, als sie die Geschichte hörte. Und sie übernahm einen Teil der Safegebühren, die wirklich sehr hoch waren. Sie meinte, ich solle mich Nellie und Dorinda anvertrauen, die beiden würden mir eine Stütze sein. Ich zögerte eine Weile, aber dann folgte ich ihrem Rat, der so gut war wie alle ihre Ratschläge.« Anne lächelte die beiden an.
»Wie haben Sie es erraten?« fragte Dorinda. »Ich dachte, wir hätten Ihnen so viele Geheimnisse geboten, daß Sie keine weiteren für möglich halten würden.«
»Als ich mich auf den steinigen Pfad der Detektivarbeit begab, lernte ich eine Lektion sehr schnell: Wenn ein Bursche sagt, achten Sie unbedingt auf den Hut, dann muß man auf den Punkt gucken, von dem er ablenken will. Denn da liegt der Hase, oder wenn Sie so wollen, das Kaninchen im Pfeffer. Es ist nicht im Hut, sondern in der Hand, die der Bursche hinter dem Rücken hält.«
»Es wäre also gescheiter gewesen, wir wären Ihnen mit überhaupt keinem Kaninchen gekommen.«
»Viel gescheiter. Hätten Sie mir von Anfang an klar gesagt, worum es Ihnen geht, nämlich das Ausgraben von Gabrielles Schriften, hätte ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach sofort darauf gestürzt.
Aber wie Sie sehen, stürze ich mich ja auch jetzt noch darauf. Es hat also keine große Rolle gespielt.«
»Ich weiß genau, was Sie meinen«, sagte Dorinda. »Schon als kleines Mädchen konnte ich es nicht haben, wenn irgendwo ein loser Faden herausguckte. Ich mußte immer so lange daran ziehen, bis ich ihn in der Hand hatte. Wenn nirgends Fäden herausgucken, mache 184
ich mir auch weiter keine Gedanken. Daran hätte ich denken sollen, als wir unsere schlaue Strategie ausheckten.«
Kate sagte: »Es gibt nicht viele Familien, in denen gleich zwei Kinder auf der falschen Seite der Bettdecke geboren werden, wie es in den alten englischen Romanen so schön heißt, und die dazu noch einen Mord zu verbergen haben.«
»Armer Emile«, sagte Nellie. »Ich glaube, als er erfuhr, daß er nicht mein Vater ist – Hilda oder Emmanuel müssen dafür gesorgt haben, daß er es erriet –, brachte das für ihn das Faß zum Überlau-fen. Sein Haß auf seinen Vater wurde abgrundtief.«
»Wer wollte da nicht vor Freud den Hut ziehen«, sagte Kate,
»was ich normalerweise nicht so leicht tue, wenn es um Familien-dramen geht. Aber wenn hier nicht der Ödipus-Komplex grüßen läßt!
Glauben Sie, Gabrielle hat Emile geholfen?«
»Nein. Sie hat wahrscheinlich versucht, ihn zurückzuhalten«, sagte Nellie. »Aber sie wußte ja nicht genau, was er im Schilde führ-te. Er hat ihr nichts gesagt, jedenfalls nicht mit eindeutigen Worten.
Ich vermute, Emile hat seinen Vater langsam vergiftet; deshalb glaubten alle, Emmanuel sei krank. Das Essen war damals knapp, alles schmeckte schlecht, irgendwie verdorben, und wir aßen, was wir kriegen konnten, egal, wie es schmeckte. Schließlich war Krieg.
Aber Emile wußte, daß Gabrielle ihn decken würde. Und in den Kriegswirren war es leicht für Emile, unterzutauchen und alle Welt glauben zu lassen, er sei in der Résistance den Heldentod gestorben.
So viele Menschen starben damals. James Joyce und Virginia Woolf, Tausende junger Männer fielen, und zahllose Menschen kamen bei den Bombenangriffen um. Einfach ein Toter mehr zu beklagen!«
Anne sagte: »Wir beschlossen, Emiles Tod abzuwarten, bevor wir über Gabrielles Papiere sprachen. Wir glaubten zwar nicht, daß darin etwas über Emile stand. Warum hätte sie über ihn schreiben sollen, wo es ihr doch so wichtig gewesen war, alle Briefe und persönlichen Aufzeichnungen zu verbrennen? Aber Nellie wollte es so –
sie wollte Emiles Tod abwarten. Und auch Eleanor riet uns dazu.«
Dorinda sagte: »Wir waren sehr beeindruckt, daß Emile sich mit Nellie traf. Wir fanden, das war seine Art, sich zu ihr zu bekennen, auch wenn sie nicht seine Tochter war.«
»Wann beschlossen Sie, Ihr Memoir zu schreiben?« fragte Kate Anne.
