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»Lesen Sie das Ganze allein durch«, sagte Anne. »Schließlich sind Sie diejenige, die es herausgeben muß.«

Es war der Morgen, nachdem sie die letzte Seite einem Kapitel zugeordnet und die Kapitel in eine Reihenfolge gebracht hatten, die ihnen plausibel erschien. Nichts war sicher, aber Kate fühlte sich zuversichtlich, daß sie Gabrielles Roman so gut wie möglich rekonstruiert hatten. Denn es war in der Tat ein Roman.

»Ich könnte Ihnen Kapitel für Kapitel vorlesen«, schlug Kate vor,

»und dann könnten wir beide entscheiden, ob wir die Geschichte zusammenhängend finden oder nicht. Oder Sie lesen mir vor. Natürlich können wir uns auch abwechselnd vorlesen.«

»Mir wär’s lieber, Sie machen das allein«, sagte Anne und starrte in den Garten. »Vorausgesetzt natürlich, daß Sie wirklich entschlossen sind, die Herausgabe zu übernehmen und das biographische Porträt zu schreiben. Es kommt Ihnen bestimmt eigenartig vor, daß ich nach all der Arbeit und Mühe nicht neugieriger bin, aber ich habe das starke Bedürfnis, das Ganze nun Ihnen zu überlassen. Ich freue mich darauf, das Buch zu lesen, wenn es erscheint, aber vorerst möchte ich nichts mehr damit zu tun haben. Wenn ich es wissen wollte, könnte mir ein Psychologe wahrscheinlich ganz genau erklä-

ren, warum das so ist.

Aber ich will’s nicht wissen. Ich hoffe nur, daß Sie jetzt nicht beleidigt sind.«

»Keine Spur«, sagte Kate. Seltsam, aber sie verstand Annes Ge-fühle, auch wenn sie sie genausowenig erklären konnte wie Anne selbst. »Aber ehe ich mit dem Manuskript nach Hause fliege und Sie in diesem hübschen Haus Ferien machen lasse, gibt es noch eine Sache, bei der ich Ihre Hilfe brauche.« Die Katze saß vor der Terrassentür und blinzelte in die Sonne, und in der Luft lag das Versprechen herrlicher Zeiten ohne das Hinundherschieben von Papieren.

»Bei welcher Sache?«

»Wir müssen Kopien machen«, sagte Kate und klopfte auf den Stapel neben sich. »Die Vorstellung, das Ganze zu verlieren, oder noch schlimmer, noch einmal von vorn sortieren zu müssen, ist zuviel für mich.«

»Wahrscheinlich haben die Engländer Kopierläden, genau wie wir.«

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»Wahrscheinlich. Aber dort können wir nicht hin. Wir müssen die Kopien selbst machen.«

»Haben Sie vor, sich einen Kopierer zu kaufen und ihn Lavinia als Gastgeschenk zu hinterlassen?«

»Wenn wir keine andere Lösung finden, ja. Aber ich dachte eher daran, Reed zu bitten, daß er ein Anwaltsbüro in London ausfindig macht, dessen Kopierer wir Samstag oder Sonntag benutzen können.

Ich hatte auch erwogen, Simon Pearlstine zu bitten, daß er einen Verleger oder Agenten bewegt, uns diesen Gefallen zu tun, aber ich habe keine Lust, Simon transatlantisch zu erklären, was ich kopieren will und was von seinem geliebten Plan einer Biographie übriggeblieben ist. Derlei Dinge sind von Angesicht zu Angesicht und mit dem Material vor Augen besser zu verhandeln. Werden Sie mir beim Kopieren helfen?«

»Mir fällt keine Ausrede ein. Hätte ich eine, würde ich ablehnen.

Wie viele Kopien wollen Sie machen, und was gedenken Sie damit zu tun?«

»Ich habe mir schon gedacht, daß Sie Gabrielles Papiere im Augenblick lieber nicht auf dem Hals haben, nicht einmal in Fotokopie.

Ich weiß nicht warum, habe aber das Gefühl, Ihre Entscheidung ist richtig. Also werde ich eine Kopie an mich nehmen, eine an meine New Yorker Adresse schicken und eine dritte an eine noch zu be-stimmende Adresse in New York. Das Original wird entweder hier bei einem Anwaltsbüro oder wiederum einer Bank hinterlegt, je nachdem, was Reed mir rät. Im Augenblick bin ich für Ratschläge sehr empfänglich, wie Sie sehen, und ich verdopple meine Sicher-heitsvorkehrungen, um selbst die böswilligsten Absichten eines übelmeinenden Schicksals zu überlisten. Außerdem wird Reed mir gewiß zustimmen, daß das Originalmanuskript hierher gehört, zumindest so lange, bis Sie und Nellie entscheiden, was damit geschehen soll. Sollte die Veröffentlichung von Gabrielles Roman ein Erfolg werden, könnte es auf einer Versteigerung eine hübsche Summe erzielen.«

»Ich verstehe«, sagte Anne. »Sie verstreuen so viele Kopien in alle Winde, weil Sie den Göttern keine Chance geben wollen, uns einen bösen Streich zu spielen. Das hört sich für mich nicht übergeschnappter an als für Sie.«

Anne lächelte, und Kate wußte, alles war in Ordnung. Sie und Anne standen immer noch auf derselben Seite, Anne war immer noch eine Freundin und würde es wahrscheinlich auch bleiben. Also 159

ging Kate zum Telefon, um Reed zu konsultieren und ihn zu bitten, seine Fäden zu ziehen, wie sie es gern ausdrückte, um ihr zu helfen.

