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Am Abend fragte sie Reed, ob er zufällig einen Stadtplan von Genf habe. Sie hätte natürlich auch in die nächste Buchhandlung gehen und sich den neuesten Reiseführer besorgen können, aber Großmut und ihre insgeheime Bewunderung für Reeds strikte Weigerung, sich ihren Vorstellungen darüber zu fügen, wie die Dinge des Lebens am praktischsten zu handhaben seien, bewogen sie, Reed zu fragen. Kate war fest davon überzeugt, daß es in beständigen Ehen immer einen gab, der alles hortete – Stadtpläne, Reiseführer, Theaterprogramme, denkwürdige Zeitungen, unzählige Fotos und alle möglichen Reise-andenken. In ihrer Ehe war Reed der Sammler. Da sie genug Platz hatten, beschränkte sich Kates Nörgeln auf nicht mehr funktions-tüchtige Küchenutensilien und zerbrochene Geräte. In einer vorbild-lichen Gesellschaft würde man die Geräte reparieren und nicht weg-werfen, um die riesigen Müllberge nicht noch zu vergrößern. Aber da es sich in den Vereinigten Staaten niemand leisten konnte, Geräte zu reparieren oder jemand anderen dafür zu bezahlen, sah Kate wenig Sinn darin, sie aufzubewahren. Reed und sie waren jedoch zu der stillschweigenden Übereinkunft gekommen, daß sie sich jeden Kommentars enthielt, wenn er alle möglichen Dinge hortete, sie jedoch das Recht hatte, alles Zeug, das nicht mehr funktionierte, fortzuwerfen – eine Regelung, die das gemeinsame Leben erleichter-te. Und die auch der Grund dafür war, daß Reed nach einigem Her-umstöbern mit einem in Französisch abgefaßten Stadtführer für Genf aufwarten konnte. Reed besaß ihn seit der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als er mit seinen Eltern diese Stadt besucht hatte. ›Les Guides Bleus Illustrés: Genève et ses environs‹ lautete der Titel des 1937 erschienenen Führers. Die Schweizer, deren Land durch den Krieg nicht zerstückelt wurde, hatten auch keine neuen Landkarten gebraucht, als er zu Ende war. In der Schweiz ändere sich nie etwas, bemerkte Reed, während er den Führer durchblätterte. Zwar müsse man wohl davon ausgehen, daß das in dem Führer zitierte »Palais de la Société des Nations« nicht mehr den Völkerbund beheimate, sondern dieser irgendeiner anderen internationalen Organisation Platz gemacht habe. Ansonsten könne man sich aber darauf verlassen, daß wenig, wenn überhaupt etwas, anders sei. Stillstand, schloß er, sei das Wesen der Schweiz.

»Haben die Frauen inzwischen das Wahlrecht?« fragte Kate.

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»Wahrscheinlich, obwohl es hier und dort vielleicht noch einen Kanton gibt, der stur geblieben ist. Ich hoffe, du fährst nicht in die Schweiz, um eine Revolution anzuzetteln. Dafür gibt es geeignetere Orte.«

»Ich fahre in die Schweiz, um mit einer Frau zu sprechen, die es für richtig hält, Briefe von Leuten, die mit berühmten Schriftstellern in Verbindung standen, zu verbrennen. Ich hoffe nur, daß sie mit mir redet, nicht zuletzt deshalb, weil ich ihr in einem Teil meines Selbst, das sich nicht um die Wissenschaft schert, recht gebe. Aber nur zum Teil, wie gesagt: denn Gabrielle ist tot, geschützter könnte ihre Privatsphäre gar nicht sein. Wir dagegen müssen in einer düsteren Welt weiterkämpfen, die sie mit ihren privaten Äußerungen vielleicht hätte erleuchten können.«

»Merk dir das für die Frau in Genf«, sagte Reed. »Es klingt sehr gut.«

Auch Kate war in ihrer Jugend in Genf gewesen, erinnerte sich aber an wenig, nur den See, die Brücke darüber und die Insel, die nach Rousseau benannt war und sich mit seiner Statue schmückte.

Vage erinnerte sie sich an eine Gedenkstätte für die Reformation mit einer Statue von Calvin, gegen den sie seit jeher eine tiefe Abneigung verspürte. Rousseau hatte sie in ihrer frühen Jugend bewundert und ihm erst ihre Bewunderung entzogen, als sie erkannte, welches Schicksal er Sophie zudachte, während er all seine Phantasie und Energie der Erziehung Emiles widmete.

Kate war im Grunde eine widerwillige Reisende; sie fuhr zwar klaglos überallhin, wenn es einen Grund dafür gab, begann sich aber blitzschnell zu langweilen, wenn’s an Besichtigungen ging, ein Unterfangen, dem sich ihre Mutter mit der ganzen Verzweiflung jener Menschen verschrieben hatte, die sich alles vermeintlich Bedeu-tungsvolle auf der Welt aneignen wollen, aber nicht bereit sind, den eigentlichen Preis dafür zu zahlen, den des Risikos. Irgendwann einmal, dachte Kate, wird es etwas geben, das meiner Mutter gefallen hat und das auch ich schätzen lerne. Was das sein könnte, kann ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen.

