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ARIADNE – in der Mythologie die Tochter von Minos (siehe dort) und Pasiphae. Als Theseus (siehe dort) nach Kreta kam, verliebte sich Ariadne in ihn und gab ihm eine Fadenrolle, mit deren Hilfe er den Weg aus dem Labyrinth fand, nachdem er den Minotaurus getötet hatte. Danach nahm er Ariadne mit auf die Flucht, doch vergaß er sie (durch Zauberei?) auf der Insel Naxos (Dia) und ließ sie dort zurück. Allgemein wird angenommen, daß Dionysos sie dort fand und heiratete…

›The Oxford Classical Dictionary‹

»Nach matrilinearem Recht verlor eine Thronerbin allen Anspruch auf ihr Land, wenn sie ihrem Gatten übers Meer folgte. Dies erklärt, warum Theseus Ariadne nicht mit sich nach Athen nahm, oder überhaupt weiter als Dia, eine kretische Insel innerhalb Sichtweite von Knossos…«

Robert Graves »Griechische Mythologie«

Seit sie denken konnte, hatte Kate Sonntage gehaßt. Noch heute behauptete sie, sollte sie je aus einem Koma aufwachen, wüßte sie sofort, ob Sonntag sei oder nicht. Vielleicht waren die Sonntage deshalb so entsetzlich, weil man sie mit der Familie verbrachte, zu Hause blieb und, zumindest die Erwachsenen, Vergnügen an diesem

»Familien«-Tag heuchelte. Das geräuschvolle Schweigen ihres Vaters war Kate noch genauso gegenwärtig wie die Nervosität ihrer Mutter und die Hast, mit der ihre Brüder nach dem unvermeidlichen Familienmittagessen einen Grund suchten, das Haus zu verlassen, das heißt natürlich, solange sie noch nicht alt genug waren, um dem Familienleben ganz zu entrinnen. Diese Zeiten waren längst vergangen, aber auch heute gab es wenig, was der Zähflüssigkeit eines Sonntags, seinen endlosen, stillstehenden Stunden, entgegenwirken konnte. Kate hatte jedoch im Laufe der Jahre eine Gegenstrategie für sich entwickelt: Sie machte den Sonntag zu einem Arbeitstag, und zwar einem viel strenger geregelten als die übrigen Tage, an denen sich die Zeit wie von allein auf vernünftige und angenehme Weise zu strukturieren schien. Sie stand früher auf als gewöhnlich, verbrachte eine halbe Stunde mit der dicken Sonntagszeitung – während der Woche blätterte sie die Zeitung beiläufig durch – und setzte sich dann an die Arbeit, die sie am Abend zuvor genauestens geplant hatte. Dieses Schema, das Kate strikt befolgte, vertrieb ihr nicht nur die Zeit, sondern ließ sie auch den Abenden mit weniger Schrecken entgegensehen – ein Schrecken, den in ihren jungen Jahren selbst die 100

verheißungsvolle Aussicht auf das Abendprogramm im Radio nicht hatte mildern können.

Ihr Plan für diesen Sonntag war die gründliche Beschäftigung mit Foxx’ ›Ariadne‹-Roman, den sie gerade zum zweitenmal gelesen hatte. Dem Usus seiner Schriftstellerkollegen der Moderne folgend, hatte Foxx den Lesern sein Romansujet nicht in dessen ursprünglicher mythischer Version vorgestellt. Entweder setzte er diese Kenntnis voraus, oder er hielt sie für überflüssig. Die Erläuterungen zu

›Das wüste Land‹ die einzige bekannte Ausnahme von diesem Vor-gehen, hatte T. S. Eliot, wie jeder Englischstudent höheren Semesters wußte, im nachhinein hinzugefügt um die Leerseiten in der Erstausgabe des Gedichts auszufüllen; diese Erläuterungen waren jedoch alles andere als geeignet, die Quellen seines Gedichts verständlicher zu machen. Wie bei Foxx und Joyce enthielt der Titel den entschei-denden Hinweis. Alle Schriftsteller der Moderne waren fasziniert von dem Phänomen des Labyrinths und dem Minotaurus, den Dädalus dort versteckt hatte. Aber Foxx war der erste, der Ariadne ins Zentrum der Sage rückte. Die Schriftstellerinnen der Moderne, räso-nierte Kate, zogen es offensichtlich vor, ihre eigenen Heldinnen zu schaffen und die der Mythologie den Männern zu überlassen. Die Männer dagegen ließen sich fast ausschließlich von den männlichen mythischen Gestalten inspirieren – die weiblichen ignorierten sie oder dachten ihnen nur Nebenrollen zu. Nur Foxx hatte eine Frau in den Mittelpunkt gestellt, ihre Gedanken zum Zentrum seines Meisterwerks gemacht.

