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Auf dem Rückflug nach New York veranstalteten die Gedanken in Kates Kopf eine Hetzjagd. Daß daraus ein klares Bild entstehen würde, war sehr unwahrscheinlich. Kate wurde nur noch verwirrter, konnte nicht einschlafen und fühlte sich von Dämonen verfolgt.
Wenn sie einen Moment eindöste, dann erschienen die Mitspieler des Foxx-Dramas, um sie mit grotesken Taten und Anliegen zu belästigen. Mehreren Martinis, die in kleinen Flaschen gereicht wurden, gelang es weder, den Schlaf herbeizuführen, noch, die Geister zu vertreiben. Aber als Kate dann endlich landete, hungrig (wer kann schon das Bordessen hinunterbekommen?) und erschöpft, hatte sie immerhin einen Entschluß gefaßt: nämlich so schnell wie möglich ein Treffen mit Anne Gringold zu arrangieren.
Und noch etwas war ihr klargeworden: Dorinda und Nellie hatten sie vielleicht nicht direkt angelogen, aber die Wahrheit mit Bedacht umgangen. Immer wieder waren ihnen Dinge entschlüpft, die zuvor gegebenen Schilderungen widersprachen. Bei Anne war die Lage ein wenig anders, denn Kate kannte Annes Memoir und hatte so einen besseren Ausgangspunkt, eigene Hypothesen zu entwickeln. Denn genau das brauchte sie, eigene Hypothesen, egal wie unpräzise. Zum Beispiel die: Warum sollte die Enthüllung des Geheimnisses, wer wirklich Nellies Vater war, so entsetzlich sein? Alle aktiv daran Beteiligten waren tot, und heutzutage erregten solche Enthüllungen kaum noch Aufsehen – höchstens eine kurzlebige Verwunderung.
Die Welt würde Nellie wahrscheinlich ein wenig interessanter finden, aber ein solches Schicksal schreckte die meisten nicht besonders. Emile und Gabrielle waren tot und damit unverletzlich. Das Ansehen von Emmanuel Foxx würde vielleicht bei manchen steigen, bei anderen dagegen sinken, aber die Einschätzung seines großen Romans oder seiner anderen Werke würde davon kaum tangiert.
Eins war allerdings nicht zu verleugnen: Für Menschen, denen Diskretion und unversehrte Privatsphäre das Wichtigste im Leben waren, mußte das Publikwerden von Familienskandalen unerträglich sein. Vielleicht hatte Nellie es längst satt, immer nur als Foxx’ Enkelin gesehen zu werden, und absolut keine Lust, nun von Leuten be-lästigt zu werden, die sich daran ergötzten, daß sie dem großen Mann noch eine Generation näher stand.
Es lag auf der Hand: Anne war für Kate der nächste Schritt, we-121
niger aus Interesse an Annes Lebensgeschichte oder deren Geheimnissen, die eher von nebensächlicher Bedeutung waren, als aus Interesse an den Papieren, die Gabrielle ihr anvertraut hatte. Und nach dieser Feststellung (auf die Kate schon bald mit so viel Ironie und Galgenhumor zurückblicken sollte, wie ihr möglich war) schlief sie zehn Stunden durch und wurde beim Aufwachen mit einem üppigen Frühstück und einem Gespräch mit Reed belohnt, während dem sie ihm nichts erzählte, ihn aber wissen ließ, sie erzähle ihm deshalb nichts, weil sie noch nicht soweit sei, überhaupt jemand etwas zu erzählen.
Schließlich erreichte sie Anne telefonisch. Ja, Anne würde sich mit ihr treffen, in zwei Tagen und wo sie, Kate, wolle. Kate schlug ihre Wohnung vor, und Anne war einverstanden. Kate fiel ein, daß sie noch keine aus dem Trio in deren eigener Umgebung erlebt hatte.
Nur Eleanor hatte sie zu Hause empfangen. Kate wußte nichts über das Zuhause der drei. Sie konnten genausogut in Raumschiffen um die Erde kreisen. Kate hielt bei ihnen allmählich alles für möglich.