Genf wurde Kate durch die Erinnerung an ihre Mutter nicht angenehmer. Deshalb ging sie gleich an die Arbeit. Nachdem sie sich in dem bewundernswerten Schweizer Hotelzimmer eingerichtet und auch die wahrhaft schweizerische Toilettenspülung ausprobiert hatte, die, weil völlig geräuschlos, auf eigenartige Weise irritierend war, rief sie Nellie an. Nellie war freundlich, wenn auch förmlich, und lud 108

Kate in ein Restaurant zum Abendessen ein. Kate war einverstanden, notierte sich Name und Adresse und setzte sich dann hin, um ihre Gedanken zu sammeln. Wenn man so viele Fragen hatte, war es ratsam, sie zu ordnen.

Als sie jedoch in dem Restaurant Platz genommen - Nellie schien sich hier ganz zu Hause zu fühlen – und bestellt hatten und Kate eine größere Portion serviert wurde, als sie normalerweise in einer Woche aß, stellte sich heraus, daß Nellie es eher vorzog, Fragen zu stellen als zu beantworten. Wie Dorinda und Anne war Nellie über sechzig, aber Kate konnte nur schwer den Eindruck abschütteln, sie sei die jüngste der drei. Sie hatte die englischen Farben und die Haut der Großmutter geerbt und hätte jeden Alters sein können – eine Minute dieses, die nächste ein anderes. Dorinda dagegen hatte trotz ihrer unveränderten Gesichtszüge den Eindruck vermittelt, es sei ihr nur recht, daß man ihr das Alter ansah – als empfände sie es als Erleichterung, nicht mehr jung zu sein.

Zu Kates Erleichterung wollte Nellie gern reden – aber, wie sich bald herausstellte, nicht über Gabrielle.

»Ich habe mit Dorinda über Sie gesprochen«, sagte Nellie. »Ich rief sie vor ein paar Tagen an, und sie war erschrocken, daß ich am Telefon war. Dorinda und ich gehören zu der Generation, die Über-seegespräche immer noch in Hochspannung versetzen. Für mich hat sich das durch meine Arbeit natürlich inzwischen geändert. Ich rief sie übrigens Ihretwegen an. Ich wollte mehr über Sie wissen. Ich hoffe nur, Sie haben jetzt nicht das Gefühl, unter falschen Vorausset-zungen hergekommen zu sein.«

»Nicht, wenn wir auch über Gabrielle sprechen können«, sagte Kate. »Später, wenn es Ihnen lieber ist.«

»Natürlich. Dorinda sagte, Sie seien Detektivin, Privatdetektivin.«

»Völlig falsch«, sagte Kate heftiger als angemessen. »Tut mir leid, wenn ich schroff klinge, aber ich bin wirklich keine Detektivin und schon gar keine Privatdetektivin. Die werden schließlich bezahlt.«

»Ich bin bereit zu zahlen«, sagte Nellie zu Kates Entsetzen. War es nicht an ihr, Fragen zu stellen? War sie nicht diejenige, die die Strapaze auf sich genommen hatte, den Ozean zu überqueren –

schließlich waren Flugreisen heutzutage nirgends mehr auf der Welt ein Vergnügen. Und schließlich war sie es, die Rousseau, Calvin und geräuschlose Toilettenspülungen über sich ergehen lassen mußte.

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»Nellie«, sagte Kate, wobei sie all ihre Geduld zusammennahm, »ich will kein Geld. Ich nehme nie Geld, außer meinem Gehalt, das ich von der Universität für die Erfüllung klar definierter akademischer Pflichten bekomme. Ich hatte gehofft«, fügte sie mit der Absicht hinzu, das Gespräch auf Gabrielle zu lenken, »etwas Geld, eine bescheidene Summe, zu verdienen, wenn ich die Biographie Ihrer Großmutter schreibe, aber ansonsten bin und bleibe ich eine Amateu-rin.«

»Aber Sie haben Verbrechen aufgeklärt, sogar Morde, nicht wahr?«

Kate fiel auf, daß Nellie, die so viele Sprachen beherrschte, hin und wieder in einen ausländischen Akzent verfiel. »Nicht unbedingt«, sagte Kate. »Das heißt, ja doch, aber unter Vorbehalt.«

»Vorbehalt?« Nellie war verwirrt.

»Ein Witz«, sagte Kate. »Von Woody Allen. Seine Antwort auf die Frage, ob er Jude sei.«

»Ich verstehe«, sagte Nellie, der die Pointe offenkundig entgangen war. »Sie spielen Detektivin, wenn Sie Lust dazu haben.«

»Mehr oder weniger. Aber warum sprechen wir nicht über Sie?

Sie können doch kaum annehmen, daß ich von New York nach Genf geflogen bin, um über mich selbst zu sprechen.«

»Ich biete Ihnen einen Handel an«, sagte Nellie.

