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Kate ging davon aus, daß Dorinda mit Mark Hansford so gründlich fertig war wie er mit ihr. Vielleicht hatte sie keine Lust, je wieder über die Foxx’ zu sprechen, vielleicht tat es ihr aber auch gut, so ein Gespräch mit jemand anderem als Hansford zu führen. Wie dem auch sei, dachte Kate, ich werde mit Dorinda beginnen. Sie verspürte den starken Wunsch, Anne erst zu treffen, wenn ihr Freisemester wirklich begonnen hatte. Außerdem war ihr zu Ohren gekommen, daß Anne sich im Moment im Ausland aufhielt und Nellie, wenn Kates Informationen stimmten, ohnehin die meiste Zeit im Ausland lebte. Dorinda wohnte hier in New York. Und die Frage, ob ihr Techtelmechtel mit Mark Hansford ihr die ganze Emmanuel-Foxx-Geschichte und alles, was damit zusammenhing, verleidet hatte, die konnte nur Dorinda selbst beantworten. Kate beschloß, sie nicht schriftlich um ein Treffen zu bitten, denn nach dem Bild, das sie sich aufgrund der spärlichen Informationen gemacht hatte, wäre Dorinda wahrscheinlich eher spontan zur Kooperation bereit als nach länge-rem Nachdenken oder, noch schlimmer, nach Beratung mit ihrem Gatten. Gatten neigten dazu, zur Vorsicht zu mahnen. Kate wußte noch nicht, daß dieser besondere Gatte die Vorsicht in Person war.
Dorindas Reaktion auf Kates Anruf war eindeutig schroff:
»Wenn es Ihnen um Fotos geht, die sind schon alle veröffentlicht; und ich wüßte beim besten Willen nicht, was ich Ihnen sonst noch erzählen soll.«
»Wären Sie trotzdem so freundlich, sich mit mir zu treffen?«
fragte Kate. Sie hoffte, ihre Stimme klang nicht zu verzagt; klägliches Bitten lag Kate nicht. »Es wäre mir eine Freude, Sie zum Lunch einzuladen.«
Es entstand eine lange Pause, während der Dorinda sich vielleicht sagte, daß ein Lunch mit einer Frau zwar keine großen Abenteuer bereithielt, aber auch keine großen Enttäuschungen. Es konnte für Kate nur von Nutzen sein, daß sie bald eine kleine Lektion lernen sollte: Die Tatsache, daß sie die Gedanken eines Herrn wie Professor Hansford lesen konnte, bedeutete noch lange nicht, daß sie auch nur halb so klug war, wenn es um Dorinda ging. Frauen, die gelegentlich mit etwas dümmlichen Männern ins Bett gehen, sind nicht notwen-digerweise selbst etwas dümmlich.
Dorinda nahm die Einladung an. Uhrzeit, Datum und Ort wurden 85
verabredet, und Kate fing sofort an, darüber nachzubrüten, welche Fragen sie Dorinda stellen sollte. Aber es war nicht leicht, sich Fragen an eine Frau auszudenken, der schon alle Fragen gestellt worden sind, die die Nase voll vom Thema Foxx hatte und die, wie die meisten Frauen ihrer Generation, wahrscheinlich ohnehin wenig Sinn darin sah, sich mit einer anderen Frau auseinanderzusetzen.
Wie Kate bald feststellen sollte, tat sie Dorinda unrecht. Dorinda mochte über Sechzig sein, aber sie war nicht über den Punkt hinaus, wo man überraschende Entwicklungen begrüßt. Trotzdem verströmte sie vor allem Ungeduld, als Kate und sie sich setzten. Da Kate das Restaurant ausgewählt hatte, war ihr nicht wichtig gewesen, ob es sich um ein italienisches, chinesisches oder mexikanisches handelte.
Es sollte nur ruhig, der Abstand zwischen den Tischen groß und die Kellner unaufdringlich sein. Dorinda lehnte einen Aperitif ab und begann sofort damit, das Brot auszuweiden.
Kate mußte an Annes Bericht denken und stellte erfreut fest, daß die Frau ihr gegenüber immer noch jene Dramatik und Lebhaftigkeit ausstrahlte, die Anne beschrieben hatte. Auch die feingeschnittenen Züge waren unverkennbar: die hohen Wangenknochen, die tieflie-genden blauen Augen, das feine, leicht zerzauste Haar. Mit ihren Falten, Krähenfüßen und schweren Augenlidern wirkte Dorinda auf Kate fast wie eine junge Schauspielerin, die man auf alte Frau ge-schminkt hatte. Die immer noch schlanke Dorinda, die in diesem Augenblick ihre Lesebrille aufsetzte wie ein Theaterrequisit, verblüffte Kate mit ihrer Doppelerscheinung: Zugleich jung und alt, zugleich reif und das impulsive Mädchen, das Anne beschrieben hatte.
Kate horchte in sich hinein, um ihre eigene Stimmung abzuschätzen und bestellte sich einen Wodka-Martini mit Olive: Salz schärft die Sinne. Dorinda wartete nicht ab, bis Kate ihr Anliegen zur Sprache brachte.