Reed hatte sie oft darauf hingewiesen, er ziehe an keinen Fäden, sondern lasse sich nur alte Gefälligkeiten wiedergutmachen, aber diese Sicht der Dinge sagte Kate nicht zu. Trotzdem, sie wußte, daß Reed gut zu den Menschen war, großzügig half und viele Leute es als Vergnügen betrachteten, ihm ihrerseits zu helfen, und sei es nur mittelbar über seine nervtötende Frau.

Reeds Fäden waren so effektiv wie immer. Er fand ein Anwaltsbüro, das bereit war, seinen Fotokopierer zur Verfügung zu stellen, und sich glücklich schätzte, nach Fertigstellung der Kopien das Originalmanuskript in Verwahrung zu nehmen. Dann schlug er Kate ein New Yorker Anwaltsbüro vor, an das sie einen Satz Kopien schicken könnte und drängte sie, die dritte Kopie mit an Bord zu nehmen und sich während des Flugs damit zu vergnügen. Er werde sie auf dem JFK abholen, sie müsse ihm nur noch die Ankunftszeit mitteilen.

Ansonsten freue er sich darauf, sie sehr bald zu sehen. »Ganz mei-nerseits«, versicherte ihm Kate, die sich dringend wünschte, nach Hause zu Reed und einem Leben zurückzukehren, das ihr mittlerweile herrlich ruhig und vernünftig erschien – zu einem Leben jedenfalls, bei dem sich die Hauptaktivitäten nicht auf dem Fußboden abspielten.

Vorerst zogen Anne und Kate am nächsten Nachmittag los, jede eine Hälfte des Manuskripts unter dem Arm. Dahinter stand das herrlich verrückte Motiv, daß, würde eine überfahren, zumindest die andere Hälfte von Gabrielles Werk unversehrt und ohne Blutflecken überleben würde. Von älteren Kollegen kannte Kate Geschichten aus den Tagen, als es noch keine Kopierer gab, und das einzige getippte Exemplar einer kostbaren Dissertation, in der oft die Arbeit einer ganzen Dekade steckte, von seinem panischen Verfasser durch die Gegend transportiert wurde. Man hätte natürlich einen Durchschlag machen können, aber das geschah in den meisten Fällen nicht. Diese in der Tat schrecklichen Zeiten lebten nun, zumindest für wenige Stunden, wieder auf. Aber war der Kopierer erst einmal mit Gabrielles Seiten gefüttert, würde Kate es nicht abwarten können, London und Anne ihrer Freude aneinander zu überlassen – und das wäre in wenigen Stunden.

Aber in allerletzter Minute zeigte sich, daß ihr Abschied von London doch nicht so überstürzt vonstatten gehen sollte – zuerst war da der englische Anwalt, der Reed kannte und bewunderte und ent-160

zückt war, Kate kennenzulernen, sich geehrt fühlte, hilfreich zu sein.

Er hatte noch zu arbeiten und würde im Büro bleiben, bis sie fertig wären. Dann würde er sich um die sichere Verwahrung des Originalmanuskripts kümmern. Aber vorerst sei der Bürogehilfe, Mr.

Martin, nennen Sie ihn Phil, da, um ihnen zu helfen, die Seiten in den hochmodernen Kopierer zu stecken, der nicht nur vier Kopien auf einmal machen könne, sondern obendrein das Ganze auch gleich sortieren und stapeln werde.

Der Ausdruck sowohl auf Kates wie Annes Gesicht wechselte jäh von strahlender Dankbarkeit zu hochalarmierter Besorgtheit. Als sie Reed später davon erzählte, erkannte Kate, wie komisch ihr entsetzter Gesichtsausdruck gewirkt haben mußte, aber in dem Augenblick hatten sie und Anne die gleiche schlimme Befürchtung, nämlich daß Phil Martin die Gelegenheit hatte, Gabrielles Worte zu lesen. Der englische Anwalt, dessen Namen sie vor Aufregung gleich wieder vergessen hatte – ihn sich wiederholen zu lassen, war ihr peinlich –, erahnte den Grund ihres Schreckens. Er geleitete sie in sein Büro, beide hatten immer noch ihre jeweilige Hälfte des Manuskripts an die Brust gedrückt, und schloß die Tür.