»Einen Handel?« Kate stellte fest, daß sie, was zwar selten geschah, an dem Punkt angelangt war, wo sie nur noch die Worte ihres Gegenübers wiederholte. Und wenn das geschah, war es immer ein untrügliches Zeichen dafür, daß sie sich unglücklich fühlte.

»Lassen Sie uns einfach plaudern«, sagte Nellie. »Ich bin eine schlechte Gastgeberin, Ihnen so zuzusetzen. Waren Sie früher schon einmal in Genf?«

»Ja, einmal«, sagte Kate. »Vielleicht können wir nach dem Essen zu dem See mit Rousseau in der Mitte laufen, an den ich mich noch erinnere. Sind die Straßen in Genf um diese Zeit noch sicher?«

»Die Schweiz ist nirgendwo mehr so sicher, wie sie einmal war«, sagte Nellie, »aber immer noch sicherer als die meisten anderen Orte dieser Welt.«

»Wie lange arbeiten Sie schon in Genf?« fragte Kate, und in still-schweigendem Einverständnis sprachen sie von anderen Dingen.

Nellie bezahlte die Rechnung, und sie wanderten durch die Stra-

ßen, wie Kate annahm, in Richtung Rousseau-See. Das Laufen schien eine befreiende Wirkung auf Nellie zu haben, denn plötzlich 110

war sie bereit, zur Sache zu kommen. »Sie werden sich bestimmt fragen, welchen Handel ich mit Ihnen abschließen möchte – was ich anzubieten habe.«

»Ja, allerdings«, sagte Kate.

»Daß ich die Briefe verbrannt habe, tut mir leid. Das heißt, Ihretwegen tut es mir leid. Denn ich bin immer noch davon überzeugt, daß ich das Richtige getan habe. Meine Großmutter war ein sehr zurückgezogener Mensch. Sie hätte die Vorstellung gehaßt, daß ihre Briefe Jahre später von völlig fremden Menschen gelesen werden, die doch nur Interesse an ihrem Mann haben. Das müssen Sie mir wirklich glauben, es hätte ihr sehr widerstrebt.«

»Das glaube ich Ihnen. Aber darum geht es ja nicht. Ich kann Menschen, die Briefe verbrennen, in gewisser Weise besser verstehen als Menschen, die sie aufbewahren. Ich kenne einen Dichter, seine Gedichte gefallen mir übrigens überhaupt nicht, der von all seinen Briefen Durchschläge aufbewahrt, weil er davon überzeugt ist, daß man einmal eine Biographie über ihn schreiben wird. Tatsache ist, daß genau der Impuls, der ihn die Durchschläge seiner Briefe aufheben läßt, auch verantwortlich für sein Scheitern als Dichter ist.«

»Großmutter war keine Dichterin, und sie bewahrte auch keine Durchschläge auf.«

»Verzeihen Sie, wenn ich abgeschweift bin«, sagte Kate. »Ich wollte damit nur sagen, daß die Neigung, Briefe zu verbrennen der Bedeutung dieser Briefe diametral entgegengesetzt sein kann.«

»Ja«, sagte Nellie. »Ich verstehe, was Sie meinen. Sie sind eine sehr kluge Frau.«

Entgegen ihrer sonstigen Art ließ Kate sich das Kompliment gefallen. »Ich habe das sichere Gefühl, daß Ihre Großmutter eine viel interessantere Person war als alle glaubten. Wahrscheinlich sogar interessanter als ihr berühmter Mann. Aber in der Vergangenheit hatten Frauen oft die bedauerliche Tendenz, in Anonymität und Schweigen zu versinken, weshalb man manchmal einfach nicht widerstehen kann, ihre Stimmen und Geschichten wieder aus der Versenkung zu holen.«

»Aber manchmal enthalten ihre Geschichten auch die Geschichten anderer Menschen – Geschichten, die zu erzählen niemand das Recht hat, finden Sie nicht?«

»Warum? Hat nicht jeder Mensch das Recht auf seine Geschichte?« fragte Kate. »Emmanuel Foxx hat seine Geschichte erzählt –

und obendrein noch so, als sei es die seiner Frau. Ich finde, es ist an 111

der Zeit, daß wir ihre eigene Version hören, meinen Sie nicht?«

»Ich dachte nicht an meinen Großvater«, sagte Nellie. »Was man über ihn erzählt, ist mir egal. Ich dachte an Emile.«

»Emile?« fragte Kate und starrte hinaus zu der Statue Rousseaus oder vielmehr dorthin, wo sie deren Standort auf der Insel vermutete, und fragte sich, was in aller Welt Nellie mit Rousseaus berühmtem Buch zu schaffen habe. Aber im nächsten Moment fiel bei Kate der Groschen. »Natürlich! Emile. Der Sohn. Ihr Vater!« hörte sie sich wie eine Schauspielerin in einem schlechten Stück sagen. »Verzeihen Sie mir«, fügte sie hinzu. »Einen Moment lang hatte ich ganz vergessen, wer Emile war.«

»Alle haben ihn vergessen«, sagte Nellie. »Und genau das ist der Punkt, verstehen Sie?«

»Eigentlich nicht«, sage Kate. Aber es stimmte. Es war wirklich erstaunlich, welch geringe Rolle Emile – trotz Foxx’ großer Freude über seine Geburt – in allen Biographien spielte. Als Anne damals ihren Schlafanzug kaufte, mußte sogar sie einen Moment überlegen, wer er war. Es gab wohl kaum etwas Schlimmeres, als der Sohn eines berühmten Vaters zu sein.