Als Anne eintrat, war Kates erster Gedanke, wie sehr sich das Trio äußerlich unterschied. Anne war eindeutig zu dick geworden –
sehr unfreundlich ausgedrückt, mahnte sich Kate. In diesen Tagen, wo alle Welt von der bestmöglichen Präsentation des eigenen Gesichts und Körpers besessen war, schien es Anne völlig gleichgültig zu sein, wie sie aussah. Sie hatte eine offenere Art als Dorinda und auch als Nellie, nicht verwunderlich, dachte Kate, denn Anne hatte ja auch das Memoir geschrieben und so als erste zu Kate gesprochen.
Kate bot ihr einen Drink an, und zu ihrer Freude entschied sich Anne für ein Bier. Kate schloß sich ihr an, und als sie sich mit den Gläsern niederließen, bemerkte Anne, wie herrlich es sei, an einem ganz normalen Arbeitstag in diesem einladenden Zimmer zu sitzen und Bier zu trinken. »Ich komme mir vor, als schwänzte ich die Schule«, sagte sie. »Vielleicht finde ich ja bald sogar den Mut, mir einen Nachmittag freizunehmen, um mir ein Baseballspiel anzugu-cken. Aber gibt es überhaupt während der Woche Baseballspiele?«
»Wir könnten ja zusammen gehen«, sagte Kate. »Ich hab mir seit Jahren kein Spiel mehr angesehen.« Wir reden um den heißen Brei herum, dachte Kate, aber trotzdem ist es kein leeres Geplänkel. Ich würde wirklich gern mit Anne zu einem Baseballspiel gehen. »Zu den Mets natürlich«, fügte Kate hinzu. »Alle meine Brüder waren Yankee-Fans, also gab es für mich keine Frage. Meine Brüder und ich haben absolut nichts gemeinsam, was ich recht tröstlich finde.
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Auf diese Weise droht mir nie die Gefahr, irgendwo ihrer Meinung zu sein.«
»Es gefällt mir, daß Sie von sich erzählen«, sagte Anne, »wo Sie doch von mir bestimmt sehr viele persönliche Enthüllungen erwarten. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte«, fügte sie hastig hinzu. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, Brüder zu haben. Wie Sie wahrscheinlich wissen, haben weder Nellie noch ich Kinder. Dafür hat Dorinda vier Söhne, was, jedenfalls für meinen und Nellies Geschmack, ein bißchen zuviel des Guten ist.«
»Vor ein paar Tagen habe ich Nellie in Genf getroffen«, sagte Kate. »Aber von ihrem gegenwärtigen Leben war nicht die Rede, nur von der Vergangenheit. Ich hatte so viele Fragen über die Vergangenheit, daß ich mich nicht traute, sie auch noch über die Gegenwart zu befragen. Ich jedenfalls hasse Leute, die unaufhörlich Fragen stellen.«
»Nellie ist seit vielen Jahren mit einem Mann verheiratet, der phi-losophische und andere hochwissenschaftliche Bücher schreibt, alle in Französisch, alle sehr bedeutungsvoll und alle so gut wie unverständlich – selbst wenn man perfekt Französisch kann. Ich glaube, sie sind sehr glücklich miteinander. Er kann überall auf der Welt arbeiten, was sehr günstig ist, da Nellie oft versetzt wird. Gutes Bier.« Anne lehnte sich in ihrem Sessel zurück und genoß unverkennbar diese Mußestunden an einem normalen Arbeitstag.
»Arbeiten Sie immer noch im Verlagswesen?« fragte Kate. »Ich weiß, Ihr Memoir endet vor ungefähr dreißig Jahren, und meine Frage ist vielleicht dumm.«
»Immer noch bei demselben Verlag«, sagte Anne. »Mehr Verantwortung, mehr Geld, aber der Job ist der gleiche. Im Grunde ist er recht interessant. Man darf sich nur nicht einbilden, etwas anderes als ein normales Produkt zu verkaufen. Ich meine, man darf in Bü-
chern nichts Heiliges sehen, sondern einfach das Produkt. Man er-forscht den Markt, entwickelt Verkaufs- und Vertriebsstrategien, setzt den Computer ein und wünschte bloß, die Leute, die für die Bestellungen verantwortlich sind, die Grossisten und Vertriebe, würden nicht so viele himmelschreiende Fehler machen. Ich mache meine Arbeit gut, und die Tatsache, daß sie weder wahnsinnig glamourös ist noch jeden Tag irgendwelche Neuerungen eingeführt werden, bedeutet, daß ich auch jetzt, wo ich in die Jahre komme, keine Probleme habe. Ich bin übrigens auch für die Mets, obwohl ich wünschte, sie hätten auf die Ballmädchen verzichtet. Wenn Frauen 123
es je im Baseball zu etwas bringen, dann sollte es deshalb sein, weil sie so gut sind, daß man es sich einfach nicht leisten kann, sie nicht anzuheuern. Bis dahin fände ich es besser, keine Mädchen in lächerlichen Uniformen wie die Playboy-Häschen die Beine schwingen zu sehen. Nehmen Sie nicht so ernst, was ich sage. Ich habe so selten Gelegenheit, einfach draufloszuplappern, denn meistens bin ich zu beschäftigt oder zu müde. Worüber wollten Sie mit mir sprechen?