»Sie wollen über Gabrielle schreiben. Nun, es ist an der Zeit, daß das jemand tut. Ich warte schon lange darauf, daß man damit aufhört, Emmanuel als der Welt höchste Autorität in Sachen Frauen zu behandeln, und einmal einen genaueren Blick darauf wirft, wie er mit den Frauen in seinem Leben umgegangen ist. Kennen Sie Mark Hansford?«
»Ja«, sagte Kate, nachdem sie für den Bruchteil einer Sekunde mit dem Gedanken gespielt hatte, nicht gerade zu lügen, aber doch die Wahrheit zu überspielen. »Ich kann nicht behaupten, daß er zu 86
den sympathischsten Leuten gehört, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.«
»Ich habe mich ihm mehr oder weniger an den Hals geworfen«, sagte Dorinda einfach. »Zu der Zeit wurde mir gerade klar, in welche Sackgasse mein Leben geraten war, und er bedeutete meinen ersten Schritt aus diesem Leben hinaus. Es war eine dumme Geschichte.
Ich brauchte nicht lange, um das zu merken. Zum Schluß überließ ich ihm die Fotos, weil ich das Gefühl hatte, mich damit von meiner Vergangenheit zu lösen. Aber zu dem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, daß ich zwei Vergangenheiten habe: die vor meiner Heirat und die danach.
Wenn Sie mit ihm gesprochen haben, hat er Ihnen vielleicht er-zählt, daß seine Frau ein Buch über Gabrielle schreiben wollte. Ich nehme an, sie gab den Plan auf, als Mark an den häuslichen Herd zurückkehrte. Aber ihre Idee war verdammt gut. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?«
»Ein Verleger kam darauf«, sagte Kate. »Er bot mir einen Vertrag an, und ich war fasziniert.«
»Und warum beginnen Sie mit mir?«
»Weil Sie hier in New York leben. Aber der Hauptgrund sind Ih-re wundervollen Fotos. Hinter diesen Fotos muß eine Geschichte liegen.«
»Mark sah das nicht so. Ihn interessierten nur die Fotos als solche, mehr nicht.«
»In seinem Buch wird nicht erwähnt, welche Kamera Sie benutzt haben.«
»Eine Leica. Jetzt habe ich eine neue Kamera. Aber die alten mit dem Sucher waren mir immer lieber, besonders für Porträts. Mein Mann hat eins dieser Spiegelreflexdinger, die automatisch Blende und Belichtungszeit einstellen, eigentlich alles automatisch machen, außer dem Bildausschnitt; und sie sind auch ganz brauchbar, wenn man bloß hübsche Landschaften fotografieren will. Ich möchte diese Kameras nicht schlechtmachen, sie interessieren mich einfach nicht.
Vielleicht ist das reine Nostalgie, denn ich bekam meine erste Leica, als ich zwölf war, von deutschen Flüchtlingen, eine M 3. Ich habe sie immer noch. Und Anne hat ihre wohl auch noch.«
Kate sah Dorinda beeindruckt und fragend an.
»Mein Vater kaufte zwei und gab eine davon Anne. Vor einer Weile hatte sie sie noch und sagte, sie würde sich niemals freiwillig von ihr trennen. Wollten Sie wirklich über Kameras sprechen?«
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Kate stand jedoch vor einer viel schwierigeren Frage als dieser: Sollte sie Annes Memoir erwähnen? Simon hatte ihr keine Schwei-gepflicht auferlegt, aber vielleicht ärgerte sich Dorinda über die bloße Tatsache, daß es geschrieben worden war? Sie brauchte nicht überempfindlich zu sein, um das Gefühl zu haben, Anne habe sich ihrer Erfahrungen, ihres Lebens bemächtigt. Wieder überraschte Dorinda Kate.
Das schien, wie Kate bald feststellen sollte, eine Gewohnheit von ihr zu sein.
»Haben Sie den Essay gelesen, den Anne über unsere Kindheit schrieb, oder wurde der an einen anderen Verlag geschickt?«
»Ich habe ihn gelesen. Dieses Memoir war der Hauptgrund, daß der Cheflektor sich entschloß, eine Biographie über Gabrielle in Auftrag zu geben. Aber in gewisser Weise war es ja eher Ihre und Annes Biographie. Welch eine herrliche Kindheit!«
»Finden Sie wirklich?« fragte Dorinda und sah Kate erwartungsvoll an. Sie hatte keine rhetorische Frage gestellt. Dorinda war anders, als Kate erwartet hatte, eine Tatsache, an der sie ihre stille Freude hatte, denn sie mochte Leute, bei denen nicht jede Äußerung vorhersehbar war.
»Nein«, sagte Kate. »Nicht wirklich. Es gilt geradezu als unan-ständig, sich über eine reiche Kindheit zu beschweren, und ich kann verstehen, warum. Hätte ich nicht selbst eine gehabt, würde ich bestimmt glauben, jeder, der unter solchen Umständen unglücklich war, sei ein Narr.«
»Wie Heathcliff in der ›Sturmhöhe‹ über die Lintons sagt. Ich habe gehört, Sie sind Professorin für englische Literatur?«
»Und wo haben Sie das gehört?« fragte Kate. Sie hatte nichts davon am Telefon erwähnt.
»Ich betreibe Forschungen«, war Dorindas rätselhafte Antwort.
