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Spät in jenem Jahr Ende der Achtziger, Weihnachten und das Semesterende rückten allmählich näher, spürte Kate Fansler, wie sie in ein Loch zu fallen drohte. Ihr Buch über Henry James und Tho-mas Hardy, für das sie, wie bei wissenschaftlichen Werken üblich, viel länger als vorgesehen gebraucht hatte, war endlich erschienen und mit großem Beifall aufgenommen worden. Nur das ›Times Lite-rary Supplement‹ hatte, wie nicht anders zu erwarten, anstelle einer fundierten Kritik die üblichen schnippischen Bemerkungen über die
»amerikanische Forschungsweise« von sich gegeben. Ungefähr vier Monate hatte Kate im Zustand höchster Erleichterung verbracht, ihren Schreibtisch aufgeräumt und den hohen Berg seit Monaten unbeantworteter Post abgetragen und auch gleich die neueren Briefe, zumeist Reaktionen auf ihr Buch, beantwortet. Diese Phase des Mü-
ßiggangs hatte zwar ihre Vorteile, verlor aber allmählich an Reiz.
Kate wurde sich plötzlich mit sehr widersprüchlichen Gefühlen be-wußt, daß sie nie mehr ein literaturwissenschaftliches Werk veröffentlichen wollte. Unglücklicherweise hatte sie aber auch keinerlei Lust, »ihr Herz zu befragen und dessen Ergüsse festzuhalten«, wie die Muse es dem Dichter befiehlt. Sie kannte viele Frauen und Männer, die der Literaturwissenschaft den Rücken gekehrt hatten und nun über ihr Leben und ihre persönlichen Erfahrungen schrieben.
Die Ergebnisse solcher Innenschau las Kate zwar geradezu zwang-haft und mit großem Interesse und war immer wieder verblüfft über den Aha-Effekt, den diese Lektüre ihr vermittelte. Sie selbst verspür-te jedoch weder Wunsch noch Neigung, es diesen Leuten gleichzu-tun. Literarische Studien kamen also ebensowenig in Frage wie eigene Memoiren. Würde ihr je wieder ein neues Projekt einfallen?
In diese Ziel- und Ratlosigkeit platzte der Cheflektor eines der sechs den Buchmarkt beherrschenden Verlagshäuser. All diese Verlage gehörten riesigen Konzernen, deren Hauptprodukte Öl, Autos und Gottweißwas waren, was die Konzernleitungen aber, wie man hörte, nicht davon abhielt, sich auch bei der kleinsten verlegerischen Entscheidung das letzte Wort vorzubehalten. Bisher hatte Kate mit diesen Verlagen nichts zu tun gehabt.
Der Cheflektor hieß Simon Pearlstine und überraschte Kate mit einer Einladung zu einem sehr teuren und ausgiebigen Lunch – eine bemerkenswerte Geste von jemandem, den sie weder kannte noch je 7
von ihm gehört hatte. Aber wie sich bald herausstellte, hatte er von ihr gehört.
»Von vielen Leuten«, versicherte er, als sie zu ihrem Tisch ge-führt wurden. »Sie haben einen beachtlichen Ruf in der akademischen Welt. Möchten Sie einen Drink? Ich darf tagsüber nicht mehr trinken, aber tun Sie es, bitte.«
»Sie«, sagte Kate, »werden Sodawasser mit Limone, ein Salat-blatt und koffeinfreien Kaffee zu sich nehmen. Ich werde einen Wodka-Martini mit Eis und Zitrone genießen und das, was der Kellner empfiehlt.« Nicht der Kellner, sondern jemand eindeutig weiter oben in der Hierarchie nahm ihre Bestellung entgegen und war entzückt, der »gnädigen Frau« ein Gericht zu empfehlen, das, wie er Kate versicherte, ein wahres Meisterwerk sei. Kate war, so damenhaft sie konnte, einverstanden. Keine Frage, Mr. Pearlstine wollte etwas von ihr, und Kate war entschlossen, es sich gutgehen zu lassen, bis er damit herausrückte. Zum Hauptgang wählte sie einen Beaune und lehnte sich genüßlich zurück, um Mr. Pearlstines Anliegen zu hören, das sie, da war sie sich sicher, ablehnen würde.
Während sie ihren exquisiten Martini trank, kam Simon Pearlstine langsam zur Sache.
»Was wissen Sie von Emmanuel Foxx?« fragte er.
»Was jedermann weiß, vielleicht ein bißchen mehr – das liegt an meinem Beruf«, antwortete Kate und fragte sich, warum er ein Quiz mit ihr veranstaltete. Nun, es waren seine Zeit und sein Spesenkonto.
»Ich halte Vorlesungen über den englischen Roman«, fügte sie hinzu, um ihre unbescheidene Bemerkung zu erklären.