Doch bestimmt nicht über die Mets.«
»Wie Sie wahrscheinlich wissen«, sagte Kate, »habe ich viel mit Literatur zu tun. Deshalb fiel mir einfach auf, daß Sie Ihr wundervolles Memoir enden lassen wie Jane Austen ihre Romane – ziemlich abrupt, so als hätten Sie den interessanten Teil abgehandelt und plötzlich große Eile, das Ganze hinter sich zu bringen, wobei man den Eindruck hat, daß Ihnen etwas unbehaglich war bei dem Ende.«
»Wie taktvoll Sie das ausdrücken. Es stimmt, der Schluß handelte von Gabrielles Papieren, aber vorher ging es um mich. Ich glaubte wohl, die Leser, falls es welche gab, wollten schnell zum Ende kommen. Kein Grund also, es hinauszuzögern.«
»Ihr Zusammenleben mit Dorinda und später dann mit Nellie ist eine wirklich erstaunliche Geschichte. Sie geht einem zu Herzen.
Übrigens war ich ziemlich erleichtert«, fügte Kate hinzu und erwartete Annes Reaktion mit einiger Besorgnis, »als ich feststellte, daß Dorinda ein so angenehmer Mensch ist. Nach dem, was Sie und ihre Mutter geäußert haben, wurde das früher wilde Kind und junge Mädchen ja eine, nun, ziemliche Spießerin. Aber diese Phase hat sie offenbar überstanden.«
»Ja. Dorinda hat sich gut gemacht. Wir alle im Grunde. Eins möchte ich Ihnen nicht verschweigen: Uns dreien war klar, daß eines Tages jemand Gabrielles Biographie würde schreiben wollen. Das war unausweichlich. Als wir erfuhren, daß Sie diejenige sind, waren wir sehr erleichtert. Ich meine, es hätte ja auch jemand sein können, der nicht so intelligent ist, nicht so viel von Literatur versteht und keine Ahnung hat, was es bedeutete, jung zu sein, als die klassische Moderne ihren Höhepunkt hatte.«
»Soll ich aus dieser Lobrede schließen, daß Sie das Memoir erst Simon Pearlstine gegeben haben, nachdem Sie mich schon insgeheim als Biographieschreiberin auserkoren hatten – sozusagen als zusätzlichen Anreiz?«
»Nellie und Dorinda haben beide gesagt: Sie sind intelligent und klug – Detektivin und Literatin. Die beiden hatten recht.«
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»Simon Pearlstine hat sich alle Mühe gegeben, um mir einen völlig anderen Eindruck zu vermitteln. Aber bestimmt wollte er bloß seinen Arsch aus dem Schußfeld bringen, wie man in der großen, rohen Welt sagt. Sie haben das Memoir also speziell für mich gedacht?«
»Ausschließlich! Es sollte Sie – Sie ganz speziell – ermutigen, Gabrielles Biographie zu schreiben. Dorinda hat es erst dann an Pearlstine geschickt, als sie dank der wundervollen Beziehungen, über die sie immer noch verfügt, wußte, daß er sich an Sie wenden würde. Im Verlagswesen gibt es keine Geheimnisse, und meine Quellen bestätigten Dorindas Informationen. Sie fragen sich vielleicht, warum ich das Memoir nicht einfach selbst geschickt habe.