»Nun«, sagte Kate. »Was Heathcliff betrifft, haben Sie zweifellos recht. Wer wäre schon gern ein Linton, außer natürlich allen, die keine Lintons sind. Aber Cathy wollte gewiß keine sein.«
Es entstand eine längere Pause. Kate war damit beschäftigt, ihre Vorurteile zu modifizieren, ein zwar erfreuliches, aber auch schwieriges Unterfangen. Sie hoffte, die Pause nicht mit belanglosem Ge-plapper überbrücken zu müssen und rüstete sich gerade schon für diese unangenehme Aufgabe (Virginia Woolf hatte es die Gesprächswellen aufpeitschen genannt), als Dorinda zu sprechen begann. Offensichtlich hatte sie beschlossen, Kate mit Fakten zu ver-88
wöhnen. »Wie Sie wahrscheinlich schon wissen, habe ich Emmanuel und Gabrielle nie kennengelernt, aber von Hilda und meinem Vater und später von Nellie so viel über beide gehört, daß ich das Gefühl hatte, sie zu kennen. Meine Mutter fuhr nach England und besuchte Gabrielle während der letzten Jahre in dem Pflegeheim, aber Gabrielle war inzwischen völlig verwirrt. Meine Mutter beschrieb mir ihren Besuch jedoch so lebendig, daß ich meinte, mit ihr dort gewesen zu sein. Manchmal wachte Gabrielle plötzlich auf, wie er-schreckt, kam es Mami vor, schien sich dann aber an etwas zu erinnern und schlief mit einem winzigen Lächeln wieder ein, so als sei ihr eingefallen, daß ja alles in Ordnung war, daß für alles gesorgt war.«
»Was war alles?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht gar nichts Konkretes. Mami kann Szenen so gut nacherzählen, daß man meint, man war dabei. Ich glaube, das kommt von ihrem Leben mit den Goddards. All die Szenen bei uns zu Haus konnte sie wohl nur bewältigen, weil sie sie später immer wieder durchspielte. Und die Szenen bei den Goddards waren immer wild.«
»Sind sie das heute nicht mehr?«
»Nein. Großvater starb. Dann Hilda, und dann Daddy. Nur noch Mami und ich sind übriggeblieben. Sie ist einverstanden mit dem Leben, das ich führe, denn genau so ein Leben hat sie sich wohl immer für mich gewünscht. Aber manchmal sitzen wir zusammen, erinnern uns an die alten Tage und lachen. Gerade neulich beschrieb sie mir, jedesmal, wenn sie einen Handwerker für irgendwelche Reparaturen bestellt hatte, mußte sie vorher Daddy anflehen und beknien, sich nicht einzumischen; denn sonst ging er zu dem vor sich hin arbeitenden Mann hin und schrie ihm mit voller Lautstärke – was übrigens seine übliche Stimmlage war – irgendwelche Fragen und Ratschläge zu, so daß der Handwerker unweigerlich sein Werkzeug hinwarf und aus dem Raum stapfte. Und Mami mußte ihm hinterher-laufen, ihn zurückholen und ihm auf möglichst nette Art erklären, ihr Mann sei bloß ein harmloser Irrer.«
»Aber seine Schwester hat Ihr Vater wohl über alles geliebt, besonders als sie Emile Foxx heiratete?«
»Er hat sie immer über alles geliebt. Hilda war der Augapfel ihres Vaters und ihres Bruders – benutzt diesen Ausdruck heute noch irgendwer? Sie sorgten sich um sie, als sie Emile heiratete, aber insgesamt fanden sie wohl auch, das habe sie schlau angestellt –
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einen so berühmten Schriftsteller in die Familie zu bringen. Als junges Mädchen empfand ich das selbst so.«
Kate nickte. Sie hatte den von Dorinda angedeuteten Sinneswan-del verstanden.
»In der letzten Zeit habe ich oft über Gabrielle nachgedacht.
Wahrscheinlich deshalb, weil ich vor kurzem begann, auch über meine Mutter nachzudenken. Ich meine wirklich nachzudenken. Von allen, die noch am Leben sind, hat sie Gabrielle am häufigsten gesehen. Sie sollten mit ihr sprechen.«
»Welche Art Forschungen betreiben Sie denn?« fragte Kate. Sie wollte es plötzlich wissen.
»Ich arbeite im Labor eines Krankenhauses. Mein Mann hat mir geholfen, den Job zu bekommen. Und wie sich herausstellte, bin ich ziemlich gut. Ich habe mich schon immer für Medizin interessiert, was wahrscheinlich ein Grund dafür ist, daß ich mich überhaupt für meinen Mann interessiert habe.« Dorinda machte eine Pause. »Sagen Sie mal, erzählen Ihnen alle Leute Dinge, die sie zuvor nicht begriffen haben und lieber für sich behalten hätten, wären sie ihnen klar gewesen?«
»Ich kam wohl gerade im richtigen Moment daher. Und was genau machen Sie in dem Krankenhaus?«
»Irgend jemand hat Fieber, niemand weiß, aus welchem Grund.
Auch nicht die Arzte, die feststellen müssen, daß ihre Antibiotika das Fieber nicht senken und dann, wie im letzten Jahrhundert, auf feuch-te Wadenwickel zurückgreifen. Aber, aha! Sie haben ja den techni-schen Fortschritt auf ihrer Seite. Also bohren sie den armen Mann an, holen ein kleines rundes Stück aus seiner Leber und bringen es mir, damit ich alle möglichen Dinge damit anstelle.«
»So, wie Sie das sagen, klingt es ziemlich finster.«
»Ist es auch, jedenfalls oft genug. Irgendein Typ schreibt eine Arbeit über die Leber. Er braucht Proben. Und die verschafft er sich, auch wenn man ziemlich sicher sein kann, daß die Leber nicht für die Krankheit verantwortlich ist. Die müssen einfach genug Material für ihre Arbeiten haben. Oft sind die Patienten arm oder ahnungslos und können nicht widersprechen. Auch den reichen Patienten bleibt allerdings meistens nichts anderes übrig, als den Ärzten zu glauben.
