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Anne Gringolds Memoir

»Er ist der größte Schriftsteller seiner Zeit«, sagte Dorinda in dem Ton, in dem Kinder die Weisheiten ihrer Eltern nachplappern. »Vielleicht«, fügte sie hinzu, »aller Zeiten. Und er ist ein Verwandter von uns.«

»Aber nur ein angeheirateter«, betonte ich. Das war nicht besonders großherzig von mir. Dorinda war über alle Maßen vom Leben mit Luxus und Reichtum verwöhnt worden. Daß sie nun auch noch den größten Schriftsteller für sich reklamierte, kam mir, gelinde ausgedrückt, vor, als wenn man die Lilie vergolden wollte (letzteres war ein Ausdruck meiner Mutter, dessen Bedeutung ich eher durch seine Verwendung als durch Analyse seiner Metaphorik oder Wissen um seinen Ursprung erfaßt hatte).

»Aber seine Enkelin ist direkt mit uns verwandt«, sagte Dorinda; sie wollte offensichtlich die Diskussion beenden. Da der Sohn des großen Schriftstellers die Schwester von Dorindas Vater geheiratet hatte, gab es nichts mehr zu disputieren. Dorinda war ein Einzelkind wie ich, besaß aber eine gleichaltrige Kusine, die noch dazu eine romantische, vom Krieg gezeichnete Vorgeschichte hatte. Diese Kusine nun konnte jeden Moment aus dem Blauen (dem Ozean, nicht dem Himmel) auftauchen und würde Dorindas Leben um eine weitere interessante Note bereichern, obwohl sie, für meinen Geschmack, schon mehr als genug davon besaß. Der einzige überwälti-gende Nachteil, den ich aber aus Loyalität zu meinem Geschlecht nicht zu erwähnen wagte, auch wenn er Dorindas Prahlerei zweifellos untergraben hätte, war, daß der Abkömmling des großen Dichters ein Mädchen war. Wie so oft hatten alle auf einen Jungen gehofft.

Trotzdem, dieses Mädchen trug den magischen Namen des großen Schriftstellers und würde sich, wie Margaret Mead, eine meiner Heldinnen, vielleicht weigern, ihn bei der Heirat abzulegen, oder, noch gewagter, sich überhaupt weigern zu heiraten. In diesem Augenblick fuhr der Wagen vor, der Chauffeur hupte, und wir stürmten hinaus, um uns zum Strandclub und zu unseren Spielen im Meer fahren zu lassen.

Diese Erinnerung stammt aus der Zeit unmittelbar vor dem Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg. Meine Erinnerungen, die 23

mich in den letzten Jahren immer öfter und unerwartet überfallen, blitzen auf wie ein an die Wand projiziertes Foto. In meinen jungen Jahren, und auch später noch, war ich eine leidenschaftliche Fotografin. Ich hatte eine exzellente Kamera, auch sie verdankte ich Dorinda und ihrer Familie; Dorinda hatte mir beigebracht, Fotos, damals noch schwarzweiß, durch einen großen Projektor an die Wand zu werfen.

Und so sehe ich uns auf der riesigen Veranda des Sommerhauses an der Küste von New Jersey sitzen und wild auf unseren Schaukelstühlen wippen. Unsere Unterhaltung ist nicht in dem Bild, nicht einmal (meiner Erinnerung nach) als Luftblase über unseren Köpfen. Die Sprache liegt vielmehr in der Szene selbst, in dem, was sie, was jener erinnerte Moment hervorruft. Ein Film aus späteren Jahren mit dem Titel ›Hiroshima Mon Amour‹, war meiner Meinung nach der letzte, der Erinnerungen angemessen einfing. Heute sieht man in den Filmen nur noch Gegenschnitte, plumpe Effekte, Schreie, Bewegung.

Im Gegensatz zu Traumata und verdrängten Szenen sind Erinnerungen voller Ruhe; nur die Worte sprechen. Meiner Erfahrung nach sind es aber immer belanglose Szenen, die unser Gedächtnis ohne ersichtlichen Grund speichert und die durch eine zufällige Begebenheit oder Bemerkung wachgerufen werden. (Einmal, als Dorinda und ich mit ihren Eltern ausfuhren, der Chauffeur steuerte den Wagen und Dorinda und ich saßen auf den Notsitzen, summte eine Fliege in der Sommerhitze um unsere Köpfe. »Und ich dachte«, erzählte mir Dorinda später, »daß ich mich nie an diese Fliege erinnern würde, aber jetzt, wo ich es ausgesprochen habe, werde ich mich natürlich immer erinnern.« Als wir uns später, inzwischen beide über vierzig, wiedertrafen, vergaß ich, sie danach zu fragen. Aber schließlich erinnerte ich mich für sie.)

1941 kam Dorindas Kusine in die Vereinigten Staaten. Als am Ende jenes Jahres Pearl Harbor bombardiert wurde, waren wir drei zusammen. Ich erinnere mich, daß wir in Dorindas Zimmer saßen, als ihre Mutter, die im Radio ein Konzert der Philharmoniker gehört hatte, hereinkam und uns erzählte, daß das Konzert für die Nachricht unterbrochen worden sei. Alle Erwachsenen, die ich damals kannte, hörten, sofern sie sonntags zu Hause waren, die Philharmoniker: meine Mutter, meine Tanten, die Eltern unserer Schulfreundinnen.

Eigenartig, aber diese Konzerte schienen der einzig angemessene Rahmen für die Nachricht, daß wir uns im Krieg befanden. Dorinda, ihre Kusine Nellie und ich arrangierten uns mit dem Krieg in Amerika. Wir waren glücklich, daß Nellie der Katastrophe in Europa ent-24

ronnen war. Ich hörte von anderen Entkommenen: Sie erschienen als Gäste in den vornehmen Häusern, in denen meine Mutter arbeitete, und waren anders als Nellie, nämlich unwillkommen und wurden mit unverhohlener Hochnäsigkeit und Geringschätzung betrachtet.

»Warum kritisieren sie alles hier?« fragte ich meine Mutter.

»Warum sind sie nicht dankbar? Warum reden sie dauernd davon, wieviel besser alles in Deutschland war? Wenn es so schön war, warum sind sie nicht dort geblieben?«

Damals wußte ich nicht, wie dumm meine Frage war und wie viele Leute die gleiche törichte Frage stellten. Welcher Flüchtling denkt nicht sehnsüchtig an zu Hause? Ich fürchte, ich haßte diese Leute, weil sie Juden waren. Ich, das Kind armer Leute, gestattete mir die klägliche Genugtuung, Juden zu hassen. Jüdisch zu sein war für Dorinda und ihre Familie, die mit den Guggenheims und War-burgs befreundet war, eine völlig andere Angelegenheit. Die Goddards und ihre Freunde waren vornehm wie die Anglikaner und kaum als Juden zu erkennen. Außerdem war Dorindas Mutter Chris-tin und nahm uns oft zum Mitternachtsgottesdienst in ihre evangeli-sche Kirche mit. Mit der lächerlichen Entschuldigung, meine besten Freunde seien Juden, verzieh ich mir meinen Antisemitismus. Meine Mutter bestärkte mich in diesem bequemen und, wie mir später klar wurde, allzu üblichen Umgang mit dieser Frage. Sie sagte, ehrbaren Leuten würde niemand etwas anhaben. Sie meinte damit wohl: reiche Leute. Jahre später, als ich Paule Marshalls Buch ›Brown Girl, Brownstones‹ las, in dem sie davon spricht, wie ihre Mutter »jüdische Böden« gescheuert habe, schämte ich mich für meine Einstel-lung, die bei mir weniger verzeihlich war als bei Paule Marshall – sie war schwarz und hat Dorinda und ihre Familie nicht gekannt.