»Und was halten Sie von ihm?«
»In welchem Sinne?« fragte Kate, erwog einen zweiten Martini, beschloß dann aber, lieber auf den Beaune zu warten. »Er ist ein Romancier ersten Ranges; so nennen wir das, wenn ein Schriftsteller die Literaturwissenschaft zu endlosen Forschungen inspiriert hat. Er gehört zur klassischen Moderne, steht ganz oben, neben Joyce, Lawrence, Woolf und Conrad und wird auf lange Sicht wahrscheinlich einflußreicher sein als alle anderen, außer Joyce und Woolf.
Vor zwei Dekaden hätte ich noch Conrad und Lawrence gesagt, aber heute nicht mehr. Wie ausführlich soll denn die Vorlesung sein, die Sie sich vorgestellt haben?« Sie lächelte ihn an, um ihrer Frage die Spitze zu nehmen.
»Und wie gefällt er Ihnen persönlich?«
»Ist er mein Begleiter an langen Winterabenden? Nein! Wie aus 8
meinem letzten Buch deutlich wird«, (sie erwähnte es mit gewisser Befangenheit und fragte sich, ob er es gelesen hatte), »gilt mein Hauptinteresse einer etwas früheren Zeit. Außerdem habe ich den Verdacht«, fügte sie hinzu und gab sich der entspannenden Wirkung des Martini hin, »daß er das Maß an Energie, das Frauen auf Sex verwenden, erheblich überschätzt. Aber an dieser Ansicht ist vielleicht mein Alter schuld. Möglicherweise hat er ja recht.«
»Darf ich Sie Kate nennen?« fragte Pearlstine, nachdem er über ihre Bemerkung nachgedacht hatte. Kate nickte. »Ich bin froh, daß Sie das ansprechen«, fuhr er fort, »denn ich glaube, Sie haben recht.
Wissen Sie, die Protagonistin seines größten Romans ist möglicherweise seiner Frau nachgebildet. Manche Leute sind sogar davon überzeugt, daß sie ihm half, ›Ariadne‹ zu schreiben. Dieses Gerücht kam allerdings erst vor kurzem auf.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Kate.
»Und glauben Sie daran?«
»Kaum. Die Vorstellung ist verlockend, aber es gibt keine Beweise. Nehmen Sie zum Beispiel die Autobiographie von Alice B.
Toklas, die Gertrude Stein geschrieben hat. Liest man dann die Arbeiten von Alice Toklas selbst, die nach Steins Tod entstanden, könnte man meinen, die Toklas habe die Autobiographie selbst geschrieben, so sehr klingt diese nach Toklas und so wenig nach Stein.
Verstehen Sie mich recht, ich will damit nicht behaupten, daß die Toklas sie geschrieben hätte. Außerdem ist meine Kenntnis der amerikanischen Literatur sehr dürftig. Ich will damit nur andeuten, daß der Stil der Toklas belegbar ist.«
Hätte Simon Pearlstine Kate besser gekannt – vielleicht war er aber auch ein Mann mit guter Beobachtungsgabe und merkte es auch so –, hätte er sofort erkannt, daß sie sich in Abschweifungen erging, eine Angewohnheit, die sie sich vor langer Zeit zugelegt hatte, wenn sie sich nicht konkret äußern, aber freundlich und verbindlich erscheinen wollte, ungefähr so, wie ein Shakespeare-Schauspieler so lange sein Rollenrepertoire vor sich hin spricht, bis ihm wieder einfällt, in welchem Stück er sich befindet. Wann Simon Pearlstine wohl zur Sache käme, fragte sich Kate, und ob es die überhaupt gäbe?
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte er jetzt, »und eingedenk meines Anliegens an Sie finde ich Ihre Meinung hochinteressant.«
An diesem Punkt wurden sie von dem Kellner mit dem Lunch und dem zeremoniellen Offnen von Kates Weinflasche unterbrochen. Der 9
Kellner ließ sie probieren, was sie mit unverhohlenem Vergnügen tat.
»Sollten Sie ihm nicht lieber etwas Zeit gönnen, damit er seine Blume entfalten kann?«
»Der Rest der Flasche kann sich in aller Ruhe mit mir zusammen entfalten«, sagte Kate lächelnd. »Sollten Sie mir jetzt nicht lieber erzählen, was Sie von mir wollen und womit ich diesen exzellenten Wein verdiene?«
»Ich möchte, daß Sie die Biographie von Gabrielle Foxx schreiben.«
Kate verschluckte sich an ihrem Wein, was ein Sakrileg und eine schreckliche Verschwendung war. Sie konnte nicht aufhören zu husten.
»Soll ich Ihnen auf den Rücken klopfen?« fragte Pearlstine. Der Kellner und der Maître d’hôtel waren auch herbeigeeilt.
»Es ist gleich vorbei«, sagte Kate prustend. »Ignorieren Sie mich einfach, wenn Sie können.« Sie trank Wasser und begann allmählich wieder ruhig zu atmen.