Aber ich will nicht zynisch werden. Tatsache ist, daß es mir gefällt, die Leber und andere Organe zu untersuchen. Ich wäre gern Ärztin geworden, keine praktische, sondern eine, die herauszufinden versucht, was zum Beispiel eine Epidemie ausgelöst hat. Mit Ihnen kann 90
man gut reden! Vielleicht hat es mir auch nur gefehlt, mit jemandem zu reden. Und sagen Sie mir nicht, ich sollte einen Psychiater aufsu-chen. Das bekomme ich nämlich ständig von Arthur zu hören, wenn ich sage, ich würde gern einmal mit ihm zusammen unser Leben überdenken. Arthur ist mein Mann, er ist Hirnchirurg. Nur was in den Hirnen vorgeht, die er nicht gerade aufschneidet, davon hat er auffallend wenig Ahnung.«
»Was der Grund dafür ist, warum Mark Hansford so etwas wie ein Versuchsballon für die Freiheit war?« fragte Kate.
»Ein ziemlich trauriger Versuchsballon. Ich glaube, ich wußte von Anfang an, daß er nicht besser zuhören konnte als Arthur. Ob die Natur die Männer mit einem Hörorgan ausgestattet hat, das nur dann funktioniert, wenn sie fürs Zuhören bezahlt werden und manchmal noch nicht einmal dann? Was meinen Sie, ob auch Gabrielle sich diese Frage manchmal gestellt hat? Ich weiß, der allgemeinen Meinung nach hatte Emmanuel sein ganzes Wissen über Frauen daher, daß er ihr zuhörte. Aber er bekam ja auch eine Art Bezahlung dafür – seinen großen Ruhm.«
Kate beschloß, das einzige Thema anzuschneiden, bei dem sie nachfragen konnte, ohne zudringlich zu wirken. Vielleicht konnten Frauen zuhören, aber wenige Angehörige beiderlei Geschlechts verstanden es, Interesse zu zeigen, das keine Neugier war. Fragen waren kaum der Weg, echtes Interesse zu demonstrieren.
»Ich würde gern mehr über Ihre Mutter hören«, sagte Kate. »An-ne mochte sie offensichtlich sehr. Wie es scheint, hatte sie keinen leichten Stand.«
»Ich glaube eher, daß sie die meiste Zeit praktisch keinen Boden unter den Füßen hatte. Auf seine Art war mein Vater natürlich faszinierend. Ich fand ihn wundervoll, denn er liebte mich über alles – so, wie er seine Schwester Hilda liebte. Aber er konnte verheerend sein.
Ich erinnere mich, wie er im Strandclub einmal zu Nellie sagte, er habe größere Brüste als sie. Es stimmte sogar. Nellie hatte winzige Brüste, und mein Vater war ziemlich dick. Aber kein einfühlsamer Mensch hätte so etwas je zu einem heranwachsenden Mädchen gesagt. Anne und ich schämten uns wegen seiner Bemerkung, aber Anne sagte schnell, sie wünschte, sie hätte solche Brüste wie Nellie.
Ich glaube, das hat Nellie getröstet. Meiner Mutter mutete mein Vater einiges zu. Er lief herum und spielte sich als Gönner auf gegenüber Leuten wie den Foxx’, aber mit den Folgen mußte meine Mutter fertig werden. Und sie wurde wunderbar damit fertig. Tante 91
Hilda sah auf meine Mutter herab, und auch ich habe sie bis vor kurzem nie richtig ernst genommen. Sie ist keine glänzende Persönlichkeit. Der einzige Mensch, den sie je in unseren Haushalt einführ-te, war Anne. Vielleicht witterte sie eine potentielle Verbündete, denn Anne war ihr irgendwie ähnlich.«
»Ihre ganze Familie war sehr großzügig«, sagte Kate. »Anne fand das eindeutig so.«
»Mit Vorbehalten«, sagte Dorinda. »Ich habe ihr Memoir gelesen. Sie schickte es mir, was nur anständig von ihr war. Aber Anne ist ja immer anständig. Ich weiß, das klingt herablassend, aber ich meine es nicht so. Inzwischen habe ich gelernt, Anstand zu schätzen.
Innere Werte haben, nannte man das wohl früher. Aber heute muß wohl jeder zugeben, daß gerade die Leute, die ständig von inneren Werten sprechen, in die verruchtesten Skandale verwickelt sein können. Ja, anständig ist genau das richtige Wort für Anne. Und sie hat recht, wenn sie sagt, unsere Großzügigkeit habe uns wenig gekostet.