Nun, zum Teil, weil Dorinda schon immer diejenige von uns dreien war, die derlei Dinge in die Hand nimmt. Aber vor allem wollte ich, daß Pearlstine den Text nicht aus erster Hand bekam, sondern als ein rätselhaftes Dokument. Außerdem hatte ich immer noch das drin-gende Bedürfnis nach Distanz zu dem Ganzen, wie damals, als ich Gabrielles Papiere zu der Londoner Bank brachte. Jedenfalls erkun-digten wir uns nach Ihnen und Ihrer Arbeit. Wir betrieben unsere Nachforschungen mit großer Sorgfalt und ließen uns viel Zeit dabei.
Nun, das meiste übernahm Dorinda; ich half ihr nur ein wenig. Wir beschlossen, daß Sie genau die Richtige sind. Und als Pearlstine sich an Sie wandte, traten wir sozusagen in Aktion. Sie waren auser-wählt.« Anne lächelte.
»Im Klartext heißt das doch«, sagte Kate mit unüberhörbarer Schroffheit, um Anne klarzumachen, daß sie sich nicht von Kom-plimenten einlullen ließ, »wenn ich Nellie richtig verstanden habe, und sie war schwer mißzuverstehen, sandten Sie mir das Memoir, um mich zu ermutigen, Gabrielles Biographie nicht zu schreiben.«
Anne lächelte und setzte ihr leeres Glas ab. »Nun, keine der üblichen Biographien, aber ein elegantes Porträt Gabrielles – als Einführung zu den von Ihnen edierten Schriften.«
»Die Sie auf Gabrielles Wunsch fortgeschafft haben?«
»Genau. Wir sind der Meinung, daß das Leben von Randfiguren wie uns dreien und Emile nicht wichtig ist. Wichtig ist, was Gabrielle geschrieben hat, ihr wahres Leben liegt in ihren Schriften.«
»Noch ein Bier?«
»Gleich«, sagte Anne.
»Sie setzen also voraus, daß Gabrielle ihr Leben zum Thema gemacht hat. Warum ist nichts davon je zum Vorschein gekommen?
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Warum wußte niemand davon bis zu dem Moment, als sie Ihnen die Papiere in Kensington übergab?«
»Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, Emmanuel Foxx, das große Genie, hätte es ertragen oder zugelassen, daß die Frau an seiner Seite selbst schrieb. Er war der Schriftsteller – sie bestenfalls seine Muse, in Wirklichkeit aber eher seine Handlangerin, um nicht zu sagen Dienerin. Sie hielt ihr Schreiben geheim, versteckte es. Ich weiß nicht, wann sie zu schreiben begann. Niemand weiß das. Möglich, daß sie den größten Teil nach Foxx’ Tod schrieb, als sie allein in Paris lebte. Und als sie fertig war damit, hat sie vielleicht beschlossen, nach England zurückzukehren. Möglicherweise wollte sie es aber auch in England beenden. Niemand kann das wissen.«
»Können denn die Papiere keinen Aufschluß darüber geben? Das Alter des Papiers, die Tinte, Wasserzeichen und dergleichen? Ist Ihnen nichts aufgefallen?«
»Nein«, sagte Anne. »Lassen Sie uns doch noch ein Bier trinken.
Es ist so schön, bei einem Drink zu plaudern. Damals in London kam ich mir vor, als hätte ich irgendeinen göttlichen Befehl auszuführen, und schaffte die Papiere derart hastig zur Bank, daß ich kaum einen Blick darauf geworfen habe.« Anne kämpfte sich aus dem Sessel, in dem sie so gemütlich gesessen hatte, und folgte Kate in die Küche.
»Mein Gedanke war«, sagte sie zu Kates Rücken, während Kate die Bierflaschen öffnete, »daß wir sie uns gemeinsam ansehen, wenn wir sie von der Bank holen.«
»Wo ist die Bank?« frage Kate, als sie es sich wieder bequem gemacht hatten. Am Ende des Korridors hörte sie das Telefon klin-geln. »Herrliche Erfindung, diese Anrufbeantworter«, sagte Kate.
»Ich war sehr dagegen, so wie ich gegen alle entmenschlichten Neuerungen bin, aber am Ende streckt man doch die Waffen und gibt zu, daß sie ihre Vorteile haben. Ich habe schon ganze Konferenzen organisiert, ohne je direkt mit den anderen Beteiligten zu sprechen.