»Tut mir leid«, sagte Pearlstine, als der Anfall vorüber war. »Ich hoffe, Ihre Antwort wird nicht so heftig sein, es sei denn, sie ist positiv.«
»Ich habe noch nie eine Biographie geschrieben.«
»Ich weiß. Aber in Ihrem Buch über James und Hardy haben Sie das biographische Material mit geradezu beneidenswertem Feinge-fühl eingearbeitet. Und ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust, einmal eine ganz anders geartete Herausforderung anzunehmen.« Er hielt inne, wollte aber offenbar noch nicht, daß Kate antwortete. »Alle Bücher über Foxx behandeln Gabrielle als Teil von ihm – zwar als wichtige Konstante in seinem Leben, aber eben doch als Anhängsel des großen Literaten. Ich finde, es ist an der Zeit, daß sie zum Gegenstand ihrer eigenen Biographie wird. Wenn Sie dann noch beden-ken, daß die Hauptfigur von Foxx’ berühmtem Roman eine Frau ist, so ist das meiner Meinung nach Grund genug für eine Biographie seiner Frau. Wir sind bereit«, fügte er fast beiläufig hinzu, während er sich wieder seinem Salat zuwandte, »einen hübschen Vorschuß zu zahlen. Einen sehr hübschen.«
Kate wollte etwas sagen, aber wieder hielt er sie zurück. »Noch nicht. Genießen Sie die wärmstens empfohlene Spezialität des Hauses und trinken Sie Ihren Wein. Lassen Sie uns über Gott und die Welt sprechen, und in genau zwei Wochen treffen wir uns wieder –
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gleiche Zeit, gleicher Ort. Dann reden wir weiter. Nur eine Bitte habe ich: Beschließen Sie kein definitives Nein vor unserem zweiten Treffen. Den Gefallen müssen Sie mir tun.«
Zum ersten Mal sah Kate Pearlstine interessiert an. Sie hatte ihn bisher in eine Schublade gesteckt: Lektor, Überredungskünstler und, wie heutzutage alle im Verlagswesen, meisterhafter Verkäufer. Aber irgend etwas an ihm deutete auf mehr hin. Kates Ansicht nach waren intelligente Verleger fast so rar wie geduldige Ärzte. Auf solch rare Exemplare zu stoßen, war sehr erfreulich, im Augenblick brauchte sie allerdings keinen von beiden.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie. »Aber ist in den vielen Foxx-Biographien nicht auch schon alles biographische Material über Gabrielle verwendet? Ich weiß, Biographien müssen ständig neu geschrieben werden, aber ich kann mir keinen Biographen vorstellen, der vorhandene Dokumente nicht verwertet oder lieber etwas erfindet, statt darauf zurückzugreifen.«
»Richtig. Nach Mark Hansfords Biographie über Foxx ist keine mehr geschrieben worden. Und die von Hansford ist hauptsächlich wegen ihres neuen Bildteils interessant. Er hat die Fotos offenbar bei der Familie Goddard ausgegraben. Wenn eine Frau Gabrielles Biographie schriebe, würde sie zu ganz neuen Einsichten kommen, dessen bin ich sicher. Wie dem auch sei, ich bewundere Ihre Arbeit und würde gern etwas von Ihnen veröffentlichen. Denken Sie darüber nach. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«
»Das kann ich Ihnen versprechen«, sagte Kate. Pearlstine griff unter den Tisch und zauberte ein Exemplar der Hansford-Biographie hervor. Kate nahm es, legte es dann neben sich auf den Tisch und trank einen Schluck von ihrem Beaune, um ihr Versprechen, das Hansford-Buch noch einmal zu lesen und über die Gabrielle-Biographie nachzudenken, zu bekräftigen. Zweifellos war es dem exzellenten Wein zu verdanken, daß ihr die Idee nicht von vornherein völlig abwegig erschien.
Nachdem sie Lunch und Wein genossen und diesem Vergnügen einen Arbeitsnachmittag geopfert hatte, ging Kate in eine vielgerühmte Ausstellung im Metropolitan Museum und lauschte über Kopfhörer den honigsüßen Ausführungen des Kurators dieser hehren Institution.
Es war daher schon recht spät am Abend, als sich Kate schließ-
lich mit Mark Hansfords Foxx-Biographie zurückzog. Die Ausgabe, die Pearlstine ihr gegeben hatte, war gerade als Neuauflage zum 11
zehnten Jahrestag der Erstveröffentlichung erschienen. Im neuen Vorwort des Autors zu dieser Ausgabe hieß es, die Erstveröffentlichung seiner Biographie wäre fast mit dem fünfundzwanzigsten Jahrestag des Erscheinens von ›Ariadne‹ zusammengefallen. Daß die Biographie dann pünktlich ein Jahr später erschienen sei, habe er Dorinda Goddard Nicholson zu verdanken, der er die Erstausgabe gewidmet habe. Ihre großzügige Unterstützung habe es ihm ermöglicht, seine Biographie zu einem schnellen, und wie er hoffe, guten Ende zu bringen. Dorinda Goddard Nicholson, erklärte er, sei die Nichte von Emmanuel Foxx’ Schwiegertochter und besitze die meisten Fotos der Familie Foxx. Mit dem Entschluß, diese Jubiläumsausgabe seiner Frau Judith zu widmen, wolle der Autor in keiner Weise die Verdienste von Dorinda Goddard Nicholson schmälern. Dem neuen Vorwort folgte ein Abbildungsverzeichnis, und die Fotos waren in der Tat das Herz des Buches. Sie stammten allesamt aus der Sammlung von Dorinda Goddard Nicholson und waren zum größten Teil auch von ihr aufgenommen worden. Einige wenige waren eine Leihgabe von jemand namens Anne Gringold, die ihrerseits vor vielen Jahren Mitglieder der Familie Foxx fotografiert hatte. Kate fand die Namen und Verbindungen verwirrend, beschloß aber, die Lösung dieses Puzzles auf später zu verschieben.