»Nachdem wir lange miteinander gesprochen hatten und alle die ganze Wahrheit wußten. Aber ich fand es leichter, die Geschichte so 185
zu erzählen, wie ich sie all die Jahre, bis zu Gabrielles Tod, gesehen hatte. Es war nicht die ganze Wahrheit, aber die Wahrheit, die für mich den größten Teil meines Lebens gegolten hatte, und ich wollte sie festhalten. Dorinda war der Meinung, das würde auch helfen, die Leute für Gabrielle zu interessieren, was natürlich stimmte. Das Ganze niederzuschreiben, war wirklich ein Segen für mich, eine Art Läuterung, wie sie angeblich in einer Psychoanalyse oder Therapie geschieht.«
»Das gleiche behauptete Virginia Woolf über ihre Erfahrung, als sie ›Die Fahrt zum Leuchtturm‹ schrieb«, sagte Dorinda. »Es muß nicht die Wahrheit sein, die man niederschreibt, auf die eigene Vision der Wahrheit kommt es an«, fügte sie hinzu und sah Anne an.
»Wir alle haben eine Vision unserer Zukunft«, sagte Nellie. »Ich habe nie an Freundschaften geglaubt, die von der Kindheit an das ganze Leben hindurch unverändert fortbestehen, so wie ich auch nicht an sehr lange Ehen glaube, in denen sich nichts verändert. Viel wichtiger ist es, einander immer wieder neu zu entdecken. Es fällt mir schwer, mich richtig auszudrücken, aber wir drei wollten nicht bei unserer gemeinsamen Jugend anknüpfen. Wir wollten gemeinsam nach vorn denken. Gibt es eigentlich ein Wort für das Gegenteil von erinnern? Die Kindheit wird weit überschätzt. Ich glaube, wenn man fünfzig ist, hat man die Chance, der Kindheit zu entrinnen und damit all ihren Schrecken. Wir jedenfalls sind ihr entkommen, als wir fünfzig waren.«
»Ich hole den Champagner«, sagte Kate. Sie sah die drei sechzigjährigen Frauen an – reife Frauen, die nicht mehr Gefangene ihrer Vergangenheit waren, ohne ihre Kindheit verloren zu haben. Für sie, wie für Gabrielles Roman, zählte die Zukunft. Und noch mehr als die Zukunft zählte die Gegenwart.
»Nein«, sagte Kate zu Anne, die sich erhoben hatte. »Helfen Sie mir nicht. Jetzt möchte ich Ihnen allen dreien den Champagner kredenzen, und dann trinken wir auf uns vier und auf Gabrielles Roman!«
Sie ging aus dem Raum und überließ es den dreien, sich anzulä-
cheln und auf die Zukunft zu freuen.
Und welche Freuden brachte die Zukunft ihr? Nun, das aufregende Abenteuer, Gabrielle wieder zum Leben zu erwecken, so wie Gabrielle Ariadne wieder zum Leben erweckt hatte. Emmanuel Foxx hatte seinen Triumph gehabt. Niemand würde je erfahren, daß sein Sohn ihn umgebracht hatte, und wahrscheinlich würde auch niemand 186
sein Genie in Zweifel ziehen. Dennoch gab es jetzt auch Gabrielles Vermächtnis, das sein literarisches Testament in Frage stellte, an ihm rüttelte.
Kate hatte das Gefühl, als sei ihr eine seltene Chance vergönnt, einer jener Momente, die all die verpaßten Gelegenheiten, die halb-herzig errungenen literarischen Erfolge, die Niederlagen im Kampf mit der Bürokratie und kleingeistigen, der Vergangenheit verhafteten Männern wieder ausgleichen. Der Moment würde nicht andauern, aber solange er währte, wollte sie ihn genießen. Sie hatte Dorinda die ganze englische Literatur als Geschichte der zweiten Chancen dargestellt. Und hier war also ihre zweite Chance, und Gabrielles und Ariadnes.
Die Champagnerflasche, der Eiskübel und die vier hohen Gläser machten das Tablett schwer, aber Kate balancierte es leichtfüßig zu den drei wartenden Frauen, wie eine Gabe an die Götter.
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