Bedeutet das nun Fortschritt für die Menschheit oder Untergang, oder geht es einfach nur um die Bequemlichkeit?«
»Die Bank ist in England«, sagte Anne und lächelte Kate an, um ihr zu signalisieren, daß sie in puncto Anrufbeantworter ganz ihrer Meinung sei, jedoch standhaft jeder Versuchung widerstehen würde, das anstehende Thema aufzuschieben. »In London. Die nächstbeste, die ich damals finden konnte. Ich habe all die Jahre die Gebühren für den Safe bezahlt, was eine ganz schöne Bürde war, aber Eleanor, Gott segne sie, steuerte etwas bei, seit sie die Geschichte der Papiere 126
kennt. Sie hat mir sogar eine Summe als Rückzahlung gegeben.
Eleanor ist großartig. Wirklich großartig.«
»Ich mochte sie sehr«, sagte Kate. »Bin ich eingeladen, Sie nach London zu begleiten? Sind wir beide die ersten, die sich Gabrielles Schriften ansehen?«
»So ist es. Ich habe erwogen, Eleanor zu fragen, aber sie ist ein wenig zu alt, um in der Welt herumzukutschieren, sosehr ich es auch als ihr Recht empfinde. Natürlich war es Sigs Geld, aber Eleanor hatte das Gespür für Gabrielle und Nellie. Eleanor hat immer das richtige Gespür gehabt, außer bei der Wahl ihres Ehemanns. Andererseits, hätte sie Sig nicht geheiratet, wäre sie nie in der Lage gewesen, den Foxx’ zu helfen.«
Kate hatte inzwischen begriffen, daß Anne sich zwar den Anschein gab, blind draufloszuplappern, in Wirklichkeit aber Themen, Beobachtungen und Tonfall so sorgfältig orchestriert waren wie die Partitur einer Sinfonie. Kate stellte ihr Glas ab und beugte sich nach vorn, um Anne sowohl mit Körpersprache wie mit Worten zu kon-frontieren.
»Hören Sie zu, Anne: Ich bin von Ihnen allen dreien geleimt worden – von Ihnen, von Dorinda und von Nellie, und zwar äußerst raffiniert. Ich will nicht sagen, daß ich mich betrogen fühle, das wäre ein bißchen zu schroff und nicht ganz akkurat ausgedrückt, aber ich habe das untrügliche Gefühl, daß mir noch eine sehr verblüffende Offenbarung bevorsteht. Finden Sie nicht, wir sollten es hinter uns bringen? Das heißt natürlich, falls Sie und Dorinda und Nellie beschlossen haben, daß ich es von Ihnen erfahren soll und heute der richtige Tag ist.«
»Sie sind wirklich schwer zu täuschen«, sagte Anne lachend.
»Eigentlich hätten Sie mich jetzt nach Sig fragen müssen. Das wäre Ihr nächstes Stichwort gewesen: eine Frage nach Eleanor und Sig.
Ich erledige die Dinge immer gern schön der Reihe nach.«
»Das«, sagte Kate, »ist nicht zu übersehen. Gut also, gehen Sie davon aus, daß Ihnen die richtige Frage zu Eleanor und Sig gestellt wurde. Wie zum Beispiel: Alles Interessante haben Sie in Ihrem Memoir abgehandelt – was sollte Sie die Beziehung der beiden also jetzt noch scheren?«
»Ich habe Eleanor das Memoir gezeigt oder vielmehr vorgelesen.
Zu der Zeit war sie erst neunzig, das heißt, noch nicht ganz neunzig, aber sie wollte lieber zuhören. Eleanor war immer eine gute Zuhörerin. Ich glaube fast, Zuhören war ihre Hauptbeschäftigung, natürlich 127
neben ihrer Aufgabe, allen um sie herum das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.« Anne nahm einen Schluck Bier. »Eleanor mochte meine Geschichte. Ich entschuldigte mich für das, was ich über die Großherzigkeit der Goddards gesagt hatte; als ich es ihr vorlas, empfand ich es plötzlich als engherzig und undankbar, aber Eleanor wollte nichts von meiner Entschuldigung wissen. ›Du hast es genau richtig empfunden, Anne‹ sagte sie. ›Und Gabrielle ebenso.