Sein Buch beginnt, als Ariadne und ihr Hof die Ankunft des Schiffes mit den Stierspringern erwarten. Ariadne war prophezeit worden, unter ihnen befände sich Theseus, der Mann, den sie lieben würde. Die Frage, was diese Liebe für sie bedeuten wird, durchzieht den ersten Teil des Romans. Ariadnes Mutter, Pasiphae, liebte einen Stier, und Dädalus verlieh ihr die Gestalt einer Kuh, damit der Stier ihre Leidenschaft befriedigen konnte. Der Minotaurus, der aus dieser Vereinigung hervorging, wurde im Herzen des Labyrinths versteckt, und Ariadne war vorherbestimmt, den Mann zu lieben, der den Minotaurus tötete und wieder aus dem Labyrinth herausfände – denn das war der schwierigste Teil der Aufgabe. Weil sie Priesterin war –

wie der gebildete Leser wußte oder durch Lektüre der umfangreichen Sekundärliteratur zum ›Ariadne‹-Roman erfahren konnte –, erlaubt Foxx seiner Ariadne das Wissen um die andere (noch in der Zukunft liegende) verhängnisvolle Liebe in ihrer Familie – die Liebe von 101

Ariadnes Schwester Phädra zu ihrem Stiefsohn Hippolitos, dem Sohn von Theseus und Hippolyta, der Königin der Amazonen, die Theseus im Kampf besiegt hatte. Verhängnisvolle Lieben waren der Fluch, der auf dieser Familie lag. Und Foxx’ fasziniertes Interesse für diese verhängnisvollen Lieben – die verhängnisvollen Lieben aller Frauen – bildete den Kern seines Romans. In Ariadnes stürmischer Liebe zu Theseus, sinnierte Kate, sah Foxx zweifellos das Urbild von Gabrielles Liebe und Leidenschaft für ihn selbst.

Die Ironie, daß Ariadne mit dem Faden, den sie Theseus für das Labyrinth gab, ihrem eigenen traurigen Schicksal in die Hände spielte, war Foxx keineswegs entgangen. Seiner Meinung nach lenkten alle Frauen ihre Leidenschaften in solch tragische Bahnen, die die Männer dann für ihre eigenen Bedürfnisse ausnutzten. Jede Frau, die ihre Bestimmung in der Liebe sieht – und welche Frau, so hätte Foxx wohl gefragt, täte das nicht –, wird die ihrer Leidenschaft angemessenen Umstände herbeiführen, natürlich nur, wenn sie in der Lage ist, ihr Leben selbst zu lenken. Das Erstaunliche an Ariadnes Handeln lag für Foxx darin, daß sie, die doch in einem Matriarchat lebte und als Priesterin und Königin über enorme Macht verfügte, diese Macht einem Mann übergab, dessen Entscheidung oder Schicksal es sein würde, sie zu verlassen. Daß die herkömmlichen Beschreibungen ihrer Liebesgeschichte mit Theseus den Vater und den Geliebten in den Vordergrund stellten (die Leser werden an keiner Stelle aufgefordert, die Berichte über Pasiphae, Ariadnes Mutter, oder eine andere Frau hinzuzuziehen), machte für Kates Gefühl wieder einmal deutlich, wie die herkömmliche Geschichtsschreibung nur die Männer im Blick hat. Aus dieser Sichtweise sehnten Frauen sich nur danach, Männern zu helfen, von ihnen geliebt zu werden und ihrem untergeordneten Schicksal entgegenzueilen. Soviel war auch Foxx klar, und er hatte den Mut, seine Geschichte vom Blickwinkel der Frau aus zu erzählen. Graves mochte recht haben mit seiner Behauptung, Ariadne sei deshalb nicht weiter als bis zur Insel Dia gelangt, weil sie den Anspruch auf ihr Land nicht verlieren wollte. Wie sein Roman beweist, glaubte Foxx jedoch, Theseus habe sie verlassen, weil ihre Macht und Stärke ihm Furcht einflößten oder weil er Dionysos’ größeres Recht auf Ariadne anerkannte.