Der größte Schriftsteller seiner Zeit hieß Foxx. Emmanuel Foxx.

Als Dorinda mich mit der Nachricht überraschte, daß seine Enkelin kommen würde, erinnerte ich mich nicht, je von ihm gehört zu haben. Beim Tode meiner Mutter fand ich später eine Erstausgabe seines berühmtesten Romans in ihrem Bücherschrank. Sie hatte das Kaufdatum hineingeschrieben, möglich also, daß sie ihn mir gegen-

über doch schon einmal erwähnt hatte. Wie viele sogenannte Meis-terwerke wurde Foxx’ Roman zwar wahrscheinlich von Literatur-wissenschaftlern leidenschaftlich gelesen, von jenem Leserkreis aber, der einfach ein Buch nach dem anderen verschlingt, nur flüchtig überflogen oder ganz ignoriert. Anders als Virginia Woolf, aber ähnlich wie James Joyce oder Marcel Proust, sorgte er also eher 25

unter Akademikern als unter der allgemeinen Leserschaft für Auf-ruhr. Vielleicht stand er Proust näher als Joyce, gehörte aber zusammen mit diesen beiden und T. S. Eliot (das weiß ich heute) zur Avantgarde der klassischen Moderne, so wie sie in Literaturseminaren und einschlägigen Büchern und Artikeln verstanden wird. Anders als bei Joyce oder Proust war seine Hauptfigur jedoch eine Frau. Mit einer Intensität, Detailfülle und sprachlichen Experimentierfreudig-keit, die an Originalität und Erfindungsreichtum ihresgleichen suchte, hatte Foxx ein Jahr im Leben einer Frau beschrieben, war mit verbissener Hartnäckigkeit und verblüffendem Einfühlungsvermögen all ihren Gedanken und Leidenschaften gefolgt. Hier wurde aus der Sicht einer Frau geschildert, die dabei durch die Augen eines Mannes gesehen wurde. Das gab so manchem Gelehrten einiges zu knab-bern.

All dies begriff ich natürlich erst viel später. Während wir 1941

auf Nellie Foxx’ Ankunft warteten, wußte ich nur, daß ihr Großvater ein berühmtes und irgendwie obszönes Buch geschrieben hatte. Daß es überhaupt veröffentlicht werden konnte, war dem Kampf einiger aufgeklärter Geister – darunter Dorindas Vater – gegen die Rück-ständigen, die Hüter der öffentlichen Moral, zu verdanken. Foxx’

Heldin masturbierte, menstruierte, fantasierte, unterschied sich aber von Joyces Molly Bloom durch ihre hohe Intelligenz, ihre Loyalität zu ihren Freundinnen, ihre Ambivalenz gegenüber Männern –

zugleich Gegenstand ihrer Bewunderung, Verachtung und Konkurrenz – und ihr erotisches Interesse an Frauen. Wegen einer lesbi-schen Liebesszene war das Buch zunächst verboten worden. 1941

wußten Dorinda und ich das noch nicht; sogar für Dorinda, die gern die Expertin in Sachen Sexualität spielte, existierten nur heterosexu-elle Umtriebe. Junge Leute von heute werden es sich kaum vorstellen können, aber wir kannten das Wort lesbisch nicht einmal und schon gar nicht die Möglichkeit solcher Aktivitäten. Wie Königin Viktoria glaubten wir, nur Männer hätten die Ausstattung oder den Mut zu sexuellen Experimenten. Von männlichen Homosexuellen hatten wir natürlich gehört und nannten sie verächtlich »Tunten«

oder »andersherum«. Wir waren ganz die Kinder unserer Zeit.

Sehr deutlich (und auf ganz andere Art als die aufblitzenden Erinnerungen) ist mir die erstaunliche Großzügigkeit von Dorinda und ihrer Familie im Gedächtnis. Dorinda hatte mich zu ihrer Busen-freundin erkoren, und ihre Eltern erlaubten mir, fast ständig mit ihr zusammenzusein. Bekam Dorinda zum Beispiel ein Geschenk, so 26

bekam ich auch eins. Wie bei den Kameras: Um irgendeinem deutschen Flüchtling zu helfen, kaufte Dorindas Vater ihm Kameras ab, es waren Leicas M 3; die beste gab er Dorinda, und die andere, aus irgendeinem Grund nicht ganz so wertvolle, bekam ich. Wir wurden leidenschaftliche und gute Fotografinnen. Auch Jahre später, als es fast nur noch Spiegelreflexkameras gab, blieb ich meiner alten Leica mit ihrem Sucher und ihrem schweren Metallgehäuse treu. Ich habe sie noch heute, und jedesmal, wenn ich sie zur Reparatur bringe, versucht man mich zum Verkaufen zu überreden und bietet mir einen hübschen Preis dafür. Ich behalte sie nicht aus sentimentalen Gründen, sondern aus Wertschätzung. Meiner Meinung nach ist sie die beste Kamera, die je gemacht wurde.

Die Goddards drückten ihre Großzügigkeit allerdings nicht nur durch Geschenke aus. Sie nahmen mich in ihre Familie auf, ohne mich je wie die arme Verwandte zu behandeln. Das Hausmädchen, das Dorindas schmutzige Wäsche einsammelte und wusch, holte auch meine aus meinem Koffer, wo ich sie lieber versteckt gehalten hätte: Kurz darauf lag sie gewaschen und gebügelt in meinem Schrank. Nie behandelten mich die Dienstmädchen wie nicht zum Haus gehörig. Heute ahne ich, daß Dorindas Mutter wahrscheinlich dafür gesorgt hat, indem sie ihnen Geld gab und mit ihnen sprach.

Meine Mutter überlegte oft, ob ich als Gast den Mädchen ein Trinkgeld geben sollte. Aber dann sagten wir uns, daß es befremdlich wirken müsse, wenn ein Kind den Dienstboten Geld gäbe.

Ich hatte entsetzliche Angst, Nellies Ankunft könnte meine Ver-treibung aus dem Paradies bedeuten, Nellie würde meine Stelle bei Dorinda einnehmen und ich würde allmählich fallengelassen. Meine Mutter hatte sich von Anfang an Sorgen gemacht wegen meiner Freundschaft zu diesen reichen und vornehmen Leuten, und nun, da Nellies Ankunft bevorstand, sah sie all ihre Befürchtungen bewahr-heitet: Meine Gefühle würden verletzt und die Rückkehr zu dem Leben, das sie mir bieten konnte, ein Leben, das nicht nur gewöhnlich, sondern auch hart und voller Unsicherheiten war, würde mich um so schwerer ankommen.