Sie hat uns so viel gegeben wie wir ihr; bei adoptierten Kindern ist das meistens so.«
»Das ändert nichts an der Tatsache, daß Ihre Familie Anne und Nellie gut behandelte und beide nie aus den Augen verlor. Ich glaube, das ist schon einige Anerkennung wert.«
»Vielleicht. Und das ist hauptsächlich meiner Mutter zu verdanken. Oh, als ich jung war, gefiel ich mir sehr in der Rolle der Wohltätigen. Um die Wahrheit zu sagen: Noch bis vor kurzem war das so
– auch bei Mark Hansford.«
Kate erinnerte sich plötzlich an eine Begebenheit in ihrer Jugend.
Sie hatte ein Geldstück in einen dieser Spielautomaten gesteckt und war mit so vielen Münzen belohnt worden, daß sie Hilfe brauchte, sie einzusammeln. Sie erinnerte sich, daß sie nicht gewußt hatte, wohin mit ihnen und wie sie tragen, bis ihr eine freundliche Frau eine braune Papiertüte gab.
»Glauben Sie, ich dürfte Ihre Mutter anrufen und um ein Gespräch bitten?«
»Wissen Sie, was so ungewöhnlich an Ihnen ist? Es ist mir einfach aufgefallen, also kann ich es auch erwähnen: Sie stellen keine Fragen, wenn Sie nicht wirklich eine Antwort wollen. Arthur stellt die ganze Zeit Fragen, das ist seine einzige Art von Diskurs – Gespräch möchte ich es nicht nennen –, und er hört nie auf die Antworten. Das habe ich Mark Hansford erzählt, ehe ich merkte, daß er ganz genauso ist. Was meine Mutter betrifft – ja, rufen Sie sie an. Ich gebe 92
Ihnen ihre Nummer und bereite sie auf Ihren Anruf vor. Sie war wahrscheinlich die letzte Verwandte, die Gabrielle gesehen hat, und außerdem kennt sie Nellie am besten. Ich glaube, Nellie besprach mit ihr Dinge, über die sie mit Anne und mir nie redete. Das ist mir allerdings erst vor kurzem bewußt geworden.«
»Sie muß sehr alt sein, wie Meister Shallow zu Falstaff sagte«, bemerkte Kate und fühlte sich albern dabei.
»Sie ist zweiundneunzig, aber Sie werden merken, daß sie noch viel über die Foxx’ zu erzählen hat. Was die alten Zeiten betrifft, ist sie noch sehr klar. Nur bei der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart ist sie vergeßlich und bringt leicht etwas durcheinander.«
»Ich hoffe, das bedeutet nicht, daß Sie selbst nicht mehr mit mir sprechen wollen.«
»Ich würde mich gern weiter mit Ihnen unterhalten«, sagte Dorinda. »Wenn man anfängt, sich zu erinnern, merkt man plötzlich, daß viel mehr da ist, als einem bewußt war: Man kann sich nur an das wirklich erinnern, was man vergessen hatte. Für mich war Emmanuel Foxx immer eine glamouröse Figur. Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich habe mir oft ausgemalt, die letzte Frau in seinem Leben zu sein, die ihn inspirieren würde. Nellie habe ich natürlich nie davon erzählt. Nellie ist die einzige, die Gabrielle wirklich liebte, aber, wie in so vielen Familien, erst als sie nicht mehr bei ihr war.
Sie müssen sich mit Nellie unterhalten. Ich werde Ihnen helfen. Ja, ich helfe Ihnen sehr gerne. Soll ich Ihnen etwas Schreckliches erzählen? Kürzlich las ich über mehrere Frauen – alle talentiert, vielleicht nicht gerade Genies, aber doch außerordentlich begabt –, die auf ihre alten Tage Affären mit jungen Männern anfingen. Und ich lernte etwas daraus. Ich habe angefangen, solche Frauen zu sammeln. Bisher bin ich auf vier gekommen. Was ich daraus gelernt habe? Daß nicht nur Männer im Alter noch sexuelle Wünsche haben und daß Sexualität nur ein anderes Wort für Macht ist, wenn man erst einmal über die Vierzig ist.«
»Da haben Sie recht«, sagte Kate. »Das ist mir auch aufgefallen.«
»Sie wollten sagen, Sie haben es schon immer gewußt. Hören Sie, ich will es Ihnen einfach machen. Hier sind die wissenswerten Fakten meines Lebens.« Dorinda hielt die Hand hoch, um die Fakten ihres Lebens an den Fingern abzuzählen. »Ich habe Spaß an medizi-nischen Forschungen. Ich lerne viel daraus, über die Vergangenheit nachzudenken. Ich habe vier Söhne, also einen weniger als Sally Seton, aber ich pflanze keine blauen Hortensien oder irgendwelche 93
anderen Blumen an. Ansonsten haben Lady Rosseter und ich eine Menge gemeinsam. Ich habe einen Ehemann, mit dem ich seit über zwanzig Jahren nicht mehr richtig gesprochen habe. Sollte die CIA in die Verlegenheit kommen, unsere Telefongespräche abzuhören, wäre sie davon überzeugt, wir benutzten einen Code, denn eine andere Erklärung für eine derart unpersönliche Kommunikation gibt es nicht.« Sie ließ ihre Hand wieder sinken. »Fünf Fakten. Ich unterhalte mich gern mit Ihnen. Lassen Sie mich das Essen bezahlen. Ich weiß, es war Ihre Einladung, aber Sie können das nächste Mal bezahlen. Dann verspreche ich auch, all Ihre Fragen über Gabrielle zu beantworten. Ich mag Ihre Fragen.«
Kate akzeptierte die Einladung, denn sie wußte, es gab Augenbli-cke, in denen nur das Gefühl zählte, es sei richtig so.