Kate war verblüfft von Foxx’ Selbstüberschätzung, denn plötzlich hatte sie begriffen, daß er mit der Verschmelzung von Theseus und Dionysos zu einer Figur sich selbst meinte: Ariadnes einzigen Geliebten. Die Ariadne-Gestalt in Foxx’ Roman hieß nun Artemisia 102

– der Name, auf den Foxx’ Enkelin getauft wurde, der aber (wie Kate aus Annes Memoir wußte) schnell von »Nellie« abgelöst wurde. Während sich Kate die Gemeinplätze der vielen Biographien, der Hansfordschen und anderer, ins Gedächtnis rief, fiel ihr plötzlich Foxx’ und Gabrielles erste Begegnung ein: Über labyrinthartige Pfade mußte Gabrielle ihn zu dem Buchenhain geführt haben, wo sie seine Geliebte wurde, seine Geliebte und willige Sklavin. Der griechischen Sage zufolge, die Kate vor kurzem noch einmal gelesen hatte, war Ariadne von Dionysos in eine Göttin, ein überirdisches Wesen verwandelt worden, und offenbar war Foxx davon überzeugt, das gleiche bei Gabrielle vollführt zu haben. Stellte sich nur die Frage: Wo blieb die wirkliche Gabrielle in all dem – im Mittelpunkt, wie Foxx meinte, oder nur im Mittelpunkt der Phantasie ihres Schöpfers und deshalb ihm untergeordnet?

Als Kate all dies endlich durchdacht hatte, war der Sonntag schon fast besiegt, und sie war bereit, sich mit Reed über die in der Sonntagszeitung geschilderten Ereignisse des Tages zu empören. Aber warum, grübelte sie immer noch, hatte Foxx Artemisia nur Geliebte zugedacht, die entweder unzulängliche Männer waren oder Frauen?

Artemisias Liebschaft mit Theseus waren weitere Lieben und Leidenschaften gefolgt, zumeist mit schwachen Männern, denen es entweder an körperlicher oder geistiger Kraft fehlte; in einer außergewöhnlichen Szene kam es jedoch auch zu einer leidenschaftlichen Begegnung mit einer anderen Frau. Im Gegensatz zu D. H. Lawrence, in dessen Darstellung lesbische Liebe finster und unheilvoll erschien, hatte Foxx die Leidenschaft der beiden Frauen in ein beglü-

ckendes, fast magisches Licht gerückt. Wie bei Lawrence tauscht die Geliebte seiner Heldin am Ende die Frauenliebe gegen die Liebe zu einem bösen Mann ein, aber solange ihre Leidenschaft für Artemisia währt, bildet sie ein Kernstück des Buches; gleichzeitig war sie der Hauptgrund, daß der Roman unter die Zensur fiel. Artemisia hatte die Herrlichkeit der Männer angezweifelt, aber, im Gegensatz zu Joyces Molly Bloom, andere Frauen nicht verachtet. Ebendiese Tatsache hatte verhindert, daß Foxx’ männerorientiertes Buch, als in den Siebzigern und Achtzigern die feministische Literaturwissenschaft aufkam, von den Frauen nicht voll und ganz abgelehnt wurde.

Kein Wunder also, daß man nun Fragen nach Gabrielle stellte. Kein Wunder, dachte Kate, daß die Entdeckung von Annes Memoir ein Anstoß war, eine Biographie über sie zumindest in Erwägung zu ziehen.

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Was hatte Gabrielle wohl von ›Ariadne‹ gehalten? Verdammt, warum bist du gestorben? schimpfte Kate mit Gabrielle, unvernünf-tigerweise, wie sie sehr wohl wußte. Warum hast du uns nicht er-zählt, was du dachtest? Warum hast du es nicht wenigstens Nellie oder Anne erzählt? Oder hast du vielleicht doch alles niedergeschrieben und Anne überlassen, es zu verstecken?