Ohne es zu wissen, habt ihr alle die Wahrheit geahnt. Bist du nie auf den Gedanken gekommen?‹ fragte Eleanor mich. › Auf welchen Gedanken?‹ wollte ich natürlich wissen.«
»Noch ein Vater, von dem keiner weiß?« fragte Kate.
»Sie sind wirklich klug«, sagte Anne. »Ich hatte natürlich Nellies Beispiel nicht vor Augen – so wie Sie. Deshalb kam ich nicht darauf.
Ich hatte überhaupt keine Ahnung, worauf Eleanor hinauswollte, und die arme Eleanor dachte wohl, sie hätte am besten gar nicht davon angefangen. Schließlich erzählte sie es mir dann doch. Ich glaube, das wollte sie schon lange. Im Alter hat sie den Mut zur Ehrlichkeit gefunden – mit sich und den anderen –, den Mut, mit allen Lebenslügen Schluß zu machen. Nun, Sie haben es jedenfalls schnell erraten.«
»Ich war ja nicht beteiligt«, sagte Kate. »Es ist leicht, Dinge zu durchschauen, wenn man selbst emotional nicht verstrickt ist.«
»Sig war mein Vater. Deshalb nahmen mich die Goddards so bereitwillig bei sich auf, obwohl meine Mutter große Vorbehalte hatte.
Aber wenigstens war es keine Wohltätigkeit. Was ich nämlich nicht verstehen konnte, war, warum meine Mutter bereit war, Almosen zu nehmen. Sie war so stolz, so auf ihre Unabhängigkeit bedacht, wollte ihren Kopf hoch tragen können, wie sie immer sagte. Aber wenn er mein Vater war, schuldete er mir etwas. Nur mir – ihr niemals. Sie nahm nie auch nur das Geringste von ihm an und hielt große Distanz zu ihm, wenn sie sich von Zeit zu Zeit über den Weg liefen.«
»Er hat nicht auf Dorindas Hochzeit mit ihr getanzt?« fragte Ka-te.
»Nein, das war jemand anderes. Ich glaube, an diesem Abend hat sie sich einen Moment von Selbstvergessenheit gegönnt und die Affäre mit Sig ganz verdrängt. Sie war als meine Mutter eingeladen, weil ich so eng zur Goddard Familie gehörte, und damit hatte es sich.
Merkwürdig, daß Sie ausgerechnet danach fragen.«
»Das Tanzen Ihrer Mutter hat mich sehr beeindruckt«, sagte Ka-te. »Weiß Dorinda Bescheid?«
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»Dorinda und Nellie wissen es beide. Wir erzählen uns alles, was wert ist, erzählt zu werden.«
»War Sig noch am Leben, als Sie Eleanor Ihr Memoir vorgelesen haben?«
»Da war er schon lange tot. Ich denke noch oft darüber nach –
über diese eigenartige Geschichte, aber sie belustigt mich auch: Sig wollte immer einen Sohn, und er bekam zwei Töchter – fast gleichzeitig. Hilda wollte einen Sohn und bekam ebenfalls eine Tochter.
Wir waren uns alle drei nahe, als wir jung waren, und heute sind wir uns wieder nahe. Es ist, als hätte Dorinda eine Zeitlang unter einem bösen Zauber gestanden, der auf uns alle übergriff. Ich bin froh, daß es vorüber ist. Aber eins ist noch wichtiger«, Kate hatte das Gefühl, daß Anne plötzlich Dinge sagte, die sie sich nicht schon vorher zurechtgelegt hatte und vielleicht erst viel später hatte sagen wollen,
»wir haben alle eine zweite Chance, die Chance, unsere Freundschaft zu leben und uns dem zu widmen, was wirklich wichtig ist. Am wichtigsten ist jedoch, daß auch Gabrielle ihre zweite Chance bekommt. Glauben Sie, alle Frauen haben eine zweite Chance, selbst wenn ihnen das Leben nicht mal eine eindeutige erste gegeben hat?«
»Die Geschichte des englischen Romans spricht dafür«, sagte Kate, die spürte, daß eine Pause, in der es nicht um Persönliches ging, beiden guttäte. »Von seinen ersten Anfängen an, von ›Tom Jones‹ und ›Moll Flanders‹ bis hin zu Hardy, ging es immer um zweite Chancen. Jane Austens ›Überredung‹ ist ein schönes Beispiel.