Das Wunder war, daß dies nie geschah. Wir waren nun einfach zu dritt, und Dorinda zeigte uns beiden gegenüber, jedenfalls viele, viele Jahre hindurch, nur Loyalität. Da sie Geld hatte und wir nicht, kamen wir alle in dessen Genuß. Dorinda erklärte, sie praktiziere den Sozialismus im kleinen. Aber zweifellos war sie eher das, was man in späteren Jahren recht verächtlich eine »Barmherzige Schwester«

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nannte. Nun, ich kann bezeugen, daß ihre Wohltätigkeit einfach das Paradies war.

Meine Mutter arbeitete als Haushälterin bei verschiedenen sehr wohlhabenden Leuten. Ich hatte Dorinda kennengelernt, als meine Mutter während eines Sommers, den die Goddards in New Jersey verbrachten, von einer Nachbarin für eine Woche an Dorindas Mutter ausgeliehen wurde. In jenen Tagen hieß die Küste von New Jersey das jüdische Newport. Kürzlich las ich in einer Autobiographie Peggy Guggenheims, sie habe das alles gehaßt: die riesigen Häuser, die vielen Dienstboten, die Rosen und Hortensien, die nur in diesem Klima gediehen. Ganz zufällig war ich auf das Buch von Peggy Guggenheim gestoßen, und es brachte mir jene himmlischen Sommer zurück. Nur einer Guggenheim konnten sie öde vorkommen. Für mich waren sie das süße Leben, und wann immer das süße Leben heraufbeschworen wird, ob durch Cole Porter an der Riviera oder die Kennedys in Hyannis Port – noch heute, mit meinem erwachsenen und nüchternen Verstand, kommen mir dann die Bilder der New-Jersey-Küste aus den Tagen vor und während des Zweiten Weltkriegs vor Augen.

Ich glaube, als wir, Dorinda und ich, uns kennenlernten, sah sie in mir eine Herausforderung. Wir waren zwölf Jahre alt. Man hatte meiner Mutter erlaubt, mich mitzubringen, solange sie für Dorindas Mutter arbeitete. Ich war ganz das typische Kind eines gehobenen Dienstboten: ruhig, unaufdringlich, vorsichtig – und voller Sehnsüchte. Aber Dorinda, die immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und neu zu entdeckenden Welten war, riß mich an sich, befahl mir, sie zum Strandclub zu begleiten, zum Tennisplatz, zu den Reit-ställen. Sie schenkte mir ihre Kleider, ihren Enthusiasmus und ihre leidenschaftliche Zuneigung. Das größte Wunder war jedoch, daß ihr spontaner Überschwang für mich in eine Loyalität überging, die nie ins Wanken kam. Vorerst zeigte sie sich vor allem darin, daß auch nach Nellies Ankunft Dorinda weiter die Großzügigkeit ihrer Eltern strapazierte und sie dazu brachte, mir alle möglichen Wünsche zu erfüllen, die ich ihrer Meinung nach hatte.

Mit der Zeit wurde mir klar, daß meine Mutter, der das Leben hart mitgespielt hatte, von Dorindas Beständigkeit und Treue frust-riert war. Dorinda strafte all die Lehren, die sie mir hatte erteilen wollen, Lügen: daß Freunde einen verraten, auf die Reichen kein Verlaß ist und überall Katastrophen lauern. Derartige Lektionen hörte ich nicht nur ständig von meiner Mutter, sondern auch von 28

ihren vier Schwestern, für die das ganze Leben darin bestand, Katastrophen abzuwenden. Für sie wollte das Leben nicht gelebt oder gar erfahren werden, sondern überlistet.

Nur drei meiner Tanten behelligten mich mit ihren Predigten, die vierte war mit einem verheirateten Mann durchgebrannt und wagte nicht mehr, sich zu zeigen. Anstand ging über alles. Als ich während meiner Collegezeit George Eliots ›Die Mühle am Floss‹ las, erkannte ich in Maggie Tullivers Tanten meine eigenen Verwandten wieder; aber im Gegensatz zu Maggies Mutter war meine nicht schwach. Sie war die älteste und stärkste von allen. Die vier Schwestern bildeten so etwas wie ein Matriarchat, was zweifellos auf den Einfluß ihrer Mutter zurückging, einer außergewöhnlich starken und schönen Frau. Abgesehen von seiner unentbehrlichen Rolle als Eibefruchter –

hätte ich den Ausdruck damals gekannt, ich hätte bestimmt schon in meiner Jugend behauptet, diese Frauen seien das Resultat einer Parthenogenese –, spielte der Vater keine Rolle im Familiendrama.

Meine Großmutter hatte früh erkannt, daß sich seine Talente im Trinken und Geld verschwenden erschöpften. Sie überließ ihn seinen Lastern und brachte ihre Töchter allein durch.

Die drei allgegenwärtigen Schwestern – ich sah sie nie als meine Tanten, sondern stets nur als die Schwestern meiner Mutter, einen Teil von ihr oder eine Art Hintergrundchor, der ihre Lebensweishei-ten wiederholte – waren verheiratet mit Männern, die so gut verdien-ten, daß sich die Frauen hübsche Kleider, ordentliche Anstreicher und Ferien leisten konnten. Wozu meine Tanten Ferien brauchten, blieb mir immer ein Rätsel, da sie Hausmädchen hatten und das ganze Jahr über absolut nichts taten. Als sie zu gebührender Zeit alle drei je zwei Kinder produzierten, gab es ein »Mädchen«, das die Kinder versorgte. Die Tatsache, daß meine Mutter eine Art Dienstbote war, wurde geflissentlich übersehen, denn meine Mutter war so sehr die dominierende Figur in ihrem Leben, daß sie ohne sie hand-lungsunfähig waren. Den Freundinnen wurden Lügen über die Arbeit meiner Mutter erzählt – vielleicht aber nicht nur, weil es ihnen peinlich war, sondern auch, weil sie wußten, daß es in der Welt, in der meine Mutter sich bewegte, keine »Mädchen« für die Kinder gab, sondern »Nannies« (oft, wie Peggy Guggenheim schrieb, eine für jedes Kind) und später Gouvernanten. Als ich Dorinda kennenlernte, hatte sie ihre erste Gouvernante, und von dieser Gouvernante lernte ich zusammen mit Dorinda Französisch. Auch hier war ich glücklicherweise langsamer von Begriff als Dorinda; vielleicht empfand sie 29

mich deshalb nie als Bedrohung.

In den Jahren bis zu Nellies Ankunft waren Bücher die Quelle unserer Fantasien und das Thema unserer Gespräche. Besonders deutlich erinnere ich mich an Elizabeth Bowens ›The Death of the Heart‹. Wir träumten davon, daß ein Filmregisseur den Roman ver-filmen und einer von uns die Rolle von Portia, der jugendlichen Heldin, geben würde. Wie wir ständig in Illustrierten wie ›Life‹

lasen, waren Regisseure ja immer auf Starsuche, und sollte einer uns kennenlernen, zweifelten wir keinen Moment, daß seine Wahl für die Hauptrolle auf Dorinda fiele. Sie war schlank, sah ätherisch aus, hatte einen guten Körperbau, ähnlich wie die Garbo, und ihre blauen Augen lagen weit auseinander. Ich war fülliger, allerdings athleti-scher und alles andere als ätherisch, aber in der Schule und nachmittags waren Dorinda und ich so oft zusammen, daß ich mir manchmal vorstellte, etwas von ihren Vorzügen würde auf mich abfärben.

Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber auf Dorindas hartnäckiges Drängen hin bemühten sich ihre Eltern um ein Stipen-dium für mich an Dorindas Schule. Vielleicht wurde ich dort aufgenommen, weil ich eine interessante Unterschichtnote in dieses erle-sene Institut brachte, vielleicht, weil man auf Dorindas Familie, die die Schule mit großzügigen Spenden bedachte, hören mußte, vielleicht auch, weil die Schuldirektorin während des Aufnahmege-sprächs etwas Vielversprechendes in mir zu entdecken meinte: Ich werde es nie erfahren. Aber kurz vor der High School kam ich auf Dorindas Schule, die Miss Hadley’s genannt wurde. Dort trugen wir Uniformen, zum Glück für mich, denn so gab es unter den Schülerinnen keine Konkurrenz um Kleider. Meine Mutter sagte oft, das einzige, worin wir konkurrierten, sei Schlampigkeit. Ich himmelte die Schule an.

Natürlich lasen wir in der Schule keine so modernen Autoren wie Elizabeth Bowen, aber die Bibliothek war, was Gegenwartsliteratur betraf, erfreulich gut ausgestattet. Wir waren also ganz up to date, und trotzdem, fällt mir ein, lasen wir gern die »klassischen« Bücher, gutgeschriebene, empfindsame und anspruchsvolle Literatur. Wenn wir auch vieles nicht verstanden, so lernten wir doch den Klang und die Präzision guter englischer Prosa kennen. Wie altmodisch ich, die ich doch immer so radikal war, jetzt klinge!

An Elizabeth Bowen erinnere ich mich vor allem deshalb, weil sie (aber das habe ich wahrscheinlich erst später gelesen) ein so sicheres Gefühl für Orte hatte. Irgendwo sagte sie einmal, Orte seien 30

wichtiger für sie als die Charaktere. Nachdem ich nun selbst zur Geschichtenerzählerin geworden bin, wird mir klar, daß Orte mich nie besonders inspiriert oder bewegt haben, außer, wenn sie mir durch einen plötzlichen Erinnerungsblitz wieder einfallen. Ich fand Ortsbeschreibungen immer langweilig, und bis zum heutigen Tag werde ich ungeduldig mit Autoren, die unbedingt alle Möbel in einem Zimmer beschreiben müssen, ehe sie ihren Charakteren gestatten, einzutreten oder etwas zu sagen. Trotzdem, das Haus an der Küste von New Jersey möchte ich gern beschreiben, weil es ein so zentraler Ort für unsere Jugend und die Jahre unseres Triumvirats war.

Das Anwesen war riesig. Das Haus stand am Ende des Grund-stücks, die Garagen waren am anderen, und dazwischen erstreckten sich weitläufige Gärten und Rasenflächen. In jenen Tagen hatten die Reichen noch keine Swimmingpools und Tennisplätze auf eigenem Grund und Boden: Für diese Vergnügungen gehörten sie Clubs an.

Ihre Häuser waren nur zur Entspannung da. Wenn also ein Picknick unter Bäumen stattfinden sollte, wurde ein Tisch aufgestellt, ein Tuch darüber gebreitet und von den Dienstboten mit Köstlichkeiten vollgeladen. Das Haus selbst war für den Sommer gebaut: An der Vorderfront lief eine nur von der Eingangstür unterbrochene Veranda entlang. Durch diese Tür trat man direkt in ein (für meine Begriffe) riesiges Wohnzimmer. An der Seite führte eine Treppe zu den Schlafzimmern hinauf. Das obere Ende der Treppe bildete ein Ober-licht aus bemaltem Glas, durch das die Sonnenstrahlen bis ins Wohnzimmer fielen. In einem Armsessel in der Mitte des Raumes saß stets Dorindas Großvater, Gründer des Familienimperiums, und immer, wenn eine von Dorindas Freundinnen den Raum betrat, be-grüßte er sie mit »Guten Tag, meine Kleine« und winkte sie zu sich.

Alle Freundinnen Dorindas folgten dem Winken nur ein einziges Mal, denn er schnappte sich sein Opfer, setzte es auf seinen Schoß und begann es zu streicheln, wobei seine Hände sich von den Beinen zum Intimbereich und weiter zu den beginnenden Brüsten emporar-beiteten. Nach diesem ersten Mal grüßte jede von uns freundlich zurück und machte einen großen Bogen um ihn, um schnell die Treppe hoch oder in das im hinteren Teil des Erdgeschosses liegende Eßzimmer zu verschwinden.

Seither habe ich oft darüber nachgedacht, warum Dorinda ihre Freundinnen nicht vor ihrem Großvater warnte, sondern sich damit begnügte, deren Erfahrungen mit einem achselzuckenden »jetzt 31

weißt du Bescheid« zu bestätigen. Welchen Grund sie dafür hatte, ob sie meinte, wir sollten selbst unsere Erfahrungen machen, oder ob sie sich scheute, über die Possen des alten Lüstlings zu sprechen – ich habe sie nie gefragt und weiß es bis heute nicht. Ich weiß nur, daß meine Erfahrung nicht eigentlich Kindesmißbrauch bedeutete.

Schließlich geschah das Ganze inmitten eines lebhaften Hauses.

Aber dieses Erlebnis lehrte mich schon früh eine Lektion über Sex, die ich in meinem späteren Leben immer wieder bestätigt fand: Männer nehmen sich einfach, was sie können. Ich empfand diese Erkenntnis nicht als beängstigend, sondern eher als nützlich – und nützliches Wissen anzusammeln war meine Leidenschaft.

Dorinda hatte eine ganze Zimmerflucht für sich. Der auf dem gleichen Flur gelegene Raum ihrer französischen Gouvernante stand im Sommer meistens leer, weil diese ihre Ferien in Frankreich und später, nach Kriegsausbruch, anderswo verbrachte. Außerdem gab es noch ein Zimmer für Dorindas Gäste. Dorindas eigenes Zimmer, sowohl das im New-Jersey-Haus wie das in New York, war auf ihren Wunsch als Wohnzimmer eingerichtet. Als Nellie kam, teilten wir uns das Doppelbett im Gästezimmer. In New York hatte Nellie ihr eigenes Zimmer, und ich blieb nur gelegentlich über Nacht. Aber die meisten Erinnerungen habe ich an das Haus an der Küste von New Jersey.