»Machen Sie sich keine Sorgen wegen Phil«, sagte er. »Phil interessiert sich für nichts Geschriebenes, es sei denn, es handelt von Fußball oder Rockmusik, aber wahrscheinlich noch nicht einmal dann. Er ist glücklich, wenn er Überstunden machen kann, indem er Ihnen hilft. Aber alles Geld der Welt könnte ihn nicht bewegen, auch nur ein Wort von dem zu lesen, was Sie dort haben, und selbst wenn er es wollte, bin ich mir nicht sicher, ob er es könnte. Phil ist ein Techniknarr, und die geschriebene Sprache gehört für ihn der grauen Vorzeit an. Alles, was nicht mit Elektronik, Mechanik oder Sport zu tun hat, läßt Phil kalt. Sie können sich ja neben ihn stellen, während er kopiert, und ihm jede Seite des Originals aus den Händen reißen, sowie er sie fertig hat – falls Sie das beruhigen sollte.«

»Sie fragen sich bestimmt, was das ganze Theater soll«, sagte Kate. Schließlich war er ein Kollege, vielleicht sogar ein Freund von Reed, und es war wohl an der Zeit, ihre kindische Nervosität zu unterdrücken und die souveräne Frau und Professorin zu spielen.

»Reed hat mich wissen lassen, was wir hier kopieren und aufbewahren sollen«, sagte der Anwalt. »Aber jetzt gehen Sie hin und bringen die Kopiererei hinter sich, und ich warte hier auf das Original. Vielleicht hätten Sie beide dann Lust, mit mir essen zu gehen?«

»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Kate und blickte zu Anne, die 161

den Kopf schüttelte. »Aber ich fliege morgen sehr früh nach New York zurück, und Anne ist sehr müde, ich übrigens auch. Aber vielen Dank für die Einladung.«

Und sie kehrten zu Phil zurück, der schon ungeduldig wartete, seinen Job zu erledigen, der ihn, wenn auch gut bezahlt, noch Stunden hier festhalten würde. Kate und Anne legten das Manuskript ordentlich aufeinandergestapelt neben ihn – sie hatten inzwischen die Seiten von Anfang an durchnumeriert – und beobachteten ihn, wie er mit einer Geschwindigkeit und Geschicklichkeit arbeitete, die in der Tat atemberaubend war. Vor ihren Augen verwandelten sich Gabrielles kostbare Geheimpapiere in etwas Öffentliches, fanden schon jetzt sozusagen Eingang in den Literaturfundus der letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts.

Phil arbeitete sorgfältig, aber als er eine Seite ein bißchen grob anfaßte und sie hörten, wie diese leicht einriß, stockte ihnen der Atem, so als hätte er ihnen selbst etwas zuleide getan. »Kann passie-ren«, sagte Phil im herrlichsten Cockney-dialekt, aber keineswegs unfreundlich. Zweifellos hielt er sie beide für zwei übergeschnappte Tanten, eine alt, die andere kurz davor, die wegen eines Haufen Papiers ein Theater machten, als wären es echte Geldscheine. Phil zuckte die Achseln. Frauen, die weit über Zwanzig waren, beflügelten weder sein Interesse noch seine Phantasie: Man bezahlte ihn, er machte seine Arbeit, und dann ab ins wirkliche Leben!

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit beendete er seinen Job. Anne hatte große Umschläge mitgebracht, um die für New York bestimmten Kopien zu versenden, zwei per Post, eine per Kate. Das Original wurde sorgfältig verpackt und dem netten englischen Anwalt übergeben, in dessen Büro sie sich verabschiedeten. Wieder preßte Kate ihr Exemplar an die Brust, aber nun nicht mehr so ängstlich. Sie bedankten, sich überschwenglich bei dem Anwalt, wobei die Erleichterung ihre Dankbarkeit schon fast ins Unangemessene steigerte, und tauchten in den Londoner Abend ein.

Die erste Phase der Wiederauferstehung von Gabrielles Papieren war abgeschlossen! Kate fragte sich, ob sie es sich so vorgestellt hatte, natürlich nicht die Kopiererei, sondern die ersten Stationen auf dem Weg zur Veröffentlichung. Danach befragt, sagte Anne, während Phil kopierte, habe sie ständig das Gefühl gehabt, Gabrielle sei zugegen – im Geiste natürlich.

»Natürlich«, sagte Kate, die einem Taxi zuwinkte, das, wie durch ein Wunder, direkt vor ihnen einen Fahrgast absetzte. Nachdem sie 162

die Kopien im Haus verstaut und die Katze in den Garten gelassen hatten, gingen sie zu einem letzten Drink in »ihr« Pub in Hampstead.

Kate hatte ein richtiges Restaurant vorgeschlagen, aber Anne wollte ihrer inzwischen eingespielten Routine treu bleiben, und Kate gab ihr recht. Es würde ohnehin eine Weile dauern, bis sie wieder in den Genuß eines zünftigen Steak-and-Kidney-Pies käme, von einem guten englischen Bitter ganz zu schweigen.

Während Kate und Anne ihr letztes gemeinsames Mahl einnah-men, rief der Londoner Anwalt Reed an, der gerade ins Bett wollte, und berichtete ihm, daß alles gut verlaufen sei und er und sein Büro das Manuskript bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würden.