»Ich begleite Sie zu Ihrem Hotel«, sagte Nellie, drehte sich um und ging mit Kate in die entgegengesetzte Richtung. »Sie sind bestimmt müde. Die Zeitverschiebung und alles – das bringt den Körper aus seinem natürlichen Rhythmus. Wollen wir uns morgen weiter unterhalten?«

»Ich habe hier ja sonst wenig zu tun«, sagte Kate. »Eigentlich gar nichts. Ich bin froh, wenn ich so lange wie möglich mit Ihnen sprechen kann. Es stimmt also – Sie haben die Briefe wirklich verbrannt?«

»Ja«, sagte Nellie. »Ich habe sie verbrannt. Alle, an die ich he-rankommen konnte.«

Kate wollte sie fragen, ob sie Annes Memoir gelesen habe. Ob Gabrielle mit Nellie je über ihre Papiere gesprochen habe. Ob Nellie an dem Geld interessiert sei, das möglicherweise damit zu verdienen sei. Aber all diese Fragen mußten bis morgen warten.

»Arbeiten Sie den ganzen Tag?« fragte Kate.

»Ich werde mir den Nachmittag freinehmen. Wir besichtigen die Stadt, und dabei unterhalten wir uns. Das Reden fällt einem leichter, wenn man sich etwas ansieht, finden Sie nicht?«

Kate konnte schlecht einschlafen – fremdes Bett, fremdes Land, befremdliche Situation. Aber Smiley hatte schließlich auch selten 112

genug geschlafen. Psst, psst, psst, sagte sie zu sich selbst. Ganz still!

Le Carré wußte natürlich, daß Christopher Robins England längst untergegangen war – so wie Kates WASP-Amerika –, gottlob, konnte man nur sagen. Aber welcher Mensch beschwor nicht zuweilen, wenn auch ironisch, die gute alte Zeit! Beim Geheimdienst, dachte Kate, steht Rußland gegen Amerika – und bei mir die Männer gegen die Frauen. Wer weiß, welche Parteien sich als erste versöhnen?

Und über dieser Frage schlummerte sie friedlich ein.

Nellie und Kate begannen ihren Nachmittag mit einem Lunch in einem Terrassencafe und betrachteten die vorüberziehende Szenerie.

Zumindest taten sie so, aber nach dem Essen hätte Kate nicht sagen können, ob eine Herde Elefanten vorübergezogen war. Ihr Blick war so auf Nellie fixiert, als könne ihr Gegenüber von einem Moment zum anderen eine völlig andere Gestalt annehmen. In gewisser Weise geschah das auch.

»Emile ist nicht im Krieg gestorben«, sagte Nellie.

Kate starrte sie an. Diese Frau ist über sechzig, mußte sie sich ständig mahnen. Annes Memoir hatte Kate so beeindruckt, daß für sie die drei Frauen irgendwie immer noch junge Mädchen waren.

Und selbst während sie Nellie, die beim besten Willen kein Teenager war, jetzt anstarrte, kam dieses Gefühl nicht ins Wanken. Vielleicht kommt das daher, sagte sich Kate, daß Dorinda und in gewisser Weise auch Nellie mir nicht vorkommen, als blickten sie ihrem Le-bensabend entgegen, sondern als begännen sie ihr Leben noch einmal von vorn, nun, nicht gerade von vorn, aber als gäben sie ihm eine neue Richtung. Dorinda hatte es ja selbst mehr oder weniger so ausgedrückt. Aber Emile, dachte Kate und rechnete schnell nach, mußte mindestens dreiundachtzig sein, vorausgesetzt, er lebte noch.

Eine gewagte Annahme.

»Hat ihn in letzter Zeit jemand gesehen?« fragte Kate.