Die Fotos waren in der Tat herrlich und fast alle Erstveröffentlichungen. Eines stach besonders hervor: Ein Porträt von Emmanuel Foxx aus dem Jahre 1926, aufgenommen von einem damals bekannten Fotografen, den Sig Goddard, Dorindas Vater, beauftragt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Foxx natürlich bereits einen Namen und war schon oft fotografiert worden, aber dieses besondere Foto fing seine Persönlichkeit auf so einzigartige Weise ein, wie es selbst berühmten Malern selten gelingt. Hansford erklärte, es sei nicht schon früher veröffentlicht worden, weil Foxx das Foto nicht gemocht und fast alle Abzüge zerstört habe. Ein einziger habe sich noch im Besitz von Sig Goddard gefunden. Kate fragte sich, was die Goddards bewogen hatte, jetzt damit herauszurücken. Vielleicht war das Foto erst vor kurzem in irgendeiner Schublade wiederentdeckt worden? Kate konnte verstehen, warum Foxx das Foto nicht gemocht hatte. Es war kurz vor dem Erscheinen von ›Ariadne‹ aufgenommen, als Foxx bereits einen Ruf hatte, aber noch nicht so be-rühmt war wie nach der Veröffentlichung jenes Meisterwerks. Einige Kapitel aus dem Roman waren bereits in Avantgarde-Zeitschriften vorabgedruckt worden und die Erwartungen aufs höchste gespannt.
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Foxx hatte sein berühmtes Löwenhaupt (seine Haarmähne war in der Tat beachtlich) zurückgeworfen, die Beine übereinandergeschla-gen und die Hände verschränkt wie ein Kämpfer, der sich selbst zu seinem Sieg gratuliert. Der Stuhl, auf dem Foxx saß, wirkte wie ein Thron, und Foxx strahlte abgrundtiefe Selbstzufriedenheit aus – so etwa mochte Mephistopheles nach seinem Handel mit Faust ausge-sehen haben. Mit dem Wissen um Foxx’ großen literarischen Erfolg, der sich nur ein Jahr nach diesem Foto einstellte, wirkte die bombas-tische Pose keineswegs fehl am Platz. Inzwischen war Foxx seit fünfzig Jahren tot. Daß er seinen unsterblichen Ruf als großer Schriftsteller vorausgeahnt zu haben schien und sich nicht in demü-
tiger Bescheidenheit geübt hatte, sprach nur für seine Hellsicht. Aber zum damaligen Zeitpunkt mußte das Porträt überheblich wirken.
Andere vom selben Fotografen aufgenommene Fotos waren, als Hansford seine Biographie veröffentlichte, bereits bekannt, und er hatte nur eines von ihnen in den Band aufgenommen: ein Foto von Gabrielle, auf dem sie etwas linkisch an einem Fenster steht und ins Freie schaut, als wolle sie dem Fotografen ausweichen.
Kate studierte Gabrielles Gesicht. Hansford hatte die Fotos der beiden nebeneinander plaziert; jedes Porträt nahm eine ganze Seite ein, und die Gegenüberstellung ergab einen verblüffenden Effekt.
Foxx blickte triumphierend ins Kameraauge, sie wich ihm schamvoll aus. Oder war das nur Kates Interpretation? Kate hatte einmal einen Vortrag in einem Frauencollege gehalten – in einem Raum, der wie der Salon eines Privathauses eingerichtet war, aber dennoch Platz für mehrere Reihen von Klappstühlen bot. An einer Wand hingen zwei große Porträts, eins von dem Mann, der das Geld für den Saal gestif-tet hatte – welcher natürlich nach ihm benannt war-, und eins von seiner Frau, die das College besucht hatte. Während der Einleitungs-floskeln hatte Kate die beiden Bilder fasziniert betrachtet. Der Mann sah der Welt ins Gesicht – nicht arrogant, aber mit erstaunlicher Selbstsicherheit. Die Frau dagegen ließ sich ansehen. Sie trug ihr bestes Kleid, ihre Perlenkette, und ihr Haar war sorgfältig frisiert.
Einerseits schien sie bereit, sich anstarren zu lassen, andererseits sich aber den Blicken entziehen zu wollen. Er betrachtete, sie wurde betrachtet, darauf lief es hinaus.
Gabrielle schien das Angestarrtwerden ignorieren zu wollen. Sie entzog sich der Kamera und blickte aus der Szene hinaus ins Freie.