Kate sei jedoch völlig anders gewesen als erwartet. Sie habe nicht viel geredet, nervös gewirkt und sei ganz und gar nicht die Person gewesen, die er Reeds Schilderungen zufolge erwartet habe. Ihm sei sie völlig verängstigt vorgekommen.

»Sie hatte ja auch noch nie in ihrem Leben die Verantwortung für ein Originalmanuskript«, sagte Reed lachend. »Das nächste Mal, wenn Sie in New York sind, müssen Sie mit uns essen gehen und sie in Hochform erleben. Das ist einen Transatlantikflug wert, glauben Sie mir.«

»Abgemacht«, sagte der englische Anwalt.

Für den Rückflug gönnte sich Kate einen Platz in der ersten Klasse. Angeschnallt wie ein Baby auf seinem Kindersitz in alarmieren-der Nähe zu irgendeinem übergewichtigen Nachbarn zu sitzen, hatte seinen Reiz für sie verloren. Auch auf den Glücksfall, das Flugzeug könne, wie beim Hinflug, so leer sein, daß sie sich über drei Sitze ausstrecken und schlafen konnte, wagte sie nicht zu hoffen. Trotzdem entspannte sie sich, genoß den freundlichen Service und ließ sich ein Glas Champagner kredenzen, während sie auf den Start wartete.

»Auf Gabrielle«, sagte sie, das Glas in der Hand, und verwirrte damit die Stewardeß, der sie erklärte, dies sei als Trinkspruch zu verstehen und nicht als Bitte oder Kommentar. Die Stewardeß lä-

chelte, aber Kate entging nicht, wie sie dem Steward etwas zuflüsterte, der sie von nun an bediente. Offenbar bin ich für die beiden die typische übergeschnappte Reisende, dachte Kate mit unverhohlenem Vergnügen. Solange man sie in Ruhe ließ, war ihr das egal.

Noch ehe das Flugzeug sich gefüllt hatte, die Gangway eingeholt war und die Maschine auf die ihr zugedachte Startbahn rollte, hatte Kate es sich mit Gabrielles Roman bequem gemacht. In London 163

hatte sie tapfer der Versuchung widerstanden, irgendein Urteil zu fällen oder ihn sich überhaupt näher anzusehen, sondern ihre ganze Aufmerksamkeit auf die vor ihnen liegende körperliche Schwerarbeit konzentriert. Sie würde zu einem Entschluß kommen müssen, ob sie die Herausgabe übernehmen wollte oder nicht; und auch darüber, was sie Simon Pearlstine erzählen sollte, mußte sie sich klarwerden.

Begeisterung oder Entsetzen – beide Reaktionen waren vorstellbar, und Kate wollte sich ihres eigenen Standpunkts ganz sicher sein, ehe sie das Thema ihm gegenüber anschnitt.

Kate betrachtete die erste Seite von Gabrielles Manuskript:

»Heute abend kommt er, dachte sie. Noch ein Tag des Wartens«, lautete der Eröffnungssatz – der erste Satz sowohl von Emmanuels wie auch Gabrielles Roman. Aber während in Emmanuels erstem Satz Vorfreude, Begierde und unbändige Sehnsucht mitschwangen, ließ Gabrielle ihre Heldin diesen Satz mit Ironie, Furcht und Verzweiflung aussprechen. Die Ankunft des Eindringlings stand bevor.

Ariadne, wie Foxx’ Artemisia in Gabrielles Roman hieß, hatte von Dädalus den Rat erhalten, Theseus bei seiner Ankunft den Faden für das Labyrinth zu geben. Dann würde er den Minotaurus töten und nicht, so stand zu hoffen, ihre Mutter oder Schwester. Griechische Männer waren grausam: Sie vergewaltigten und triumphierten über Frauen und schwache Männer, wo sie nur konnten. Stieß er auf Widerstand, würde Theseus vielleicht ihre ganze Familie töten, die heilige Doppelaxt ergreifen und außer dem Minotaurus auch alle anderen ermorden. Ihre einzige Chance war, so zu tun, als erwarte sie ihn mit aller Sehnsucht und Freude, der ein junges Mädchen nur fähig war. Dies war die einzige Hoffnung – für sie, ihre Mutter Pasiphae, ihre Schwester Phaedra und die Priesterinnen.

»Ich dachte, das Labyrinth sei eigentlich gar kein Labyrinth, sondern eine Doppelaxt, das Wahrzeichen der Priesterinnen von Kreta«, brummelte Kate vor sich hin und zog damit einen verstohlenen Blick des Stewards auf sich, der sich in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah. Kate lachte innerlich. Ich werde allmählich sonderbar.

Das ist Gabrielles Einfluß. Ich muß sehen, daß ich wieder die alte bin, bis ich lande.

Ihre Frage war jedoch bald beantwortet: Das Labyrinth war der ganze Palast von Knossos. Genauso war er gebaut, und auch die berühmte Tanzfläche und die Arena, in der die Akrobaten ihre Kunststücke über den Hörnern von Stieren vollführten, waren Teil des Labyrinths, Teil des Palastes, der die Form einer Doppelaxt 164

hatte. Kate bewunderte die Geschicklichkeit, mit der Gabrielle dies in ihrem Roman herausgearbeitet hatte: Sie schien jedes Detail über Evans’ Entdeckungen der antiken kretischen Kultur gelesen zu haben.