Fürs Abendessen, das in dem großen Eßzimmer serviert wurde, zogen wir uns um. Dorindas Großvater saß am Kopfende des Tisches und unterbrach das Gespräch regelmäßig mit Gesangesausbrüchen oder unpassenden Bemerkungen. Nach jedem Essen kämpfte er sich aus seinem Stuhl hoch und bemerkte stets laut, die Mahlzeit sei nun endlich auch geschafft. Ich wandte jedesmal die Augen von dieser Szene ab; sie war mir peinlich, weil sie sich mit so erbarmungsloser Gleichförmigkeit wiederholte. Aber nie beschwerte sich jemand über seine Marotten oder gab ihm das Gefühl, etwas anderes als das Fami-lienoberhaupt zu sein (was er, finanziell gesehen, ja auch war). Dorindas Vater leitete jetzt das Geschäft, das sein Vater von einem kleinen Familienbetrieb zu so großem Erfolg geführt hatte. Daß ich keine Ahnung hatte, um welche Art von Geschäft es sich handelte, ist bestimmt typisch für die damalige Zeit. Ich erinnere mich, daß ich glaubte, sie machten Geld, was Gott weiß ja auch stimmte. Kürzlich fragte ich Dorinda danach – ihre Familie ist seit langem aus dem Unternehmen ausgestiegen –, und sie sagte mir, es habe sich um Investmentgeschäfte gehandelt. So unrecht hatte ich also gar nicht.

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Sobald wir wußten, daß Nellie kommen würde, begannen wir, das berühmte Buch von Emmanuel Foxx zu lesen. Er hatte natürlich, vorher und nachher, noch andere geschrieben, aber durch dieses war er berühmt geworden – den Roman ›Ariadne‹, dessen Publikation in den Vereinigten Staaten und England erst hatte erstritten werden müssen. Als die Gerichte schließlich die Veröffentlichung erlaubten, waren Dorinda und ich noch zu klein, als daß es uns etwas bedeutet hätte. Dorinda hörte jedoch viel zu Hause darüber. Ihr Vater, der sich in der ganzen Angelegenheit stark engagiert hatte, nahm kein Blatt vor den Mund und schminkte seine Geschichten nicht für Kinderoh-ren zurecht. Als Nellie kam, erinnerte Dorinda sich plötzlich an die Geschichten und entdeckte ein Exemplar des berühmten Romans im Sommerhaus: Die Familie besaß außerdem alle Erstausgaben der verschiedenen Übersetzungen. Zur Zeit des Prozesses hatten viele Beratungen an der Jersey-Küste stattgefunden.

Da wir Bücherwürmer waren, fiel es uns leicht, die obszönen Stellen aufzustöbern – leichter jedenfalls als dem typischen fünf-zehnjährigen Mädchen des Jahres 1941. Im großen und ganzen fanden wir die Gedanken seiner Heldin ungeheuer langweilig, weil es, fürchte ich, einfach zu viele waren. Aber die sexuellen Erfahrungen seiner Heldin beschrieb Foxx in einer berauschenden Prosa, die ein Lesegenuß war; und an jenen Passagen hatten wir unser Entzücken.

Für mich allein hätte ich vielleicht unbeeindruckt getan, aber Dorindas Direktheit machte das unmöglich. Daher leckten wir uns die Lippen und dachten an die Freuden, die unser harrten. Unsere Phantasien hatten keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den Träumen, zu denen Elizabeth Bowen uns inspiriert hatte.

In jenen Tagen – kaum mehr vorstellbar nach der sexuellen und all den anderen Revolutionen – gab es diese dumme und ärgerliche Redewendung über Mädchen: »süße Sechzehn und noch ungeküßt«.

Dorinda und ich rümpften die Nase, obwohl dieser Spruch auf uns beinahe zutraf: Wenn auch noch keine sechzehn und vielleicht auch nicht süß – wir hatten noch nicht »geknutscht«, wie wir es damals nannten. Das Leben bot viel zu wenig Gelegenheiten. Aber als wir, das Triumvirat, schließlich sechzehn wurden, waren wir alle drei nicht mehr ungeküßt, und im darauffolgenden Sommer an der Jersey-Küste gingen wir auf die von der USO veranstalteten Bälle und tanzten mit den Kadetten. Sexuelle Abenteuer bescherten uns diese Bälle nicht, aber wir luden die Jungen gern zum Dinner ein, jeweils drei, eine Invasion, die Dorindas Mutter gewöhnlich souverän meis-33

terte. Zu essen gab es immer genug im Haus. Wenn wir dann alle beim Dinner saßen und Dorindas Großvater irgendwann beim zweiten Gang die weißen Uniformen entdeckte, begann er, ein Matrosen-lied von Gilbert und Sullivan zu schmettern. Wir Mädchen kicherten, machten uns über die Verlegenheit der Kadetten lustig und fühlten uns als Damen von Welt.

Während der Winter in New York wohnte meine Mutter nicht im Haus der Goddards, sondern mit mir zusammen im Untergeschoß eines Privathauses zwischen der Columbus und Amsterdam Avenue

– ein Viertel, in dem damals hauptsächlich Iren wohnten. Oft wurde ich von den auf den Vordertreppen sitzenden irischen Mädchen ver-spottet, weil sie auf den ersten Blick erkannten, daß ich anders war als sie. Die Gleichgültigkeit, mit der ich dies als still zu ertragende Tatsache des Lebens hinnahm, auf die man weder äußerlich noch innerlich reagierte, verwunderte mich in späteren Jahren. Vielleicht bekümmerte mich der Spott der irischen Mädchen nicht, weil er nicht mein wahres Leben berührte, mein Leben mit Dorinda und Nellie.

In jenem Winter, dem Winter von Pearl Harbor, feierten wir in Dorindas Salon unsere ersten Parties mit Jungen. Ihre Eltern ließen uns freie Bahn; auch auf den Großvater, der den Winter über mit seiner Pflegerin in einem Hotel wohnte, brauchten wir keine Rück-sicht zu nehmen, was nicht heißen soll, das hätten wir je getan. Er war wie ein häusliches Totem, vor dem man sich verbeugte, zu dem man gebührenden Abstand hielt und das im Alltagsgetriebe mehr oder weniger unterging.

Woher kamen die Jungen? Ich kann mich kaum erinnern. In Dorindas Kreisen gab es vielerlei Wege, Bekanntschaften zu machen –

die Jungenschulen, die Söhne befreundeter Familien, Tanzschulen.

Einen der Jungen, Len, den ich früh für mich auserkor, hatte Dorinda auf einer Sommerfarm auf getan. Er arbeitete dort, um Geld fürs College zu verdienen. Erkannten Len und ich auf den ersten Blick, daß wir einer anderen Klasse angehörten? Er sollte mein erster, sü-

ßester und einziger Liebhaber sein. Ich war noch keine sechzehn, als wir uns wie die anderen auf der Couch oder auf dem Boden rekelten und knutschten und zu César Francks einziger Symphonie küßten (war es wirklich immer dieselbe Musik?).