Mit Hardy verloren die zweiten Chancen dann allmählich an Bedeutung. Denken Sie an ›Der Bürgermeister von Casterbridge‹, das wohl offenkundigste Beispiel, aber vielleicht gibt es noch mehr. Ich habe den Eindruck, daß heute die zweiten Chancen ein Comeback haben, zumindest für Frauen.« Kate trank ihr Bier und lächelte Anne zu.
»Was sagte Dorinda dazu, daß Sig Ihrer beider Vater ist?« fragte sie.
»Sie sagte, das beweise wieder einmal die Kraft der weiblichen Gene, zumindest bei Töchtern, denn Dorinda und ich sehen uns nicht ähnlich, ähneln dagegen beide unseren Müttern. Nellie sieht Sig am ähnlichsten, aber sie ist schließlich die Tochter seiner Schwester.
Dorinda sagte sehr nett: Auch wenn wir gewußt hätten, daß wir Halbschwestern sind – wir hätten uns nicht näher sein können. Das stimmt, und jetzt, wo wir es wissen, ist es noch wahrer.«
»Daß Nellie mit den Goddards verwandt ist, sieht jeder«, sagte Kate. »Aber Sie sind genauso Nellies Kusine wie Dorinda. Das 129
scheint wirklich zu beweisen, wie unwichtig der Vater ist.«
»Außer für die Väter selbst. Was Nellie Ihnen über sich erzählt hat, spielte für Emile eine enorme Rolle, das kann ich Ihnen versichern. Und wäre Eleanor eine andere gewesen, hätte die Tatsache, daß ihr Mann mein Vater war, für sie ebenso eine enorme Rolle gespielt.«
»War Ihre Mutter wirklich verheiratet?«
»O ja. Ich glaube, sie verachtete meinen Vater. Aber niemand sprach je über ihn. Wenn ich sie nach ihm fragte, sagte sie, er sei nicht wichtig für mich und ich solle mich nicht verrückt machen seinetwegen, was wahrer war, als ich mir damals hatte träumen lassen. Er verschwand, als meine Mutter schwanger wurde. Er wollte keine Verantwortung tragen. Nicht, daß er gewußt hätte, daß ich nicht von ihm war. Ich habe Eleanor danach gefragt, und sie sagte, er habe es nie erfahren, und meine Mutter habe es dabei belassen. Er starb wenige Jahre nach meiner Geburt. Ich glaube nicht, daß die Schwestern meiner Mutter die Wahrheit kannten, ganz bestimmt nicht. Sie dachten wahrscheinlich einfach, meine Mutter habe es schlau eingefädelt, daß die Goddards mich aufnahmen.«
»Meinen Sie, daß Eleanor von Anfang an Bescheid wußte?«
»O ja. Sie hat meiner Mutter zu Jobs verholfen, die ihr lagen und wo sie gut verdiente. Meine Mutter ist erst vor ein paar Jahren gestorben, und sie hat mir einen hübschen Batzen vererbt. Ich wünschte nur, sie hätte auf ihre alten Tage etwas verschwenderischer gelebt, aber Sparsamkeit war eben ihre Leidenschaft. Als Dorinda wollte, daß ich bei ihnen lebte, ergriff Eleanor die Gelegenheit sozusagen beim Schopfe – obwohl sie es so darstellte, als habe Dorinda nur wieder einmal ihren Kopf durchgesetzt. Ich habe kein einziges Wort an dem Memoir verändert, als ich die Wahrheit erfuhr. Und hätte ich sie schon vorher gewußt – meine Schilderung wäre keinen Deut anders ausgefallen. Ich glaube, das ist eine gute Lektion für das Schreiben von Biographien. Letzten Endes sind Tatsachen gar nicht so wichtig.«
»Ich fürchte, meine Rolle besteht darin, aufdringliche Fragen zu stellen«, sagte Kate. »Aber Sie sagen, Ihre Mutter habe Ihnen einen hübschen Batzen hinterlassen; Nellie hat mir erzählt, Sie seien ziemlich knapp bei Kasse. Hübsche Batzen sind natürlich relativ, aber sagte Nellie die Wahrheit?«
»Sie übertreibt ein wenig. Ich lebe mit Len zusammen – dem aus dem Memoir. Er war mit jemand anderem verheiratet, aber es ging 130
auf Dauer nicht gut. Er hat nur eine kleine Rente, und wir machen gern teure Urlaubsreisen. Außerdem kommt er gern mit, wenn ich auf Geschäftsreisen gehe. Ich glaube, Nellie wollte Sie mit ihrer Bemerkung nur anspornen, Gabrielles Papiere zu veröffentlichen.