In allen Foxx-Biographien fanden sich Berichte von Leuten, die mit Gabrielle gesprochen hatten. Leute, die sowohl mit dem Schriftsteller wie auch mit seiner Frau befreundet waren, gaben mehr oder weniger beiläufige Bemerkungen Gabrielles wieder, aber auch Geständnisse, die sie in einem stillen Moment gemacht hatte. Einem Besucher hatte sie erzählt, ihr Mann habe sie zu Liebesaffären mit anderen Männern ermutigt, weil er ihre Reaktionen erforschen wollte. Sollte das wirklich stimmen? Und wenn ja, hatte sich Gabrielle seinen Wünschen gefügt? Kate hatte Dorinda um einen Abzug jenes Fotos von Gabrielle am Fenster gebeten. Es hing jetzt über ihrem Schreibtisch und fesselte ihre Aufmerksamkeit auf geradezu überna-türliche Weise.

»Dreh dich um«, wollte Kate zu ihr sagen – und sagte es. »Sag mir, was du denkst, was du von all dem Getue um ein Buch hältst, das du doch am besten von allen verstehst.«

War es vorstellbar, daß Gabrielle irgend jemand von den Grau-samkeiten (falls es welche gab) ihrer Ehe erzählt hatte? Sie war eine stolze Frau. Darin waren sich alle einig, die sie kannten. Sie war von ihrer Familie verstoßen worden, und sie strafte sie ihrerseits mit Verachtung, die die ganze englische Aristokratie mit einschloß. Aber der Stolz auf die eigene Herkunft ist schwer abzuschütteln – er hängt einem Menschen ewig an, auch wenn sein Glaube an dessen Berech-tigung längst erschüttert ist. Konnte man sich vorstellen, wie eine solche Frau sagte: »Er will, daß ich mit anderen Männern gehe.«

War Gabrielle in der Hoffnung nach England zurückgekehrt, ihre Heimat zurückzugewinnen, so wie Ariadne auf Dia geblieben war, um ihr Land nicht zu verlieren? Aber Knossos war ein Matriarchat, was niemand, der bei klarem Verstand war, England unterstellen konnte. Warum war Gabrielle dann nach England zurückgekehrt?

Nun, warum nicht? Es war ihr Geburtsland.

Den trüben Weltnachrichten, die sie mit Reed diskutierte, schenkte Kate nur ihre halbe Aufmerksamkeit, was ihm nicht entging.

»Gabrielle scheint dich ja sehr in Anspruch zu nehmen«, sagte er.

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»Mir ist nur nicht klar, ob du dich ihr als Detektivin, Literaturwissenschaftlerin oder Schriftstellerin widmest.«

»Ich weiß es selbst noch nicht«, sagte Kate. »Aber wenn du eine Definition unserer Zeit haben willst, hör zu: Es gibt keinen Wegwei-ser mehr für das Labyrinth – nicht um alle Liebe und Macht der Welt.«

»Sondern?« fragte Reed.

»Wir müssen den Faden selbst finden, jetzt, wo Ariadne uns den Tip gegeben hat. Ganz einfach.«

Beide lachten.

Ende der folgenden Woche hatte Kate den Entschluß gefaßt, als nächste Nellie zu befragen. Nellie lebte in der Schweiz und arbeitete für eine internationale Organisation, bei der Sprachkenntnisse und die Fähigkeit, über nationale Belange hinauszusehen, gefragt waren.

Kate komponierte ihren Brief an Nellie mit großer Sorgfalt – deutete den Wunsch an, sich mit ihr zu treffen, da sie ein Buch über ihre Großmutter plane. Sollte Nellie jedoch nicht zitiert oder über bestimmte Dinge nicht ausgefragt werden wollen, so würde dieser Wunsch selbstverständlich respektiert. Kate nannte ihre akademischen Qualifikationen und betonte, daß sowohl sie selbst wie auch der Verlag die Absicht hätten, die Biographie über Gabrielle so soli-de, unspektakulär und unjournalistisch wie möglich zu gestalten.

Die Antwort auf diesen so behutsam abgefaßten Brief war knapp, verwirrend und beinahe grob, wie Kate sich eingestehen mußte.