»Wer ist Sally Seton, wenn sie ganz in ihrem Element ist, wie Molly Bloom sich dir zufolge ausdrückt?« fragte Reed am Abend.
Sie tranken Whisky und erzählten sich die Ereignisse des Tages.
Reeds Tag hatte eher aus Frustrationen denn Ereignissen bestanden, wobei die Häufung ersterer für das Fehlen letzterer verantwortlich war, und er war froh, alles zu vergessen und von Dorinda und Sally Seton zu hören.
»Sally Seton ist eine Figur aus Virginia Woolfs Roman ›Mrs.
Dalloway‹ «, sagte Kate. »In ihrer Jugend ist Sally Seton wild und wundervoll, verwandelt sich dann aber in eine schreckliche Dame, die ein Leben voll quälender Etikette und Rechtschaffenheit führt.
Interessant dabei ist, daß nicht nur Dorinda sich selbst so charakteri-siert, sondern auch Anne Sally Seton in ihrem Memoir erwähnt. Zu der Zeit, als die beiden Elizabeth Bowen verschlangen, haben sie wahrscheinlich auch diesen Roman zusammen gelesen.«
»Von Elizabeth Bowen habe ich schon gehört. Sie lebte länger als Virginia Woolf.«
»Korrekt, o du mein lieber Mann, der zuhören kann. Mir war nie klar, wie ungewöhnlich du in dieser Hinsicht bist, bis Dorinda es erwähnte, indirekt natürlich.«
»Ich bin in jeder Beziehung ungewöhnlich. Ich dachte, das wüß-
test du.«
»Nicht zuletzt, weil du mich erträgst.« Beide lachten, denn diese Art Gespräche hatten sie in den verschiedensten Variationen schon oft geführt.
»Willst du Dorindas Mutter bald besuchen?« fragte Reed, als sie bei ihrem zweiten Drink angelangt waren.
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»Ja. Obwohl mit einer zweiundneunzigjährigen Frau zu reden ein schönes Stück Arbeit sein kann. Aber vielleicht überrascht sie mich ja. Dorinda hat mich schließlich auch verblüfft. Es macht mir Spaß, wenn ich merke, wie Leute, die ich in Schubladen gesteckt habe, aus diesen Schubladen herausspringen. Weißt du, was das Überra-schendste an Dorinda war? Rhetorische Fragen, keine Antworten erwünscht. Ihr muß klar gewesen sein, daß ich in Annes Memoir von ihrer wilden Jugend gelesen habe. Das merkte ich spätestens, als sie Sally Seton erwähnte. Trotzdem war sie entschlossen, mir zu trauen.
Ich habe so das Gefühl, daß sie in letzter Zeit nicht vielen Menschen vertrauen konnte. Aber wenn man mit über Sechzig anfängt, seiner eigenen Mutter zu trauen, ist man wahrscheinlich zu allem bereit.«
»Es sei denn«, sagte Reed, »man ist so glücklich, nie in diese La-ge zu kommen. Nicht alle Mütter sind rehabilitationsfähig.«
»Wie wahr! Du hast natürlich wieder recht. Ich darf nicht euphorisch werden und in einem völlig ungerechtfertigten Glauben an die Größe des menschlichen Charakters schwelgen.«
»Wenn man Whisky trinkt, muß man euphorisch werden«, sagte Reed streng, »das gehört zu seinen schönsten Eigenschaften.«
Mit zweiundneunzig bewohnte Eleanor Goddard die Hälfte der Zimmerflucht, in der die Goddards früher gelebt hatten. Ehe das Gebäude an eine Immobiliengesellschaft verkauft wurde, hatte der Hausherr Eleanor überredet, die Hälfte ihrer neun Zimmer auf-zugeben. So blieben ihr ein riesiger Salon ohne den Capehart, ein Eßzimmer, ein großes Schlafzimmer und ein kleineres für ihre Ge-sellschafterin plus zwei und ein halbes Badezimmer. Wie sie Kate erzählte, wollte sie lieber keine Spekulationen über den Preis anstel-len, den der Hausherr für die andere Hälfte ihrer Wohnung bekommen hatte.
Eleanor, wie Kate aufgefordert wurde, sie zu nennen, saß elegant gekleidet im Salon, als Kate zu ihr geführt wurde. Kate hatte sich kaum gesetzt, als Eleanor sagte, Dorinda habe ihren Besuch bereits angekündigt, und sie, Eleanor, sei glücklich, über die Foxx’ oder auch sonstwen zu sprechen.