Der Fotograf hatte sich offenbar nicht mit ihrem Profil begnügen wollen und nicht nur dreiviertel ihres abgewandten Gesichts einge-13
fangen, sondern auch die Widerspiegelung ihres Gesichts im Fenster.
Das einzige, was Gabrielle von der vom Fotografen gewählten Ku-lisse wahrzunehmen bereit schien, war ihr eigenes Konterfei.
Die Fotos in Hansfords Buch waren in zwei Abschnitte eingeteilt: Im ersten, am Anfang des Buches, waren die mittlerweile bekannten zusammengefaßt – die Jugendfotos von Foxx und Gabrielle und den Orten in England, wo sie aufgewachsen waren. Der zweite, doppelt so große, Abschnitt enthielt die Fotos, die Dorinda Goddard Nicholson Hansford überlassen hatte, und zusammen machten sie eindeutig den größten Reiz dieser ansonsten wenig bemerkenswerten Biographie aus, deren Lektüre in Kates Gedächtnis wenig Spuren hinterlassen hatte.
Die Goddard-Sammlung, wie sie Kate nannte, also jene Fotos, die in dieser Ausgabe zum erstenmal erschienen, enthielt nicht nur Bilder von Emmanuel Foxx, sondern auch von seiner Frau Gabrielle, seinem Sohn Emile und seiner Schwiegertochter Hilda; außerdem fanden sich Fotos von Dorinda, Anne Gringold (deren Verbindung zu Dorinda Kate nicht kannte) und eines von Nellie, Emmanuel Foxx’ Enkelin, das kurz nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten aufgenommen war. Die mysteriöse Anne Gringold hatte ein Bild des Hauses zur Verfügung gestellt, in dem Gabrielle in den fünfziger Jahren in London gelebt hatte. Dann gab es ein Foto, das Nellie von Gabrielle gemacht hatte, und zwar lange nach Emmanuel Foxx’ Tod, als Gabrielle schon in London lebte. Auf diesem Foto war Gabrielle älter, blickte aber direkt in die Kamera, als wolle sie sagen: »Ja, seht her. Hier bin ich.« Ferner gab es eine Aufnahme von Gabrielle und Nellie, die Nellie offensichtlich mit einer jener Selbstauslöse-Kameras aufgenommen hatte, die man aufstellen kann und die es dem Fotografen erlauben, sich mit triumphierendem Lächeln gerade noch rechtzeitig in das Foto zu schleichen. Diese beiden Fotos waren offensichtlich von Dorinda später an Mark Hansford übergeben worden.
Gab es ein echtes Interesse an einer Biographie Gabrielles – war sie mehr als nur eine Fußnote zum Leben und Werk des großen Meisters der Moderne? In den letzten Jahren zeigten Verleger und Leser gleichermaßen ein wachsendes Interesse an Frauenbiogra-phien, aber war das Grund genug? Oder genauer: Konnte das für Kate ein Grund sein? Sie betrachtete eine Weile die Porträts von Foxx und Gabrielle, dann begann sie, das Buch noch einmal zu lesen.
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Ihr das Buch mitzugeben, war sehr klug gewesen von Simon Pearlstine, denn es schrie förmlich nach mehr Informationen über Gabrielle. Woher, so schien Hansford ständig zu fragen, hatte Foxx sein Wissen um weibliche Gefühle und Sehnsüchte? Hatte er Gabrielle gefragt, sie vielleicht sogar gebeten, ihre Erfahrungen niederzuschreiben? Geradezu wie ein Wink mit dem Zaunpfahl mutete Hansfords Bemerkung an, daß Colette von ihrem Mann eingeschlossen und gezwungen worden war, von ihrer Schulzeit zu berichten, inklusive aller sexuellen Abenteuer und Experimente. Andere Männer hatten versucht, die Psyche einer Frau darzustellen: Lawrence und natürlich Joyce in den freizügigen und für die damalige Zeit schockierenden Gedanken der Molly Bloom, während sie im Bett lag, menstruierte, masturbierte, über ihre Eroberungen nachdachte und sich kühn (wie alle Frauen, wenn sie ihren Gedanken freien Lauf lassen) über Zeichensetzung und herkömmliche Syntax hinwegsetz-te. Gewiß, auch Dorothy Richardson hatte die Gedanken einer Frau niedergeschrieben, und das auf eine Art, die dem männlichen Estab-lishment kaum gefallen konnte. Graham Greene hatte sich beschwert, daß die trübselige Miriam schließlich auf Seite vierhundert-soundso doch noch ihre Jungfernschaft verlor, seiner Meinung nach ihre einzig bemerkenswerte Leistung, die er ihr aber offenbar nicht zutraute. Hansford schien Greene recht zu geben, ein Urteil, das Kate gegen den Strich ging. Aber Emmanuel Foxx hatte zweifellos alle übertroffen: Er hatte ein Buch, das zudem sprachlich revolutionär und hervorragend aufgebaut war, dem Leben, den Gedanken und Leidenschaften einer Frau gewidmet. Hansford erklärte, Foxx habe geahnt, daß die Obsession mit dem Weiblichen und die große Furcht der Männer vor der neu erwachten und erstarkten Stimme der Frauen, ihren Wünschen und Ambitionen, der eigentliche Kern der Moderne seien. Nun, die Zeit hatte Foxx recht gegeben. Aber was hatte Gabrielle mit all dem zu tun, abgesehen davon, daß sie ihm ein Kind gebar, ihn liebte und ihm ihr Leben widmete? Sorgte sie für mehr als sein Essen und seine Wäsche? Das sei die drängende Frage, erklärte Hansford.