Gabrielles Kreta war eine Kultur, die die Gewalt und Brutalität fremdländischer Männer fürchtete. Kreta war ein Matriarchat, in dem es Priesterinnen und eine Königin gab. Aber die kretischen Männer waren keineswegs unterdrückt: Sie waren weder Sklaven noch Bei-schläfer, weder ausschließlich für die Hausarbeit zuständig noch schiere Objekte von Lust und Begierde. Sie führten auf Kreta ein erfülltes Leben, waren sportlich, künstlerisch, sanft und voller Vitalität. Gabrielle machte deutlich, daß sich Männlichkeit auf Kreta nicht durch Gewalt ausdrückte, schon gar nicht durch Gewalt gegen Frauen oder Schwächere. Die kretische Kultur weiß, daß andere Natio-nen, besonders Griechenland, männliche Brutalität und Grausamkeit honorieren und ihre Männer ausschicken, um Kriegsbeute zu machen, in Form von Vergewaltigungen, Blutbädern und der Zerstö-

rung anderer Länder.

In früheren Jahren hatte Kreta als Preis dafür, daß es anderen Na-tionen erlaubte, seine Gewässer zu durchqueren, einen jährlichen Tribut von sieben Jünglingen und sieben Jungfrauen gefordert, die auf Kreta blieben und mit der Bevölkerung lebten. Diese Jugendlichen waren keine Opfer; sie waren herzlich willkommen und berei-cherten das genetische Potential. Ohne es benennen zu können, erkannten die Herrscher Kretas die Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung mit frischem Blut, oder, wie wir heute sagen würden, mit frischem genetischem Potential, zu versorgen. Jene Jugendlichen, Knaben wie Mädchen, die als Stierspringer ihre akrobatischen Kunststücke auf Stierhörnern vollführten – der Stier war für die Kreter das männliche Fruchtbarkeitssymbol und zugleich der höchste Tiergott und Gemahl der Königin –, lehrten die Kreter neue Fertig-keiten und gaben ihnen Zuversicht. Diese Jugendlichen waren weder zum Untergang bestimmt noch seelenlose Tribute, wie die griechischen Mythen es darstellen.

Aber diese alte kretische Kultur im Palast von Knossos fürchtete nun ihre Zerstörung durch die gewalttätigen Griechen, an deren Spitze Theseus stand. Konnte Ariadne sie überlisten? Während Emmanuels moderne Verarbeitung des Stoffes sich am griechischen Mythos orientierte – ohne sich jedoch je offen auf ihn zu beziehen oder ihn zu interpretieren –, begann Gabrielles Roman in jenem histori-165

schen Moment, ehe die griechische Mythenbildung einsetzte. Kate hatte inzwischen genug von dem Manuskript gelesen, um zu wissen, daß nach dem ersten Teil, der in jenen frühgeschichtlichen Zeiten spielt, die vor über einem Jahrhundert von Evans wiederentdeckt und rekonstruiert worden waren, der Hauptteil des Romans in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verlagert wird, wo Ariadne, nun in Artemisia umbenannt, wiederum auf die Gestalt wartet, die Emmanuel Foxx Theseus nachgebildet hat.

Aber zu Beginn von Gabrielles Roman bittet die kretische Ariadne, die kraft ihrer prophetischen Gabe um die drohende Zerstörung ihrer Heimat und ihrer Kultur weiß, Dädalus um Rat, so wie es ihre Mutter zuvor getan hatte. Dädalus will keine Rolle in der sich nun entfaltenden männerzentrierten griechischen Welt. Sein Sohn Ikarus berauscht sich an der Vorstellung, in einem Patriarchat zu leben und Kriege zu führen, und Dädalus muß zusehen, wie sein Sohn, voll neuerworbenem Männerstolz, der Sonne zu nahe kommt und seine Wachsflügel schmelzen, die er seinem Vater gestohlen hat. Dädalus hatte gewußt, daß sein Sohn sie ihm gestohlen hatte, hatte gewußt, daß Ikarus, bliebe er am Leben, alle verraten würde. Und Ariadne lernt daraus, daß die griechischen Männer und ihresgleichen sich am Ende selbst zerstören, aber vielleicht erst, nachdem sie die ganze Erde zerstört haben.

Dädalus hat nicht genug Zeit, Ariadne alles zu erzählen, was er weiß. Kreta wird erobert werden; es gibt keinen Weg, dem Verhängnis zu entgehen. Die alten Sitten werden untergehen, die Frauen versklavt oder zu machtlosen Objekten männlicher Begierde degra-diert. Auch andere Völker, denen die Griechen sich überlegen fühlten, würden versklavt. Während sie ihm zuhört, verzweifelt Ariadne.