»Es gibt nicht viele Leute, die darum bitten, den Erinnerungen einer steinalten Frau zuzuhören. Ich erinnere mich, wie Pop, so nannten wir Sigs Vater, endlos schwadronierte, und ich schwor mir, wenn ich alt werde, nie über die Vergangenheit zu sprechen, es sei denn, ich würde ausdrücklich darum gebeten. Aber glauben Sie mir, ich finde es schön, wenn man mich darum bittet. Kann ich Ihnen 95
irgend etwas anbieten – einen Tee, Drink oder Saft?«
»Vielen Dank, ich möchte nichts«, sagte Kate. »Es sei denn, Sie leisten mir Gesellschaft. Am liebsten würde ich einfach sprechen und zuhören.«
»Gut. Was hielten Sie eigentlich von Dorinda? Welchen Eindruck machte sie auf Sie?«
»Ich hatte gehofft, diejenige zu sein, die die Fragen stellt«, sagte Kate lächelnd. »Ich mochte Dorinda sehr und hatte den Eindruck, daß sie dabei ist, ihr Leben neu zu überdenken, was im großen und ganzen gesehen immer eine gute Sache ist.«
»Im großen und ganzen?«
Kate staunte. Offenbar war sie auf die gewitzteste alte Dame des Universums gestoßen. Würde sie Fragen auch so hübsch beantworten wie sie sie stellte? »Viele Leute, die ich kenne«, sagte Kate, »die meisten davon Verwandte oder Freunde, überdenken ihr Leben nur aus dem Grund neu, um alte Scharten auszuwetzen – aus Bitterkeit, weil ihnen das Leben übel mitgespielt hat. Bei Dorinda habe ich das Gefühl, daß sie ihr Leben mit Blick auf die Zukunft neu überdenkt, und nicht, um die Vergangenheit zu bewältigen.«
»Das freut mich zu hören. Dorinda war mir schon immer ein Rätsel, das gestehe ich offen ein. Sogar als Baby war sie mir ein mysteriöses Wesen. Es lebte noch ein anderes Mädchen bei uns, sie hieß Anne, und mit einer Tochter wie ihr hätte ich mehr anfangen können.
Sie war mir näher als Dorinda, um die Wahrheit zu sagen, und wenn man zweiundneunzig ist, sagt man entweder die Wahrheit oder spult die ewig gleichen alten Geschichten ab. Eigenartig, sich mit der eigenen Tochter erst zu verstehen, wenn sie über sechzig und man selbst älter als Gott ist, wie Sig zu sagen pflegte.
Das Hauptproblem für mich war Dorindas Ehe. Ich konnte nie verstehen, warum sie Arthur geheiratet hat. Na, im Grunde verstand ich nichts, was Dorinda tat, aber ihre Heirat war mir am aller rätsel-haftesten. Ich fühlte mich immer an diese alte Geschichte von der schönsten Frau von London erinnert, die den langweiligsten Mann von ganz England heiratete. Wenn man sie fragte, warum, sagte sie, das sei der einzig sichere Weg, nie wieder beim Dinner neben ihm sitzen zu müssen. Für Dorinda kann das wohl kaum ein Motiv gewesen sein. Aber Sie sind ja hergekommen, um über Gabrielle Foxx zu sprechen, und ich sitze hier und schwatze über meine Tochter.«
»Nach dem, was Dorinda mir erzählt hat, nehme ich an, daß Ihr Mann alles andere als langweilig war.«
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»Langweilig konnte man Sig bestimmt nicht nennen«, stimmte Eleanor zu. »Nein, beim besten Willen nicht. Er holte mich aus meiner Kleinbürgerwelt, im Grunde eher Arbeiterwelt, wo wir immer versuchten, so zu tun, als hätten wir mehr als wir in Wirklichkeit hatten. Sig, die Goddards und all ihre Freunde taten das nie. Ich sagte mir immer, das läge daran, weil man einfach unmöglich noch mehr besitzen konnte als sie. Warum also so tun?« Eleanor lachte in sich hinein. »Die Goddards waren Juden, wissen Sie, und deshalb hatten sie nichts von der typischen Langweiligkeit der Angelsachsen.
Ich erinnere mich, wie Sig und seine Familie während des Krieges, den Zweiten Weltkrieg meine ich, viele Juden aus Deutschland, Österreich und anderen Ländern retteten. Manche dieser jüdischen Familien waren in Europa selbst sehr reich gewesen. Und wenn sie dann herkamen, klagten sie endlos über Amerika; in der Alten Welt sei alles viel besser gewesen. Sig war viel toleranter als ich. Aber was«, sagte sie und schüttelte den Kopf, »hat das alles mit Gabrielle zu tun? Verzeihen Sie mir, meine Liebe, alle, die mir nahestanden, sind gestorben. Und sogar, wenn ich über alte Leute lese, sind sie immer noch jünger als ich, wenn auch manchmal nicht viel. Ich bin eine Reliquie. Sie müssen aufpassen, daß ich nicht den Faden verliere. Stellen Sie mir Ihre Fragen über die Foxx’.«
»Alles, was Sie erzählen, ist wichtig für meine Arbeit, und davon ganz abgesehen, interessiert es mich. Wirklich. Haben Sie den Namen Dorinda von Ellen Glasgow?«
»So ist es. Wie klug von Ihnen, meine Liebe. Alle anderen dachten, er sei eine kapriziöse Erfindung von mir. Ich sagte, mir gefiele der Name und damit hatte es sich. Sig hätte sich nur um den Namen eines Sohnes Gedanken gemacht. Als ich mit Dorinda schwanger war, las ich ›Barren Ground‹. Das Buch war gerade erschienen. Ich weiß nicht, warum mich dieser Roman so berührte – vielleicht, weil ich hoffte, meine Tochter würde Dorindas Mut haben. Sie hatte so viel davon, als sie jung war und später so wenig – ich spreche von meiner Dorinda. Aber wie es aussieht, macht sie ja im Augenblick eine Veränderung durch. Haben Sie Arthur kennengelernt?«
Kate schüttelte den Kopf. »Dem Schicksal geht man am besten aus dem Wege«, sagte Eleanor. »Ich habe versucht, mir einzureden, daß sogar Langweiler interessant sind – eben in ihrer Eigenschaft als Langweiler. Irgend etwas Interessantes muß doch an jedem Menschen sein, wenn man sich nicht zu oft sieht. Das war eine hübsche Illusion, aber Arthur machte sie zunichte.«
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»Vielleicht haben Sie ihn zu oft gesehen?«
»Eigentlich nicht. Meistens war er im Krankenhaus, spielte Golf oder war sonst irgendwo. Aber wenn er nach Hause kam, konnte man förmlich spüren, wie die Temperatur im Raum sank, so als hätte jemand kaltes Wasser verspritzt. Ich mochte Arthur nie. Aber er ist der erste Mensch, bei dem ich offen zugab, daß ich ihn nicht mochte.