Nun, fragte Kate sich, hat sie mehr getan? Hansfords Buch war nicht dick, eher eine Kaffeehaus-Lektüre. Die geschickte Aufma-chung überspielte die Kargheit des Textes. Kate las es am selben Abend zu Ende. Es enthielt alle bekannten Fakten, warf aber auch neue Fragen nach Gabrielles Anteil an der Entstehung von ›Ariadne‹
auf.
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Gab es wirklich einen stichhaltigen Grund für diese Frage? Die einzige Antwort darauf war wiederum eine Frage: Wie hatte Gabrielle gelebt, und was war, abgesehen von ihrer Liebe zu Emmanuel Foxx, die Triebfeder ihres Lebens gewesen? Hansford zufolge war sie sich darüber im klaren, daß sie als Anhängsel ihres Mannes betrachtet wurde, als notwendiger, aber unscheinbarer Bestandteil seines Lebens und Werks. Dorinda Goddard Nicholson hatte Hansford erzählt, weder Hilda noch deren Mann Emile, Gabrielles Sohn, hätten viel über sie gesprochen.
Im Grunde war sehr wenig über Gabrielle bekannt. Oder? Vielleicht hatten Hansford und die früheren Foxx-Biographen einfach nicht gründlich genug geforscht. Lächelnd mußte Kate an John le Carré denken, von dessen Büchern sie entzückt war. Wenn man John le Carrés britischen Geheimdienst dazu bringen könnte, die Basisar-beit für eine Biographie zu erledigen: welch verlockende Vorstellung! In fünf Tagen hatte der alles herausgefunden, was es über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Person zu wissen gab: Die Geheimdienstler zapften Telefone an, erschlichen sich unter den windigsten Vorwänden Interviews, erfuhren von allen Obsessionen und Gewohnheiten, was und wo jemand aß, liebte, sich herumtrieb und arbeitete. Aber die Objekte solch beachtlicher Anstrengungen des Geheimdienstes waren natürlich noch am Leben und konnten leicht für England ausspioniert werden. Hatten nur die Geheimdienste genug Geld und Personal für solch schreckliche Schnüffeleien?
Viele Leute behaupteten, J. Edgar Hoover habe diesen mächtigen Apparat gegen Martin Luther King und andere eingesetzt, in denen er eine Gefahr für Amerikas herrschende Klasse sah und die er für Kommunisten hielt. Kate hatte gelesen, heutzutage sei es ein Kinder-spiel, Telefone anzuzapfen. Aber – was hatte das alles mit der armen Gabrielle zu tun?
Kate, meine Liebe, mahnte sie sich, du fängst schon wieder an, die Detektivin zu spielen. War das nicht auch der Grund gewesen, weshalb ihr John le Carré einfiel? Zweifellos! Aber, so sagte sie sich, vergiß nicht, daß Detektive keine Biographen sind und Geheimdienste schon gar nicht. Genaugenommen war das Interessante an le Carrés Büchern: Je mehr man von den Leuten wußte, desto weniger kannte man sie. Und genau besehen konnte einem das Anzapfen von Telefonen zwar alle möglichen Informationen vermitteln, aber keine wirklichen Einsichten. Kate lächelte. Dem Himmel sei Dank für die Unberechenbarkeit der menschlichen Natur. Kate wollte keinesfalls 16
bestreiten, daß Leute wie Hoover oder der britische Geheimdienst in der Lage waren, Antworten zu finden, sie waren nur nicht in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen.
Und ein Biograph? Konnte sie, Kate Fansler, sie stellen? Auf völlig unvernünftige Weise glaubte Kate an das Schicksal, die Vorsehung und die Bedeutung von Zufällen. Aber solch einen Glauben konnte man kaum aussprechen, geschweige denn verteidigen. War Simon Pearlstines Angebot nicht genau die Art von Zufall, die die Menschen in früheren, einfacheren Zeiten als ein Zeichen der Götter betrachtet hätten? Nein, göttliche Vorsehung war hier wohl nicht im Spiel. Trotzdem: Ungenutzte Chancen, nicht beim Schopfe gefaßte Gelegenheiten, nicht angenommene Herausforderungen konnten sich zu einem Leben addieren, das trübselig immer in ein- und derselben Bahn verlief, nur dem trägen Pfad von Sicherheit und Selbstzufriedenheit folgte. Hatte nicht genau deshalb ihre Arbeit als Amateurde-tektivin einen so großen Reiz für sie besessen? Und hatte sie je selbst nach einem Fall gesucht? Nein. Die Fälle waren zu ihr gekommen, und sie hatte sie übernommen, denn wenn man gerufen wird, muß man folgen, oder sich wie einer von le Carrés Helden standhaft ver-weigern. In Unentschiedenheit und Wankelmütigkeit zu verharren war nicht gestattet. Ende der Vorlesung.