Nellie Foxx – mit dem Namen hatte sie unterzeichnet, offenbar hatte sie ihn nach ihrer Heirat beibehalten – wisse Kates ehrbare Absichten zu schätzen und zweifle auch keinen Moment an ihrer Qualifikation, eine Biographie zu schreiben. Sie selbst sei jedoch schon seit langem zu der Überzeugung gekommen, daß die Toten ein Recht auf Diskretion hätten. Gabrielles Beziehung zu Emmanuel durch die Preisgabe ihrer persönlichen Papiere öffentlich zu machen, verstoße gegen diese Grundüberzeugung. Sie habe daher alle Briefe Gabrielles an sie selbst und auch alle anderen Briefe Gabrielles, derer sie habhaft werden konnte, verbrannt. Sie sehe sich also außerstande, Kate oder auch sonst jemandem mit irgendwelchen Briefen zu dienen, was sich, wie sie hoffe, bald herumsprechen würde. Sollte Kate jedoch zufällig in Genf sein, wäre Nellie gern bereit, sich mit ihr zu treffen, und sei es nur, um damit deutlich zu machen, daß ihre Haltung in dieser Frage nicht gegen sie persönlich gerichtet sei. Ihren Entschluß, die Briefe zu verbrennen, dürfe Kate in keiner Weise als 105

Affront gegen sich auffassen, es handele sich dabei lediglich um eine Frage des Prinzips.

Außerdem seien die Briefe ohnehin schon vor Jahren verbrannt worden. Ansonsten würde sie sich freuen, Kate auf jede ihr mögliche Weise zu helfen und verbleibe mit freundlichen Grüßen, Ihre Nellie Foxx.

Entsetzt rief Kate Simon Pearlstine an, um ihn zu fragen – ihn zur Rede zu stellen, damit wäre ihr Ton genauer beschrieben –, ob er gewußt habe, daß Nellie alle Briefe Gabrielles verbrannt hatte.

»Das Gerücht ging um – ja«, antwortete Simon. »Aber wir alle hofften, es würde nicht stimmen. Es war bekannt, daß Nellie in diesem Punkt sehr bestimmte Ansichten hat. Aber niemand wußte, ob sie die Briefe wirklich verbrannt hat. Ich finde, Sie sollten es als gutes Omen nehmen, daß sie Ihnen so offen geschrieben hat und bereit ist, mit Ihnen zu sprechen. Für mich klingt das nach einem großen Kompliment.«

»Wenn Sie’s genau wissen wollen, mir wäre lieber, sie hätte die Briefe behalten und sich geweigert, mit mir zu sprechen«, schoß Kate zurück.

»Aber das hätte Ihnen nicht unbedingt weitergeholfen. Sie hätte sich immer noch weigern können, Ihnen die Briefe zu zeigen oder sie veröffentlichen zu lassen. Ich glaube, ein Gespräch mit ihr könnte sehr produktiv sein.«

»Offen gesagt, ich fühle mich hintergangen«, sagte Kate. »Ich weiß nicht, ob ich mich auf die Sache eingelassen hätte, wenn mir klar gewesen wäre, daß die meisten, wahrscheinlich alle, Briefe Gabrielles vernichtet worden sind.«

»Zumindest haben Sie jetzt die Gewißheit«, war Simons wider-sinnige Antwort. »Bisher war es nur ein Gerücht. Warum fahren Sie nicht nach Genf und sparen sich die Vorwürfe bis zu Ihrer Rückkehr auf? Geben Sie wenigstens etwas von dem Vorschuß aus, ehe Sie sich entschließen, ihn zurückzugeben und ein so faszinierendes Projekt fallenzulassen.«

»Ich habe mich in Ihnen getäuscht«, sagte Kate. »Sie sind keinen Deut besser als andere Verlagsleute: Geld, Geld, Geld.«

»Wenn Sie zurück sind, führe ich Sie zu einem formidablen Lunch aus, mit Wein und allem drum und dran«, sagte Simon. Kate knallte nicht direkt den Hörer auf, aber sie sagte auch nicht direkt auf Wiedersehen. Sie ließ den Hörer nur langsam auf die Gabel sinken und dachte über Genf nach.

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