Ich empfand das als große Erleichterung, aber Dorinda und mich brachte es natürlich nicht näher.« Eleanor machte eine Pause und sah Kate erwartungsvoll an.
»Wie oft sind Sie Gabrielle begegnet?«
»Lassen Sie mich nachdenken. Das erste Mal, als Hilda sich entschlossen hatte, Emile zu heiraten. Sig und ich fuhren nach Europa, auf der Ile de France glaube ich, aber wir haben den Ozean so oft überquert, daß ich das Schiff vielleicht verwechsle. In jenen Tagen war das Reisen ein Vergnügen. Gabrielle war alles andere als erfreut über die Heirat, und ich machte ihr keinen Vorwurf daraus. Wir unterhielten uns oft, während all die anderen Emmanuel umtänzel-ten, und ich wußte, was sie empfand. Ich glaube, uns beiden war klar, daß Emile für Hilda ein Ersatz-Emmanuel war, ihre Eintritts-karte in die aufregende Pariser Schriftstellerwelt. Und ich fand es nur verständlich, daß Gabrielle sich für Emile eine Frau wünschte, die ihn um seiner selbst willen liebte.
Gabrielle war sehr freundlich und unternahm mit mir kleine Spaziergänge durch Paris. Unsere Abwesenheit wurde kaum bemerkt, höchstens von Emmanuel, der plötzlich irgend etwas brauchte, merkte, daß Gabrielle nicht da war und darauf bestand, daß man sie sofort holte. Ich glaube, sie war eine Art Talisman für ihn, ohne den er sich verloren fühlte. Und dann rannten alle los, uns zu suchen – wir saßen meistens in einem Café in der Nähe –, und Gabrielle mußte zurück.
Oft hatte ich das Gefühl, gerade in dem Augenblick einem wirklichen Gespräch nahe zu sein, aber es kam nie dazu. Vielleicht wäre es passiert, wenn ich länger geblieben wäre. Aber das ist wahrscheinlich nur die Illusion einer alten Frau, die ihre Vergangenheit durch eine rosarote Brille sieht. Sind Sie sicher, daß Sie nichts trinken möchten?«
»Ganz sicher«, sagte Kate. »Und wann trafen Sie sie das nächste Mal?«
»Mein Gott, ich wüßte nicht, wann mir mal jemand so an den Lippen hing wie Sie – ich glaube, das ist mir noch nie passiert, höchstens bei Anne. Bei Sig und Dorinda ganz bestimmt nicht. Ich 98
traf Gabrielle noch einige Male, als wir vor dem Krieg nach Europa reisten. Emmanuel starb während des Krieges, und da war es nicht mehr möglich zu reisen. Sig holte Hilda in allerletzter Sekunde aus Europa heraus. Sie war in einem Sanatorium. Emile hatte sie verlassen. Nellie, ihre Tochter, lebte bei Gabrielle, und wenig später holten wir auch sie nach Amerika. Aber all das wissen Sie sicher schon. Ich denke oft darüber nach, wie grausam es war, Gabrielle den einzigen Menschen fortzunehmen, den sie noch hatte. Aber wir dachten natürlich alle nur an das Mädchen. Sie war in demselben Alter wie Dorinda und sehnte sich danach, bei uns in Amerika zu leben. Wir sind oft so grausam, ohne es zu wollen – als ob das eine Entschuldigung wäre! Ich versuchte, mir einzureden, daß Nellie hätte umkommen können, wäre sie in Europa geblieben, aber darum geht es ja eigentlich nicht.«
Diese letzten Worte kamen langsam und schleppend. Eleanor war eingedöst. Ihr Kopf war leicht zur Seite gesunken, und sie hatte die Augen geschlossen. Kate saß da und betrachtete die Frau. Nach einer Weile kam die Pflegerin herein und sagte leise zu Kate: »So lange hat sie nicht geredet, seit ich hier bin, und das sind jetzt schon sieben Jahre. Sie wird jetzt eine Weile schlafen. Das heißt aber nicht, daß sie sich nicht gefreut hat. Es ist ihr Alter, wissen Sie.«
»Glauben Sie, ich darf wiederkommen?« fragte Kate. »Habe ich sie nicht zu sehr ermüdet?«
»Sie war glücklich über Ihren Besuch. Sie können jederzeit wiederkommen. Aber rufen Sie vorher an. Manche Tage sind besser als andere. Ich glaube, Sie haben ihr sehr gutgetan.«
»Und sie mir«, sagte Kate und ging leise, der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte, aus dem Zimmer.
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