Dädalus erklärt, es gebe nur einen Ausweg: Theseus müsse sich in der Gewißheit wähnen, er habe leicht gesiegt, und Ariadnes Liebe habe ihm diesen Sieg ermöglicht. Dann werde er sie und Phaedra fortführen, und dann könne Phaedra ihre Bestimmung erfüllen: Sie muß Theseus veranlassen, seinen Sohn zu töten, der die Verkörperung männlicher Selbstverherrlichung ist, um auf diese Weise großes Leid abzuwenden und seine Mutter Hippolyta zu rächen. Auch Hippolyta ist eine Zukunft bestimmt, im Gegensatz zu den Darstellungen der griechischen Mythologie.

Ariadne muß Theseus Lust vorspielen und ihm erlauben, sie fort-zuführen. Ist sie erst einmal auf seinem Schiff, muß sie ihn in solchen Schrecken versetzen, daß er sie auf Dia, einer kretischen Insel, 166

an Land bringt, wo Dionysos ihr zu Hilfe eilt und ihr Überleben und ihre schließliche Rückkehr sichert. Sehr spät werde diese Rückkehr stattfinden, sagt Dädalus, aber sie sei gewiß.

Ariadne folgt Dädalus’ Rat. Um Theseus in Schrecken zu versetzen, spielt sie ihm einen Anfall von Wahnsinn vor. Wie Theseus gehört hatte, neigen Frauen zu derlei Ausbrüchen. Ariadne rast und verlangt nach Männerfleisch, um sich ein Festmahl zu bereiten. Ihre Schauspielerei ist überzeugend – so überzeugend, daß sie sich am Schluß selbst fürchtet. Nachts segelt Theseus an Land, setzt sie auf der Insel Dia ab und erzählt seiner Mannschaft, er werde sie am nächsten Tag abholen. Am nächsten Tag tut er jedoch so, als habe er sie vergessen. Seine Männer, die durch das, was sie gesehen oder von anderen gehört haben, vom Entsetzen gepackt sind, erinnern Theseus nicht. Ist Ariadne daran schuld, daß er vergessen hat, seine schwarzen Segel gegen weiße auszutauschen und so seinem Vater zu signalisieren, daß er lebend zurückkehrt? Nein, nicht Ariadne, sondern Theseus selbst ist es, der begierig darauf ist, den Platz seines Vaters einzunehmen und unter der Herrscherfahne zu segeln.

So endete der erste Teil. Kate vertiefte sich sofort in den zweiten, der wiederum so begann wie in Emmanuels Roman, nämlich in dem Moment, als die moderne Heldin auf die Ankunft der Theseus-Figur wartet. Gabrielles moderne Heldin, Artemisia, weiß, daß die Zeit für eine Wiederbelebung der mikenischen Kultur gekommen ist. Wie Joyces Stephen Dedalus betet Artemisia: »Urvater, uralter Artifex, steh hinter mir, jetzt und immerdar.« Sie leiht sich Joyces Worte, um zu sagen: »Willkommen Leben! Als millionster zieh ich aus, um die Wirklichkeit der Erfahrung zu finden und in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffne Gewissen meines Volkes zu schmieden.«

Gabrielle hatte auch Joyce gelesen.

Einige Tage nach ihrer Heimkehr, als sie sich allmählich wieder in ihre alten Lebensbahnen einfand, die ihr jedoch immer noch eigenartig unvertraut vorkamen – unzählige Briefe waren zu beantworten, zeitaufwendige Telefonate zu führen, und überhaupt mußte wieder irgendeine Ordnung in ihre Angelegenheiten gebracht werden –, fand Kate die Ruhe, Reed alles über die vor ihr liegende Entscheidung zu erzählen. Mittlerweile hatte sie Gabrielles Roman ein zweites Mal gelesen, und auf eigenartige Weise schien er ihr große Kraft gegeben zu haben. Das versuchte sie Reed zu erklären.

»Wahrscheinlich bin ich meschugge, aber dieses Gefühl kenne ich ja schon allzugut, seit ich Gabrielle und allen, die mit ihr zu tun 167

gehabt haben, begegnet bin. Ich meine, selbst Simon Pearlstine tauchte auf wie eine Gestalt aus dem Nirgendwo, wie ein Besucher von einem anderen Stern.«

»Zuerst dein Entschluß«, sagte Reed. »Erklärungen und Entschuldigungen später.«

»Zu einem Entschluß bin ich ja eben noch nicht gekommen. Und wenn ich Erklärungen und Entschuldigungen fortlassen soll, bleibt mir nur noch eine Frage.«

»Dann stell sie.«

»Soll ich dieses verrückte Buch herausgeben und ein biographisches Porträt schreiben, und was soll ich Simon erzählen?«

»Das sind gleich drei Fragen. Willst du das Buch herausgeben?

Nein, laß mich anders fragen: Worum geht es deiner Meinung nach in dem Buch?«

»Ich hasse Leute, die fragen, worum es in einem Roman geht«, antwortete Kate leicht gereizt.