Die Musik kam von einem Capehart, einem unglaublich eleganten Plattenspieler. Die meisten von uns besaßen Geräte, bei denen man jede Platte einzeln auflegen mußte (damals machten die Platten 34

nur 78 Umdrehungen pro Minute, und um eine ganze Symphonie zu hören, mußte man die beidseitig bespielten Platten vier- oder fünfmal wechseln). Die andern hatten bestenfalls ein Gerät, das mehrere aufeinandergestapelte Platten selbsttätig abspielte. Dieses System funktionierte so, daß der Plattenstapel zuerst auf einer Seite gespielt wurde, dann mußte der ganze Stapel herumgedreht werden, damit die Rückseite abgespielt werden konnte, eine Prozedur, bei der die Platten natürlich leicht verrutschten und verkratzten, weshalb die meisten von uns lieber auf die altmodischen zurückgriffen, bei denen jede Platte einzeln von Hand gedreht wurde.

Aber der Capehart, der in einer riesigen Vitrine untergebracht war, funktionierte nach einem raffinierten System. Mechanische Greifer drehten jede Platte einzeln um. War sie auf Vorder- und Rückseite abgespielt, beförderten die Greifer sie in die mit Filz ver-kleideten Halterungen an der Rückwand der Vitrine.

Manchmal wurde der Capehart ärgerlich – über die Musik, über uns, oder weil er überstrapaziert war? – und schleuderte die Platten durchs Zimmer. Wir lachten und applaudierten und legten sie wieder zurück. Immer wollte ich Dorinda oder ihre Mutter fragen, was aus dem Capehart geworden ist. Als die Langspielplatten aufkamen, ging er wahrscheinlich den Weg aller veralteten Gegenstände in unserer Kultur.

Nellie war in unserer Schule und Gruppe sehr beliebt. Meiner Erinnerung nach verbrachten wir drei, Dorinda, Nellie und ich, unsere Zeit mit nichts anderem als endlosen Gesprächen über das vor uns liegende, zu entdeckende Leben und mit Pläneschmieden für unsere, wie wir damals glaubten, unkonventionelle Zukunft. Welche Vorstellungen hatten wir von unserem Leben? Ich habe versucht, mich zu erinnern, was wir einander alles erzählten, habe mich angestrengt, unsere Stimmen einzeln zu hören und nicht, wie ich mich meistens erinnere, zum Chor verschmolzen. Nun, vielleicht sollte ich lieber sagen, zu einem Chor mit Dirigentin, denn Dorindas Stimme war die dominierende. Sie gab den Ton an und orchestrierte unsere Debatten.

Der Grund dafür war nicht nur, daß ihre Familie und ihr Geld Nellie und mich unterstützten – Nellie und ich waren von Natur aus eher ruhig, Dorinda dagegen sehr lebhaft: Sie wußte, was sie wollte und brachte es klar zum Ausdruck. Weder Nellie noch ich hätten uns je vorgestellt und schon gar nicht prophezeit, daß Dorinda später einem so konventionellen Schicksal anheimfallen sollte.

Nicht einmal Nellies Erfahrungen in Europa schienen authenti-35

scher zu sein als Dorindas, denn Dorinda hatte Europa gesehen und ließ sich ihr Leben lang von Europa besuchen. Die einzige Erfahrung, die ich anbieten konnte, die von Armut und harter Arbeit, hatte ich keine besondere Lust, ins Spiel zu bringen.

Worüber sprachen wir in all jenen Stunden? Über das fantasierte Sexualleben unserer Lehrer, das wirkliche Leben der Familien unserer Schulfreundinnen, jedenfalls so, wie wir es beobachteten und interpretierten.

»Ihr Vater hatte jahrelang eine Mätresse«, sagte Dorinda zum Beispiel. Jenes Gespräch über eine besonders reiche und vornehme Familie, deren trauriger letzter Sproß in unserer Klasse war, ist mir noch deutlich im Gedächtnis.

»Was ist denn eine Mätresse?« fragte Nellie. Ich erinnere mich, daß auch ich nicht wußte, was der Ausdruck bedeutete (so unglaublich das heute auch klingen mag) und froh war, daß Nellie gefragt hatte.

»Eine Konkubine«, sagte Dorinda und gab damit eine Erklärung, die uns, mit unserer Bücherweisheit, völlig zufriedenstellte.

Ich weiß noch, wie ich fragte: »Und was haben Frauen?« Ich haßte die Art, wie die ganze Welt vom Blickwinkel der Männer aus gesehen wurde.

»Frauen nehmen sich Liebhaber«, sagte Dorinda. »Nellies Mutter hatte einen, natürlich vor Nellies Geburt.« Letzteres fügte sie ziemlich unlogisch hinzu, um Nellie nicht zu verletzen. Wir griffen uns nie gegenseitig an und stritten uns nur um Prinzipien.

»Auch nach meiner Geburt«, sagte Nellie, als handele es sich dabei lediglich um eine Frage korrekter Wiedergabe von Daten. »Alle wußten es.«

Zu dem Zeitpunkt kannten wir natürlich Emmanuel Foxx’ Bü-

cher in- und auswendig und hatten großen Respekt vor Nellies väter-lichem Erbgut. Nur Len und ich gestanden einander ein, daß Foxx uns nicht fesselte. Ich hatte Schuldgefühle deswegen: Schließlich schrieb er über eine Frau, und interessiert, wie ich an Frauen war, fand ich nur selten Bücher, die Frauen nicht romantisch verklärten.

Ohne daß es mir klar war, spürte ich vielleicht, daß das, was Foxx produziert hatte, nicht die Gedanken einer Frau waren, sondern Männerfantasien über die Gedanken einer Frau. Trotz Lens und meiner Zweifel, die wir für uns behielten (meine einzige Illoyalität gegenüber Dorinda), war Nellie von einer Gloriole umgeben, deren Widerschein auch Dorinda traf und sogar auf mich genügend abfärb-36

te, daß ich beneidet wurde. Teil des Trios zu sein, machte mich stolz und schmeichelte mir. Über solche Gefühle habe ich in den Jugend-erinnerungen anderer sehr selten gelesen. Für mich jedenfalls waren es verzauberte Jahre.

Inzwischen erzählte ich meiner Mutter kaum noch, wie ich meine Tage (oder Nächte) verbrachte, obwohl sie zweifellos genug über jene Kreise wußte, um sich ihre Gedanken zu machen. Offen und sehr streng sprach sie mit mir über die Gefahr, von Jungen überrum-pelt und schwanger zu werden. Ich wollte ihren Rat nicht und, nachdem ich mit Dorindas Großvater fertig geworden war, brauchte ich ihn auch nicht. Ich hatte vor, mein eigenes Leben zu leben, so viele Erfahrungen wie möglich zu machen und einen Beruf zu haben.

Glücklicherweise war Len eine ehrbare Seele und stellte meine nai-ven Vorsätze nicht auf die Probe. Außerdem machte Dorinda mit ihren wilden sexuellen Abenteuern stellvertretend für uns so viele Erfahrungen, daß es Nellie und mir leichtfiel, auf dem Pfad der Tugend zu bleiben. Wir begnügten uns damit, Dorindas Wandeln auf dem Rosenpfad der Lust mit Bewunderung und Staunen zu verfolgen. Zumindest eine Weile lang befolgte ich also den Rat meiner Mutter, aber nur, weil ihre Mahnungen und meine eigenen Beweg-gründe zufällig zusammenfielen. Das redete ich mir jedenfalls ein.