»Nein, in letzter Zeit nicht«, sagte Nellie. »Emile starb vor einigen Jahren. Aber ich habe ihn ungefähr zehn Jahre nach seinem Verschwinden getroffen. Als ich in London war, um Gabrielle zu besuchen – nach Dorindas Hochzeit. «

»Wußten Sie vorher schon, daß er noch lebte?«

»Keine von uns wußte etwas Genaues. Er war fortgegangen, um sich der Résistance anzuschließen. Das war um die Zeit, als ich nach Amerika ging. Zumindest nahmen das alle an. Vielleicht sollten wir das ja auch. Kurz danach bekam Gabrielle noch ein oder zwei Briefe von ihm – ja, auch die habe ich verbrannt-, und 1942 starb mein 113

Großvater. 1944 bekam Gabrielle einen Brief von einem Mann, der behauptete, Emile sei bei einem Überfall auf den Bauernhof, wo er sich versteckt hielt, ums Leben gekommen. Der Briefschreiber fügte noch hinzu, er habe einige von Emiles persönlichen Dingen und würde sie Gabrielle schicken. Falls er nicht überleben sollte, sei dafür gesorgt, daß sie ihr nach dem Krieg zukämen. Er überlebte, und nach dem Krieg erhielt Gabrielle ein Päckchen mit Emiles Uhr, einem Babyfoto von mir, das er immer bei sich trug, und ein paar anderen Dingen. Ich glaube, Emile wollte alles loswerden, was ihn an seine Vergangenheit erinnerte.«

Kate versank in Gedanken. »Gibt es irgendeinen Beweis, daß Emile das Päckchen nicht selbst aufgegeben hat?« fragte sie nach einer Weile.

»Meinem Gefühl nach hat er wirklich jemanden damit beauftragt, wahrscheinlich den Mann, der den ersten Brief geschrieben hat.

Warum er mich sehen wollte, werde ich nie verstehen. Daß er mit Gabrielle sprechen wollte, konnte ich nachempfinden – sie hatte ihn vergöttert –, aber warum mich?«

»Sie sehen Gabrielle ähnlich«, sagte Kate. »Zumindest auf den Fotos, die ich von ihr kenne. Vielleicht hatte er wirklich Sehnsucht nach Ihnen, sah in Ihnen aber gleichzeitig das Ebenbild Gabrielles.

Eine romantische Vorstellung.«

»Sehr romantisch«, sagte Nellie und drehte den Stiel ihres Weinglases zwischen den Fingern. »Und wie die meisten romantischen Vorstellungen unwiderstehlich. Sie werden nicht glauben, wie viele Leute mir erzählt haben, ich sei die zweite Gabrielle – Emile sei mit seiner Tochter die Mutter wiedergeboren worden. Selbst ich war immer stolz darauf, daß ich ihr so ähnelte. Nur eins haben die Leute immer übersehen: daß auch Emmanuel Foxx sehr englisch aussah.«

Kate starrte Nellie an, ihr Hirn weigerte sich einen Moment, zu begreifen, was ihr da mitgeteilt wurde. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

Nellie brach es.

»Ich bin überhaupt nicht mit Gabrielle verwandt«, sagte sie. »Jedenfalls nicht blutsverwandt – nimmt man dagegen Liebe als Krite-rium, bin ich ihr sehr verwandt.«

»Gabrielle wußte natürlich Bescheid. Hilda hätte alles getan, um einem Genie ein Kind zu gebären. Ich nehme an, sie verführte kurz darauf Emile, um ihre Affäre zu kaschieren. Aber um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Sie hätte es wahrscheinlich vor Emile und 114

allen anderen verheimlicht – nach einer Weile bestimmt sogar vor sich selbst. Aber mein Großvater konnte seine Häme nicht unterdrü-

cken – sich das stolze Grinsen über seine Tochter nicht vom Gesicht wischen. Oh, gewiß, er sprach stets von mir als seiner Enkelin, aber es war nicht meines Großvaters Art, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Außerdem hatte er sich immer mehr Kinder gewünscht, aber es kam nie dazu. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht sorgte Gabrielle dafür, daß sie nicht mehr schwanger wurde. Emmanuel war bekannt dafür, daß er Verhütungsmittel haßte. Aber vielleicht hat sie es ihm nicht erzählt. Ich bin sicher, sie hat ihm immer nur soviel erzählt, wie sie ihm erzählen wollte.«

»Seit wann wissen Sie es?«

»Wahrscheinlich schon immer. Aber Verleugnung und Verdrängung sind nur zu bequem. Wirklich zur Kenntnis nehmen mußte ich es erst, als Emile 1951, kurz nach Dorindas Hochzeit, mit mir dar-

über redete. Er hatte das Gefühl, sein Leben lang betrogen worden zu sein, und so war es ja wohl auch. Er konnte es einfach nicht ertragen, ständig an seinen großen, interessanten, berühmten Vater erinnert zu werden. Und als der Krieg kam und so viele Dokumente verloren-gingen oder verwechselt wurden – von Menschen oder Ländern ganz zu schweigen –, sah Emile seine Chance gekommen: Er beschloß, zu sterben und ein neues Leben anzufangen.«

»Aber warum hatte er den Wunsch, es Ihnen zu erzählen?«

»Tja, da haben Sie’s. Das ist die Frage, nicht wahr? Er wollte, daß jemand Bescheid wußte. Nun, Gabrielle kannte die Wahrheit ohnehin. Emile bat mich, dafür zu sorgen, daß niemand sonst davon erführe. Er fürchtete, Gabrielle könnte es in einem Brief erwähnt haben. Deshalb wollte er, daß ich alle Briefe, derer ich habhaft werden konnte, verbrannte. Ich bin sicher, daß Gabrielle darüber weder schrieb noch sprach – heute verstehe ich natürlich, daß sie Hilda wegen dieser Affäre so verachtet hat –, aber Emile war wie besessen, alle Spuren seiner Vergangenheit zu vernichten. Ich kann verstehen, warum. Sie nicht auch?«

Kate wußte nicht, ob dies wirklich als Frage gemeint war, und wenn ja, was sie antworten sollte. Aber Nellie, die immer noch den Stiel ihres Weinglases zwischen den Fingern drehte, wartete offensichtlich auf eine Antwort.