Nun, wenn Sie sich dazu entschließen, wird mir das zusätzliche Geld tatsächlich sehr willkommen sein. Auch Nellie kann es gut gebrau-chen, nicht, daß sie es dringend nötig hätte, aber ihr Gehalt ist nicht allzu hoch, und ihr Mann verdient sehr wenig mit seinen Büchern.
Wir alle hoffen, daß Sie Lust haben, die Papiere zu veröffentlichen.«
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich noch einmal mit Dorinda spreche, ehe ich mich entschließe, mit Ihnen nach London zu fahren?«
»Treffen Sie sich mit Dorinda, so oft Sie wollen. Im Grunde müssen Sie auch gar nicht mit nach London. Ich könnte hinfliegen und die Papiere schicken. Aber mir wäre es lieber, Sie kämen mit.«
»Wenn ich bei diesem ziemlich verrückten Plan mitspiele, komme ich auch mit«, sagte Kate. »Schließlich habe ich mir das ganze Jahr freigenommen, und wofür, frage ich Sie, wenn nicht, um ein wenig von der Welt zu sehen? Außerdem bin ich wirklich wild auf diese Papiere – ich verzehre mich förmlich danach, könnte man sagen. Also fahre ich mit.«
Anne erhob sich, um zu gehen. »Es war ein wunderschöner Nachmittag. Und wunderschön, Sie kennenzulernen, wie die Gouvernante im Lied zu den Kindern des Königs von Siam sagt. Wir drei haben das als Kinder zusammen gesehen.« Anne begann zu kichern.
»Mir fällt gerade ein, was Dorinda sagte, als ich ihr erzählte, daß Sig mein Vater sei. Aha, sagte sie. Ich hätte es erkennen sollen – an dem verwünschten Zug in deinem Auge und dem albernen Hängen deiner Unterlippe. Wir hatten ›Heinrich IV‹, Teil I in der Schule gelesen.
Natürlich haben Dorinda und ich uns ausgemalt, wie er meine Mutter verführte, die ihm in seinem Haus oder bei Freunden über den Weg gelaufen sein muß. Aber man braucht nicht viel Phantasie, um es sich vorzustellen. Er war ein Schwerenöter, und noch dazu ein sehr charmanter, und meine Mutter muß einige tiefe Sehnsüchte gehabt haben, die sie nur zum Teil unterdrücken konnte. Das fiel mir ja auch auf, als sie tanzte. Ich habe sie nie gemocht – und ich glaube, auch sie mochte mich nicht besonders, aber ich bewunderte sie. Ich bin froh, daß ich sie tanzen sah.«
Kate begleitete Anne zur Tür und versagte sich die vielen Fragen, die sie noch hatte. Eigentlich war es sehr erstaunlich, wieviel Ver-131
trauen die drei zu ihr hatten. Und da die Freundinnen so fest entschlossen waren, sich und Gabrielle eine zweite Chance zu geben und Kate als ihr Mittel zum Zweck auserkoren hatten, gab es keinen Weg zurück. Sie würde Dorinda noch einmal treffen und vielleicht –
aus reinem Vergnügen und weil sie womöglich nicht mehr lange die Gelegenheit dazu hatte – auch Eleanor. Danach würde sie mit Anne nach London reisen. Und dann? Nun, ihr Entschluß stand fest: Entweder würde sie tun, was die drei ihr vorgeschlagen hatten, oder überhaupt nichts. Die Geschichten, die sie von ihnen gehört hatte, blieben ihr Geheimnis.
Daß die drei ihr vertrauten, bewies ihr gutes Gespür, und deshalb war Kate ihnen natürlich zugetan. Daß Stück für Stück noch ganz andere Geheimnisse ans Tageslicht kommen könnten, war nicht auszuschließen. Aber wenn man sich einmal entschlossen hat, jemandem zu vertrauen, muß man auch dabei bleiben. Und solange dieses Vertrauen nicht eindeutig verraten wird, gibt es keinen Weg zurück.
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