Irgendwann im Jahre 1955, während ich ein Kaufhaus durch-streifte (die drängten sich damals in der Fifth Avenue dicht an dicht), traf ich Eleanor Goddard in der Nachthemdenabteilung. Der Verlag, für den ich arbeitete, hatte beschlossen, mich nach England zu schicken, und ich fügte mich in die Notwendigkeit, mich mit einem vor-zeigbaren Schlafanzug, wie ihn damals alle Frauen trugen, auszustat-ten. (Eigenartigerweise kamen Nachthemden erst mit der Frauenbe-wegung wieder auf – Nachthemden oder gar nichts.) Ich war zwar auf keine romantischen Begegnungen eingestellt, aber schließlich bestand die Möglichkeit, daß mich Leute zu sich nach Hause einlu-den oder ich das Hotelzimmer mit jemandem teilen würde. Zwei Jahre waren vergangen, seit ich Dorindas Mutter zuletzt gesehen hatte, und ich plapperte, kaum daß wir unsere überraschten Hallos ausgetauscht hatten, von meinen Reiseplänen und Schlafanzugstrate-gien. Dorindas Mutter, die meinem umständlichen Bericht auf ihre ruhige Art zuhörte, reagierte nur auf ein Wort: London.

»Ob ich dich wohl um einen Gefallen bitten darf, während du dort bist?« fragte sie.

»Natürlich«, sagte ich. »Um jeden.« Ich dachte nicht mehr so oft 37

wie früher an Dorinda und ihre Familie, verlor aber nie das Gefühl dafür, daß ich ihnen, außer natürlich meiner Geburt und meinen ersten zwölf Jahren, fast alles verdankte. Oft stellte ich mir vor, wie ich ihnen alles zurückzahlen würde. Jetzt, wo ich viel älter bin, sehe ich, daß die Weitherzigkeit der Goddards und all ihre Geschenke, so großzügig sie auch waren, sie kein Opfer gekostet hatten und mit nicht annähernd so viel Liebe und Anstrengung erkauft waren wie das – so empfand ich es damals – absolute Minimum, das meine Mutter mir gab.

»Gabrielle Foxx lebt noch in London«, sagte Dorindas Mutter.

»Emmanuels Witwe«, fügte sie nach einem Moment hinzu, so als fürchte sie, vermessen zu erscheinen, wenn sie voraussetzte, ich wüßte, um wen es ging. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Geschichte von Emmanuel Foxx und dem schönen aristo-kratischen Mädchen, mit dem er durchgebrannt war – wie hätte ich die vergessen sollen? »Wir haben sehr lange nichts mehr von ihr gehört. Als Emile noch lebte, schrieb er manchmal, aber Gabrielle war nie eine große Briefeschreiberin. Würdest du zu ihr gehen, wenn du in London bist?« Emile, erinnerte ich mich nach kurzem Nachdenken – ihm war von Geburt an nur eine Nebenrolle im Foxxschen Familiendrama zugedacht gewesen –, war der Sohn von Emmanuel und Gabrielle und Nellies Vater.

»Natürlich«, sagte ich wieder. Sie schrieb mir die Adresse auf einen Block (sie war immer gut organisiert, immer auf alle Eventualitäten vorbereitet – wie sonst hätte sie den komplizierten Haushalt führen sollen, das war mir immer klar gewesen).

»Ich rufe dich an, wenn ich zurück bin«, sagte ich. »Falls es Schwierigkeiten gibt, schicke ich ein Telegramm aus London.« Aber ich wußte, das würde ich nur im äußersten Notfall tun und mir meine Geschichte unbedingt aufheben wollen, bis ich wieder zurück war.

Mit Dorindas Mutter und Vater persönlich über etwas so Wichtiges wie die Familie Foxx zu sprechen, das wollte ich mir nicht nehmen lassen. Dorinda sah ich damals nur selten, aber ihre Familie faszinierte mich unverändert. »Wie geht es Dorinda?« fragte ich etwas beklommen. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich ihre Mutter danach fragen mußte.

»Gut. Sie geht ganz auf in ihrem Mutterdasein.« Dorinda hatte eine so extreme Metamorphose durchlaufen wie ein Prinz, der durch einen Zauberspruch in einen Frosch verwandelt wird. Das jedenfalls war mein Lieblingsbild, wenn ich in jenen Tagen an sie dachte. In-38

zwischen hielt ich es für sehr unwahrscheinlich, daß der Frosch durch einen Kuß oder sonstwie seine frühere strahlende Gestalt zu-rückbekäme. Dorinda, die wildeste unter all den reichen, verrückten, mutigen jungen Frauen voller Sex- und Abenteuerhunger, hatte sich sozusagen an einem einzigen Tag von ihrer berauschenden, schwin-delerregenden Jugend verabschiedet und einen Chirurgen geheiratet, einen so langweiligen und aufgeblasenen Mann, daß man es nur um Dorindas willen ertrug, einen Abend mit ihm zu verbringen. Nach fünf Jahren Ehe hatte sie zwei Kinder produziert, was ich ihr ebenfalls übelnahm. Wie froh waren wir, sie, Nellie und ich, gewesen, Einzelkinder zu sein, frei von geschwisterlichen Banden; wie stolz darauf, daß wir drei einander frei gewählt hatten! Diese Chance schien Dorinda ihrem Nachwuchs verwehren zu wollen. Vielleicht, weil sie wußte, wohin es führen konnte?

»Dorinda ist wieder schwanger«, sagte ihre Mutter. »Sie würde sich bestimmt freuen, von dir zu hören.« Nachdem sie mir nochmals gedankt hatte für mein Versprechen, zu Gabrielle Foxx zu gehen, überließ sie mich meiner Suche nach einem Pyjama und passender damenhafter Garderobe.

Während ich mit der Verkäuferin verhandelte, mußte ich an Dorinda denken, die, wie Virginia Woolfs Sally Seton, nackt durch die Flure des Hauses an der New-Jersey-Küste gerannt war und die wohlanständigen Gäste ihrer Eltern provoziert hatte. Und jetzt war sie wie Sally Seton geendet, in einer langweiligen Ehe, eine Dame der Gesellschaft, mehrfache Mutter. Wo war meine Dorinda geblieben?

Obwohl wir alle drei auf verschiedene Colleges gingen, hielten wir während jener Jahre engen Kontakt. Nellie und ich studierten fleißig. Wir waren nüchterne junge Frauen und damit zufrieden, immer nur einen Freund zur gleichen Zeit zu haben. Trotzdem waren wir geradezu versessen darauf, uns durch Dorindas Berichte von ihren Abenteuern in Aufregung, Staunen und oft Schrecken versetzen zu lassen. Begonnen hatte alles damit, daß sie während eines Sommers an der Küste mit dem Chauffeur schlief. Ihre Eltern hatten ihr einen kleinen Sportwagen geschenkt – viele Gesichter aus jenen Tagen habe ich vergessen, aber bis zum heutigen Tage könnte ich jedes Detail dieses Autos wiedergeben. Es war ein graues Ford-Coupé mit zwei Vordersitzen (nur dicht zusammengequetscht war Platz für drei) und hinten einem Notsitz. Kein Auto, weder die späteren Kabrioletts noch die verschiedenen Statuswagen, die im Laufe 39

meines Lebens kamen und gingen, besaßen für mich ein Hundertstel von dem Glamour dieses kleinen Ford-Coupés.