»Trotzdem hat Gabrielle Sie sehr geliebt«, sagte Kate schließlich.

»Ich weiß. Heute denke ich oft, wie sehr es sie verletzt haben muß, daß ich unbedingt nach Amerika gehen wollte. Aber das Leben 115

zu Hause war entsetzlich. Wäre ich älter gewesen und nicht so egois-tisch, wie die Jugend eben ist, ich wäre geblieben, um Gabrielle das Leben ein wenig zu erleichtern. Sie muß geahnt haben, wie krank Großvater in Wirklichkeit war. Gabrielle wußte immer alles. Ja, das wußte sie. Aber sosehr ich sie auch liebte, ich konnte es nicht abwarten, fortzukommen. Verstehen Sie, daß ich jetzt das tun muß, was sie von mir wollte? Tief in meinem Herzen weiß ich, daß Gabrielle Emile geschützt hätte. Sie hätte es nicht gewollt, daß sein fingierter Tod an den Tag kommt und er noch mehr verletzt würde als ohnehin.«

Zum ersten Mal, seit sie ihr Essen bestellt hatten, richtete Kate den Blick auf entferntere Dinge – die Straße, die Leute, den Verkehr.

Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ging eine Frau mit einem Kind spazieren – so wie überall in der Welt. Genauso mußte Gabrielle mit Emile spazierengegangen sein, und später mit Nellie. Und nun saß diese Nellie ihr gegenüber und wartete darauf, daß sie etwas sagte. Aber Kate fiel nichts, oder genauer: nichts Passendes ein.

Wenn Reed das hört, dachte Kate, wird er darauf brennen, zu erfahren, was auf Gottes Erdboden es vermochte, mir die Sprache zu verschlagen. Auf einen plötzlichen Schicksalsschlag hätte sie reagie-ren können, auch auf alle möglichen verwickelten und unlösbaren Probleme. Aber bei dieser Geschichte aus der Vergangenheit, die so voll Kummer war von Menschen, die nicht mehr lebten (und zweifellos hatte Emile diesen Schmerz bis zum Schluß empfunden), ver-sagten Kate die Worte.

»Haben Sie je versucht, Emile wiederzusehen?« fragte sie schließlich.

»Nein«, sagte Nellie. »Er heiratete eine einfache Französin, eine Bäuerin im Grunde, und sie lebten irgendwo auf dem Lande. Zum Schluß fand er also doch noch so etwas wie Frieden in seinem Leben. Ich glaube, dort, wo er lebte, war Emmanuel Foxx niemandem ein Begriff. Natürlich gab es auch Touristen in der Gegend, darunter gebildete Engländer, aber sie kamen ihm nicht zu nahe. Außerdem hatte Emile mir erzählt, er tue so, als könne er kein Englisch und fände das Französisch der Engländer schwer zu verstehen.«

»Also spielte er bis zum Schluß ein Spiel.«

»Das war nichts Neues für ihn. Für Emile und mich waren Sprachen immer ein Spiel. Wir konnten ja so viele. Großpapa sagte immer, er wolle kein Englisch in seiner Umgebung hören, das habe er für sein Schreiben reserviert. Nur die englische Sprache seiner Cha-116

raktere solle an sein Ohr dringen. Zu Hause unterhielten wir uns also immer in anderen Sprachen. Gabrielle sprach Englisch mit mir, aber nur, wenn Großpapa nicht in der Nähe war. Es war unsere Geheim-sprache.«

»Ist es verwunderlich, daß sie Sie so liebte, oder empfinde nur ich mit meinem beschränkten konventionellen Verstand das so?«

»Das habe ich mich oft gefragt«, sagte Nellie. »Für mich war sie der Inbegriff von Liebe. Großpapa fand ich spaßig und irgendwie aufregender als Gabrielle, sogar Pa – so nannte ich Emile –, wenn er bei uns war. Es liegt in unserer Natur, daß wir von Männern fasziniert sind, die nur selten auftauchen und herrlich nach Abenteuer riechen. Aber Gabrielle war diejenige, die ich liebte. Als ich nach Amerika kam und Anne kennenlernte, tat sie mir leid, weil es in ihrem Leben keine liebende Mutter gab. Ihre eigene Mutter war streng, überhaupt nicht warmherzig, warnte sie nur ständig vor allen möglichen Gefahren, und Eleanor war eher zurückhaltend; ihre ganze, ziemlich verblendete Liebe sparte sie sich für Dorinda auf, war aber freundlich und gut zu uns dreien. Mich dagegen liebte diese großartige Frau. Als ich dann erfuhr, daß sie nicht meine wirkliche Großmutter ist, spielte es irgendwie keine Rolle mehr für mich. Ob es für sie eine spielte, weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Aber ich will nicht so tun, als verstünde ich es.«

»Haben Sie Ihre leibliche Mutter, Hilda, oft gesehen?« fragte Ka-te, weil diese Frage die unwichtigste und am wenigsten mit Emotio-nen befrachtete war. Beide brauchten Zeit, um zum Kernpunkt ihres Gesprächs zurückzukehren.