»Worum geht es in dem Roman, den du einmal brillant und dann wieder schrecklich und lächerlich findest – je nachdem, in welcher Stimmung und wie nüchtern du bist?«

»Er ist seiner Zeit so unglaublich weit voraus. Und geschrieben wurde er schließlich auf dem Höhepunkt der klassischen Moderne, jedenfalls nicht lange danach. Wann genau er entstand, weiß zwar niemand, mit Sicherheit aber nicht vor den 20er Jahren, als Emmanuel Foxx an seiner ›Ariadne‹ arbeitete, und nicht nach 195 5, als Anne Gabrielle besuchte und ihre Papiere in Sicherheit brachte.

Meiner Vermutung nach wurde der größte Teil in den dreißigern und vierzigern geschrieben, vielleicht mit Unterbrechungen während des Krieges, vielleicht auch nicht. Und möglicherweise hat Gabrielle das Manuskript Anfang der fünfziger in London überarbeitet. Wie war noch einmal deine Frage?«

»Kate, du redest von Minute zu Minute blumiger und zusam-menhangloser. So bist du oft, wenn deine Fälle kurz vor einer Lö-

sung stehen. Aber ich habe noch nie erlebt, daß du so konfus bist, wenn es nur um eine literarische Frage geht. Entschuldige, das nur nehme ich zurück. Also: wenn es um eine literarische Frage geht.

Meine Frage war, was an dem Roman verstört dich so?«

»Gute Romane sollen einen ja verstören! Na gut, ich halte mich an diesen. Aber verfall jetzt bitte nicht in deine Strafverteidiger-Manier und spring auf und mach Einwände, sowie ich nur den Mund öffne.«

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»Das tun nicht nur Strafverteidiger«, sagte Reed milde. »Erzähl weiter.«

»Wie dir vielleicht aufgefallen ist, schützt mich die Tatsache, daß ich Feministin bin – oder zumindest gelegentlich andeute, daß das Patriarchat nicht die herrlichste, gottgegebene und vollkommenste aller Lebensformen ist –, selbst in diesen mehr oder weniger feministischen Zeiten nicht vor Angriffen oder davor, ins Lächerliche gezogen zu werden. Und mir ist auch klar, daß Gabrielle sich keinerlei Illusionen machte: Wenn sie etwas so Radikales, so Revolutionäres wie ihren Roman veröffentlichte, dann würde man sie schlimmsten-falls attackieren und bestenfalls ignorieren. Wäre sie nicht Emmanuel Foxx’ Frau gewesen, hätte sie ihn vielleicht veröffentlichen und hoffen können, zu Lebzeiten ignoriert und später neu entdeckt zu werden. Aber so, wie die Dinge lagen, wußte sie, daß man sie zur Kenntnis nehmen würde, und sei es auch nur, weil ihr Roman sich so deutlich auf den von Foxx bezog. Vielleicht war sie nicht der Typ, der sich selbst gern in die Scheiße reitet, um es rüde auszudrücken.«

»Na, wenigstens ist es deutlich«, meinte Reed. »Aber das war damals. Wird man den Roman heute nicht in einem völlig anderen Licht sehen? Liegt seine Bedeutung nicht auf der Hand? Und da du keinerlei persönliche Verbindung zu Gabrielle hast – was könnte man dir anlasten?«

»Ich lehre Literatur. Und dieser Roman versucht, Emmanuel Foxx’ Meisterwerk in Frage zu stellen, ja, zum Teufel, es vom So-ckel zu schubsen. Noch schlimmer: Er schildert die klassische Moderne als männerzentriert und verlogen.

Und Urheberin des Ganzen ist ausgerechnet Foxx’ eigene Frau!

Mein Gott, Reed, Gabrielles Roman wird wahrscheinlich überall besprochen, bis hin zum ›People‹-Maga-zin. Ich hör jetzt schon all die Kritiken. Verstehst du denn nicht?«

»Ich finde, du solltest ihn herausgeben. Mach Streichungen, wo nötig, schreib einen rasanten, aber eleganten Abriß ihres Lebens, laß die heiklen Punkte draußen und schick das Ganze los. Wenn Simon Pearlstine es nicht veröffentlichen will, dann findet sich bestimmt ein anderer Verleger. Gib ihm seinen Vorschuß zurück, den Teil, den du schon bekommen hast, und damit hat sich die Sache!«

»Aber will ich wirklich im Mittelpunkt eines entsetzlichen Wirbels stehen, einer akademischen und literarischen Debatte, die über Jahre andauern wird und neben der das endlose Gezeter, ob die Gouvernante in Henry James’ ›The Turn of the Screw‹ nun phantasiert 169

hat oder nicht, gar nichts ist?«

»Nun, das ist ein Problem, das ich mein keineswegs ereignisloses Leben lang erfolgreich umschifft habe. Ich gehöre nun mal zu dem Kreis Unbedarfter, die von den Wogen um Gabrielles Roman wahrscheinlich überhaupt nichts mitbekämen – wäre ich nicht zufällig mit dir verheiratet. Schon gut, ich weiß, darum geht es jetzt nicht. Hast du Angst, Kate? Steckt das eigentlich dahinter?«

»Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber ich gehöre zu den bescheidenen Menschen, bleibe lieber im Hintergrund.«

»Doch, es ist mir aufgefallen. Leute, die lieber im Hintergrund bleiben, ähneln meist Uriah Heep. Wie du siehst, kann auch ich mit literarischen Anspielungen um mich werfen.«

»Angenommen, ich gebe ihn nicht heraus.«

»Dann beweg jemand anderen dazu. Ich bin sicher, für so manchen hoffnungsvollen Jungakademiker wäre damit seine Karriere gemacht.«

»Ich müßte Anne und Dorinda und Nellie überreden.«

»Die brauchst du nicht zu überreden, dich selbst mußt du überreden. Anne, Dorinda und Nellie kannst du es einfach sagen. Na, bin ich dir nicht eine große Hilfe?«

»Schrecklich hilfreich bist du – wie eine spartanische Mutter, die ihrem Sohn sagt, er soll entweder mit dem Schild in der Hand oder darauf aufgebahrt zurückkehren.«

»Ich habe immer geglaubt, du hättest kein Interesse an Männern, die dir nur erzählen, was du hören willst.«

»Hoch erfreut, daß du weißt, was ich hören will. Macht es dir etwas aus, mir das zu erzählen?«

»Du willst hören, daß du es einfach tun mußt, eine moralische Verpflichtung hast, dir keine andere Wahl bleibt.«

»Und was glaubst du?«

»Daß du die Wahl hast. Ich finde, du solltest die Risiken und Vorteile abwägen und dann deine Entscheidung treffen. Wenn du hineingedrängt werden willst, dann laß dich von deinem offenkundi-gen Wunsch hineindrängen. Aber wenn du aus Angst vor dem Wirbel, der auf dich zukommt, davon abgehalten werden willst, dann suche keinen Trost bei mir.

Es wird wahrscheinlich einen Riesenwirbel geben. Man wird Gabrielle utopische, lächerliche Ideen vorwerfen, mit denen sie das Patriarchat und alle möglichen religiösen Überzeugungen untergraben will. Und dich wird man als unweibliche, männerverschlingen-170

de, eierzertretende, geharnischte, schrille lesbische Emanze hinstel-len.«

»Solche Ausdrücke gebraucht heute keiner mehr.«

»Dann wird man sie wieder ausgraben oder noch schlimmere erfinden. Wenn dir das alles zu schrecklich klingt, und das tut es ja in der Tat, schieb jemand anderem den Schwarzen Peter zu. Es gibt genug Leute, die ganz wild auf Medienrummel sind und sich Ruhm und Erfolg davon versprechen.«

»Aber Anne und Dorinda und Nellie…«

»Wenn du die Wahrheit wissen willst – im Grunde glaube ich nicht einmal, daß sie existieren.« Reed marschierte in die Küche und kam mit den Ingredienzien für einen Drink zurück. »Whisky?« fragte er, den Eiskübel rüttelnd.

»Sie existieren.«

»Aber darum geht es bei dieser Entscheidung nicht.«

»Sie vertrauen mir.«

»Die Zahl der Leute, die dir allein, seit ich dich kenne, nicht mit-gerechnet die Zeit davor, vertraut haben, übersteigt mein Zählver-mögen. Aber bisher hat dich das nicht dazu verführt, verschollene Manuskripte herauszugeben und verstümmelte Biographien zu schreiben. Verdammt, Kate, schlaf darüber. Wenn du aufwachst, ist dir klar, was du willst. Wir haben die Sache nun genug gedreht und gewendet und alle unbewußten oder bewußten Bedenken erörtert.

Möchtest du von meinem Tag hören? Die Jurastudenten fangen an, den Wert der sokratischen Methode in Frage zu stellen. Die Welt, wie ich sie kannte, geht mit rapiden Schritten unter – und das ist gut so.«

»Meine Gouvernante las mir oft ein Märchen vor, in dem eine Frau ständig sagte: Der Morgen ist weiser als der Abend«, verkündete Kate.

»Siehst du, deine Gouvernante ist ganz meiner Meinung«, sagte Reed. »Wir haben dich zwar zu verschiedenen Zeiten deines Lebens erwischt, aber wir beide wußten, das Richtige zu sagen. Mach dir keine Sorgen. Morgen früh siehst du klar. Skol!«

Und er prostete ihr zu.

Reed behielt recht. Am Morgen rief Kate Simon Pearlstine an und sagte ihm, sie müsse ihn sofort sehen. Zum Lunch war er ausge-bucht, schlug aber vor, sich um sechs zu einem Drink im Stanhope mit ihr zu treffen. Kate verbrachte den Tag damit, sich auf eine Art für das Gefecht zu rüsten, die hoffentlich Ariadnes und Dädalus’

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Zustimmung gefunden hätte.

Und Annes und Dorindas und Nellies. Denn alle drei würde sie schon bald zu sich zitieren – sowie es ihr gelungen war, Nellie von Genf nach New York zu locken.

Aber zuerst war Simon an der Reihe.

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