Bei allen ihren »Fällen« waren ihre in der akademischen Welt ge-rühmten literarischen Kenntnisse wenn auch nicht notwendig, so doch sehr hilfreich gewesen. Sie schien Fälle, bei denen ihre besonderen Talente gefragt waren, förmlich anzuziehen. Das war, von allen anderen auf der Hand liegenden Motiven einmal abgesehen, der Hauptgrund, warum sie lieber Literaturprofessorin als Privatdetektivin war. Schließlich konnte sie schlecht ein Schild an der Tür an-bringen mit dem Hinweis: Privatdetektei, vorzugsweise für literarische Fälle.
Gabrielle Foxx. Wie hatte sie mit Mädchennamen geheißen? Ka-te sah im Index nach: Howard. Gabrielle Howard Foxx. Geboren 1889. Brannte 1905 mit Emmanuel nach Paris durch. Das einzige Kind, Emile, 1906 geboren. Emile heiratete 1925 Hilda. 1926 wurde Enkelin Nellie geboren. Emmanuel starb 1942. Emile 1944 für tot erklärt. 1950 zog Gabrielle wieder nach England. Sie starb 1959.
Kate machte eine Liste dieser Daten, die sie mit einiger Mühe Hansfords Biographie entnommen hatte, denn diese enthielt nur eine chronologische Auflistung von Foxx’ Veröffentlichungen und keine der Lebensdaten. Konstituierten diese Daten ein Leben? Früher hätte 17
man sie wohl für ausreichend gehalten, um das Leben einer Frau zu dokumentieren, vor allem in jenen Tagen, wo der Name einer Frau nur zu drei Gelegenheiten in einer Zeitung gedruckt wurde: bei Geburt, Hochzeit und Tod. Weshalb eine Biographie über Gabrielle?
Weil sie von zu Hause fortgelaufen war, mit einem berühmten Schriftsteller, einem der Protagonisten der klassischen Moderne, zusammengelebt und ihn vielleicht inspiriert hatte?
Kate betrachtete noch einmal Gabrielles Foto, das aus dem Fenster blickende Gesicht. So, wie die Fotos nebeneinander arrangiert waren, blickte sie aber nicht nur aus dem Fenster, sondern auch fort von dem Mann auf dem thronartigen Stuhl. Angenommen, fragte sich Kate, einer aus der Familie Goddard oder Nellie Foxx hätte mich als Privatdetektivin angeheuert, alles über Gabrielle herauszufinden, was es herauszufinden gab? Hätte ich den Fall angenommen?
Wahrscheinlich. Aber wollte sie sich auf eine literarische Auftrags-arbeit über Gabrielle, die mehrere Jahre Arbeit erforderte, einlassen?
Kaum.
An genau dem Punkt verweilten Kates Gedanken eine der zwei Wochen, die ihr bis zum nächsten Treffen mit Simon Pearlstine blieben.
Zu Beginn der zweiten Woche, als der Gedanke an die Biographie in den Hintergrund getreten war, erhielt sie einen Umschlag von Simon Pearlstine, der ein dünnes Manuskript und einen Begleitbrief enthielt. Pearlstine schrieb:
Liebe Kate (wenn Sie gestatten),
ob Sie die Gabrielle-Biographie nun übernehmen oder nicht – na-türlich hoffe und bete ich, daß Sie es tun –, ich habe mich entschlossen, Ihnen das beigefügte Manuskript anzuvertrauen. Es ist der (wie ich finde) überaus faszinierende Bericht Anne Gringolds über ihr Leben bei den Goddards. Sie war, wie Sie feststellen werden, außerdem der letzte Mensch, der Gabrielle noch bei vollem Bewußtsein erlebte – vor deren Herzschlag oder was immer es war.
Wie der Bericht in meine Hände gelangte, werde ich Ihnen bei unserem nächsten Treffen (gleicher Ort, gleiche Uhrzeit, heute in einer Woche) erzählen. Anne brauchte Geld, das ist der springende Punkt, und übergab ihren Bericht jemand, der ihn mir vertrauensvoll weiterreichte. Gleichermaßen voller Vertrauen übergebe ich ihn nun Ihnen. Natürlich in der Hoffnung, daß er Sie verlocken wird, die Biographie zu schreiben. Aber auch wenn weder diese Seiten noch ich Sie dazu überreden können, weiß ich, daß Sie den Inhalt des 18
Manuskripts geheimhalten und es an mich zurücksenden werden, ohne es jemand anderem zu zeigen. Sie sehen, welch großes Vertrauen ich in Sie setze.