»Nein, nicht allzuoft. Sie machte großes Aufhebens um mich, als ich ein Baby war, aber seit ich mich erinnern kann, spürte ich, daß sie lieber einen Jungen gehabt hätte. Großpapa machte großes Theater darum, daß ich und seine große Romanfigur das gleiche Geschlecht hatten. Ich nehme an, Hilda ließ sich von seiner Schwärme-rei anstecken und befaßte sich wohl deshalb eine Weile mit mir.

Aber dann übergab sie mich den Kinderschwestern, vor denen mich Gabrielle rettete. Wissen Sie, ich kann es nicht ertragen, wenn sie nun analysiert, angestarrt und belächelt wird – von Leuten, die keine Ahnung haben, welch ein Juwel sie war, was für eine wunderbare Frau. Nicht weichlich, wie es sich vielleicht anhört, sondern kraftvoll und, o Gott, so warmherzig.«

»Ich muß Ihnen eine Frage stellen, Nellie: Wissen Sie von Annes Memoir?«

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»Ja, gewiß. Sie hat mir eine Kopie geschickt und dazu einen Brief, in dem sie mir alles über die Papiere erklärte und sagte, sollte sie sie verkaufen, und vielleicht müßte sie das, dann bekäme ich die Hälfte des Geldes. Sie schrieb noch, eigentlich stünde mir ja alles zu, aber sie brauche das Geld dringend. Sie lebt jetzt in New York, und dort ist es schrecklich teuer. Sie hat zwar einen guten Job, aber der Mann, mit dem sie zusammenlebt, kann nicht arbeiten. Er hatte einen Zusammenbruch.

Ich fürchte, als ich Ihnen von Dorindas Schreck über meinen Anruf erzählte, haben Sie angenommen, Dorinda, Anne und ich hätten kaum noch Kontakt. Tatsache ist, daß wir ständig miteinander zu tun haben, wir alle drei, durch Briefe, gelegentliche Anrufe und Besuche, die allerdings selten sind. Dorinda war nur deshalb über meinen Anruf erschrocken, weil sie fürchtete, irgend etwas sei schiefgegan-gen. Aber wir drei haben uns nie aus den Augen verloren. Tut mir leid, ich fürchte, ich bin im Stadium der Schwatzhaftigkeit angelangt.«

Sie setzte ihr Glas ab, und Kate nahm ihre Hand. »Haben Sie be-fürchtet«, fragte Kate, »ich könnte Gabrielle Schaden zufügen oder Emiles Geheimnis lüften? Ist es das, was Ihnen Sorgen macht?«

»Wenn ich sagte, wir drei sind in Kontakt«, Nellie fuhr fort, als hätte sie Kates Frage nicht gehört, beantwortete sie aber gleichzeitig,

»meinte ich, daß wir drei über Sie gesprochen haben, über Ihren Plan, die Biographie zu schreiben. Wir mußten entscheiden, was wir tun wollten. Nun, ich möchte weder, daß Gabrielles noch Emiles Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit kommt. Beide hatten ein trauriges Leben, und ich sehe keinen Sinn darin, darüber zu schreiben. Ihnen entgeht doch nicht viel, wenn Sie die Biographie sein lassen.«

Viel nicht, dachte Kate, nur die ganze Basis, auf der ich mein Leben für die nächsten fünf Jahre geplant habe. Aber spielte das wirklich eine Rolle? Verdammt – es ging um Gabrielle! Sie war und blieb das große Rätsel im Zentrum der klassischen Moderne. Sie hatte einfach das Recht, gehört zu werden. Woher wollte Nellie so genau wissen, daß Gabrielle ihre Geschichte nicht erzählt wissen wollte?

Schließlich hatte sie doch alles daran gesetzt, daß ihre Papiere, egal, was sie enthielten, aufbewahrt wurden.

Nellie hatte gewartet, bis Kate diesen Kommentar verdaut hatte.

Sie wußte natürlich, wie folgenreich er war.

»Wäre es nicht möglich«, sagte Kate, »Gabrielles Biographie zu 118

schreiben und Emile herauszulassen – ihn 1944 einfach verschwinden zu lassen und fertig?«

»Möglich wäre es natürlich«, sagte Nellie. »Aber glauben Sie wirklich, das könnten Sie tun?«

Kate dachte darüber nach. »Nein«, sagte sie. »Sie haben recht.

Das könnte ich nicht. Was man weiß, kann man nicht verschweigen.

Heute nicht mehr. In der schlechten alten Zeit wurden Biographien so geschrieben, aber heute geht das nicht mehr. Ehrlichkeit und Fak-tentreue mögen nicht viel wert sein, aber das ist das einzige, woran wir uns heute noch halten können. Ich werde das Projekt wohl fallenlassen.«

»Einiges haben Sie allerdings nicht bedacht. Sie hatten ja auch noch nicht die Zeit dazu.«

»Ich habe vieles noch nicht bedacht«, sagte Kate. »Tausend Dinge. Aber welche Bedeutung hat das jetzt noch?«

»Sie haben nicht bedacht«, beharrte Nellie, so als hätte Kate nichts gesagt, »wie sehr wir Ihnen vertraut haben.«

»Haben Sie das? Stimmt. Das war mir noch gar nicht aufgefallen.«

»Kate, ich fürchte, Sie stehen unter Schock. Denken Sie nach. Ich meine, was ich gesagt habe: Ich biete Ihnen einen Handel an – weil ich Ihnen vertraue. Nichts kann Sie davon abhalten, zu veröffentlichen, was ich Ihnen erzählt habe. -›Tut mir leid! Ihr Problem, wenn Sie so viel ausplaudern‹ – so machen es doch die meisten Journalis-ten.«

»Ich bin keine Journalistin.«

»Sie sind Detektivin, auch wenn Sie es gern bestreiten. Wahrscheinlich hätten Sie auch allein alles herausgefunden. Auf der Basis können wir doch einen Handel machen?«

»Gehen wir ein Stück«, sagte Kate, die sich noch nicht gewapp-net fühlte für das, was ihrer Befürchtung nach gleich auf sie zukam.

»Ich muß meinen Kreislauf in Schwung bringen.«

Wieder gingen sie in Richtung See; beide schwiegen. Kate kam sich vor, als hätte sie die Zeilen für ein Stück gelernt und befände sich plötzlich in einem ganz anderen, aber gleichzeitig würde von ihr erwartet, daß sie ihre Rolle kenne. Sie brauchte Zeit, um zu verdauen, was sie gehört hatte, und darüber nachzudenken.

»Hören Sie sich doch einfach unsere Seite des Handels an«, sagte Nellie. »Da Gabrielle auf keinen Fall gewollt hätte, daß die Wahrheit über ihr Leben – oder auch nur eine Version davon – entdeckt und 119

veröffentlicht wird, bin ich mir ziemlich sicher, daß die Papiere, die Gabrielle unbedingt gerettet wissen wollte, nicht biographischer Natur sind – zumindest werden sie nicht die Wahrheit über Emile und mich und Großpapa enthalten, sind aber wahrscheinlich sehr interessant. Deshalb hatte ich die Idee, Ihnen die Papiere zu geben –

und Anne ist einverstanden. Wenn Sie interessiert sind, dann veröffentlichen Sie sie und vergessen die Biographie! Antworten Sie jetzt nicht. Denken Sie einfach darüber nach. Ich rufe Sie morgen an.«

Kate nickte und machte sich auf den Weg zu ihrem Hotel. Sie meinte zu spüren, daß Nellie stehenblieb und ihr nachsah. Außerstande, die neu entstandene Situation ernsthaft zu überdenken, begann Kate, sich ihr Gespräch mit Simon Pearlstine auszumalen. –

Hören Sie, an einer Biographie über Gabrielle bin ich nicht mehr interessiert, aber ich möchte ihre Schriften herausgeben. – Er würde den Vorschuß zurückfordern. Gut, sie würde ihn zurückgeben. Und dann?

Als Kate im Hotel ankam, fand sie eine Nachricht von Simon vor. Würde sie ihn anrufen und ihm erzählen, wie sie vorankam?

Kate war nicht in der Verfassung, auszurechnen, welche Uhrzeit jetzt in New York war. Also machte sie sich auf die Suche nach dem Telefax des Hotels und schickte zum erstenmal in ihrem Leben ein Fax. Es lautete: »Mir geht es wunderbar, wünschte nur, Sie wären hier.« Gar nicht mal so weit von der Wahrheit entfernt, dachte sie, als sie schließlich in ihrem Zimmer aufs Bett sank. Reed wäre ihr natürlich lieber gewesen, aber auch ein Gespräch mit Simon hätte ihr gutgetan. Nur – außer Reed durfte sie ja niemandem erzählen, was sie erfahren hatte. Wie ihre Entscheidung auch ausfallen mochte, ob für oder gegen den Handel, wie Nellie sich ausdrückte – Kate war klar, daß sie sich mit keinem Außenstehenden beraten durfte. Was als Biographie begonnen hatte, verwandelte sich unter ihren Augen in etwas völlig anderes – etwas Vages und Beunruhigendes. Und bei diesem Verwandlungsprozeß war die Literaturwissenschaftlerin Kate zur Detektivin Kate geworden – nicht umgekehrt, wie früher immer.

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