Bis nächste Woche
Simon
Kate wandte sich dem beigefügten Manuskript zu, las den ersten Satz: »›Er ist der größte Schriftsteller seiner Zeit‹, sagte Dorinda…«
und dann das Manuskript in einem Zug durch.
Als Kate das Restaurant betrat, erwartete Simon sie bereits. »Einen Wodka-Martini?« fragte er.
»Heute nicht«, sagte Kate. »Heute folge ich Ihnen auf allen Wegen, Designer-Wasser, Salat, Kaffee – aber keinen koffeinfreien!
Überallhin folge ich Ihnen also doch nicht, wie Sie sehen. Auf einige Dinge kann ich einfach nicht verzichten, selbst für Gabrielle nicht.«
»Darf ich das als gutes Omen sehen?« fragte Simon.
»Ich denke schon«, sagte Kate. »Denn wenn ich auf einen Beaune verzichte, dann will das etwas heißen! Aber, ehrlich gesagt, trinke ich nur bei besonderen Anlässen zum Mittagessen, dafür immer abends. Wie sind Sie an das Manuskript von Anne Gringold gekommen?«
»Der Freund eines Freundes eines Freundes. Alles hochgeheim.
Nur, daß Anne Geld brauchte, muß kein Geheimnis bleiben. Das war ihr Hauptmotiv, aber sie wollte, daß das Manuskript in gute Hände kommt: die, die ich vor mir sehe.«
»Also hat das Gringold-Manuskript Sie inspiriert, mich mit der Biographie zu beauftragen?«
»Ich wäre in jedem Fall dazu inspiriert gewesen. Aber natürlich hoffte ich, Annes Geschichte würde Sie zu meinen Gunsten um-stimmen.«
»Haben Sie ihr einen guten, großzügigen Preis gezahlt?«
»Allerdings, meine liebe Kate Fansler. Und ich habe eine weitere Rate angeboten, falls ihr Manuskript für eine Biographie verwendet wird. Wenn nicht, steht es ihr frei, es auf dem offenen Markt anzubieten.«
»War die Summe so hübsch wie der Vorschuß, den Sie mir angeboten haben?«
»Eine scharfsinnige Frau.«
»Sie wissen ja, daß ich noch nie ein Buch für den sogenannten Markt geschrieben habe? All meine wissenschaftlichen und literatur-kritischen Arbeiten sind bei Universitätsverlagen erschienen. Sind 19
Sie sicher, daß ich populär genug schreibe, damit das Buch sich verkauft?«
»Mein verlegerischer Instinkt sagt mir: Ja.«
»So aufregend Anne Gringolds Bericht auch ist, über Gabrielle enthält er relativ wenig. Anne erwähnt nur, daß Gabrielle ihr ihren Nachlaß anvertraut habe. Da sie ja der Veröffentlichung ihres Memoirs zugestimmt hat, muß sie damit rechnen, daß sich jetzt alle möglichen Leute auf Gabrielles Nachlaß stürzen werden; gehört er aber nicht eigentlich Nellie als Gabrielles Erbin?«
»Nein, da habe ich mich vergewissert. Schließlich will ich mir keinen Prozeß aufladen. Gabrielle hatte einen Zusatz zu ihrem Testament gemacht, in dem sie all ihre Papiere allein Anne Gringold vermachte und bestimmte, für den Fall, daß sie verkauft würden, solle die Hälfte des Erlöses an Nellie oder ihre Erben gehen, die andere Hälfte an Anne.«
»Das erweckt zweifellos die Detektivin in mir.«
»Genau darauf habe ich gehofft – die Detektivin und Gelehrte, von der Autorin bemerkenswert lesbarer Prosa ganz zu schweigen.
Darf ich hoffen, Kate Fansler, daß Sie angebissen haben? Kann ich einen Vertrag aufsetzen?«
»Ich habe nicht mal einen Agenten.«
»Den brauchen Sie auch nicht. Damit Sie nicht denken, ich versuchte, Sie zu übervorteilen, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Sie zeigen Ihrem Juristen-Gatten den Vertrag. Wenn er sich in Copy-right-Dingen nicht kompetent fühlt, kennt er sicherlich einen Kollegen.«
»Wollen Sie mich bewegen, sofort ja zu sagen?«
»Genau das. Wollen wir uns jetzt nicht beide einen Wodka-Martini bestellen?«
»Lieber eine halbe Flasche Beaune.«
Simon winkte dem Kellner und bestellte. Sie schwiegen, während der Weinkellner die Flasche holte, die Gläser vor sie stellte und einen ersten Schluck einschenkte.
»Wir werden ihn beide probieren.« Simon erhob sein Glas mit dem winzigen Schluck der tiefroten Kostbarkeit.
»Auf Gabrielle«, sagte er.
»Oder«, antwortete Kate und hob ebenfalls ihr Glas, »auf dieses Schiff und alle, die auf ihm segeln, wie John le Carré sagen würde.«
»Vielleicht hätte ich ihn überreden sollen, die Biographie zu schreiben«, sagte Simon lachend.
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»Zu spät. Jetzt haben Sie mich«, sagte Kate Fansler.
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