Das Auto kam an Dorindas siebzehntem Geburtstag. (Ihr Geburtstag fiel in den Hochsommer und war immer von herrlichen Geschenken und Festen begleitet. Die Geburtstage der Menschen, die mir heute nahestehen, vergesse ich leicht, aber der 13. Juli ist noch immer ein Tag voller Verheißungen und strahlenden Glanzes für mich.) Der Chauffeur sollte Dorinda das Autofahren beibringen.

Er war ein gutaussehender junger Mann, höflich und mit guten Ma-nieren, und schien den Job aus Gesundheitsgründen oder um seine alte Mutter zu unterstützen oder aus irgendwelchen anderen noblen Motiven zu machen. Ich kann mich nicht erinnern, warum er nicht beim Militär war. Vielleicht hatte er eine geheimnisvolle tödliche Krankheit – eine Vorstellung, die ihn für uns nur noch anziehender machte.

Dorinda, die unbedingt ihre Jungfräulichkeit loswerden wollte, verführte ihn im Auto. Als sie uns davon erzählte, fürchteten Nellie und ich, der nette junge Mann würde seinen Job verlieren (diese Angst finde ich heute sehr aufschlußreich für die damalige Zeit), aber wir hätten uns keine Sorgen zu machen brauchen. Dorinda über-redete ihn, auch Nellie und mir das Autofahren beizubringen. Er benahm sich hochanständig uns gegenüber, obwohl wir beide fürchteten (und hofften?), er würde uns den gleichen Preis abverlangen.

Vom Jahre des Ford-Coupés an nahmen Dorindas sexuelle Abenteuer ihren Lauf, wurden immer gewagter, und Dorinda wurde, wie es Nellie und mir schien, immer weniger wählerisch, was die Objekte ihrer Amouren betraf. Hin und wieder ließ sich Dorinda auch mit einem Sprößling aus reicher Familie ein – bis sie ihm erzählte (was sie früher oder später immer tat), sie sei Jüdin. (Sie sah nicht jüdisch aus, und da sie eine christliche Mutter hatte, war sie dem jüdischen Gesetz nach auch keine Jüdin, aber sie konnte es sich einfach nicht verkneifen, jedermann zu schockieren.) Sie heiratete keinen Juden und tauchte heiter in die erlauchte gesellschaftliche Sphäre der Reichen New Yorks ein.

Ich glaube, als Dorindas Mutter etwas von den sexuellen Beutezügen ihrer Tochter zu ahnen begann, kamen sie und ich uns näher.

Heute weiß ich, warum: Wir waren beide Außenseiter in jener Familie, zu der auch Nellie schließlich qua Geburt gehörte. Wir waren christlich, von Natur aus konservativ, und exaltiertes Verhalten bereitete uns Unbehagen. Während meiner Collegejahre besuchte ich 40

Dorindas Mutter immer, wenn ich nach New York kam. Inzwischen hatte sie mich gebeten, sie Eleanor zu nennen. Mehr als einmal stellte ich mir vor, sie sei in Wirklichkeit meine Mutter und habe mich aus irgendwelchen mysteriösen Gründen meiner Haushälterin-Mutter übergeben. Eleanor und ich verstanden einander weit besser als unsere realen Partnerinnen in der Mutter-Tochter-Dyade.

Heute weiß ich, daß Eleanor von Grund auf konservativ war. Bereitwillig akzeptierte sie die Normen ihrer eigenen Klasse und derje-nigen, in die sie eingeheiratet hatte. Im Grunde traute ich ihr keine andere Rolle zu als die der Ehefrau eines reichen Mannes. Heute weiß ich, daß sie, im Gegensatz zu Dorinda und meiner Mutter, verstand, an welchem Abgrund ich entlangwanderte. Sie verstand es, weil sie selbst die gleiche Gratwanderung vollführte. Schon damals wollte ich mehr vom Leben als Eleanors Reiche-Frau-Dasein – obwohl diese mit Wohlstand gesegneten Frauen immer die größte Freiheit zu haben schienen. Aber egal welche Gefühle ich meiner Mutter gegenüber hatte: Ich wußte, daß sie, als Witwe und arbeitende Frau, ihre eigene Herrin war, auch wenn sie für andere den Dienstboten spielte. Trotz ihres glanzvollen Lebens arbeitete Eleanor genauso hart, und ihre Tage waren wahrscheinlich von mehr Sorgen erfüllt als die meiner Mutter. Eleanor schien immer innerlich zu zittern.

Ganz ungerechtfertigt war es also nicht, daß ich ihr weder Autono-mie noch Selbstsicherheit zutraute. Welchen Vorteil hatte Reichtum, so dachte ich, wenn es nur Anspannung und Ängstlichkeit bedeutete?

Eleanor machte sich vor jeder Mahlzeit Sorgen und nach jeder. Sie sorgte sich wegen des jährlichen Umzugs an die Küste und sorgte sich wegen der Rückkehr nach New York, und sie sorgte sich um den Zustand des Sommerhauses. Sie sorgte sich wegen Sigs spontan eingeladener Gäste (kein Wunder, daß immer genug Essen für die Kadetten im Haus war), aber die größte Anspannung, so hatte ich den Verdacht, bereitete ihr der Umgang mit den reich geborenen Leuten, bei denen sie sich benehmen mußte, als käme sie aus denselben Kreisen.

Weil ich schon als junges Mädchen die Ängste und Unsicherheiten Eleanors instinktiv verstand, kann ich heute mit Recht behaupten, daß es mir an einem Rollenvorbild fehlte. Gewiß, es fehlte mir, aber immerhin bekam ich eine gute Schulbildung und damit die Chance, mich für eine berufliche Karriere zu entscheiden. Meine Mutter führ-te anderen Frauen den Haushalt und machte sich dadurch in meinen Augen zur Närrin und ebensosehr zur Sklavin wie die Frauen, für die 41

sie arbeitete. Im Gegensatz zu Dorinda gelang es mir auch nicht, Hilda zu bewundern, die den Sohn eines berühmten Mannes geheiratet hatte. Meiner Ansicht nach war sie dadurch nicht von den wenigen Pfaden abgewichen, die Frauen zugestanden wurden. Sie hatte ihre sexuelle Attraktivität eingesetzt, um sich Zugang zu den interessanten Künstlerzirkeln zu verschaffen. Heute bin ich mir fast sicher, daß meine Mutter Hildas Heirat mit Emile ebenso scharf verurteilte wie Eleanor. Aber meine Mutter sprach nie mit mir über ihre Einstel-lung zu den Familien, für die sie arbeitete, schon gar nicht über die Goddards. Und zu Eleanors Verhaltenskodex gehörte es, ihre Meinung für sich zu behalten. Nur mir gegenüber öffnete sie sich mit der Zeit und machte gelegentlich vorsichtige Andeutungen.

Eleanor und ihre Schwägerin Hilda, die Emile Foxx geheiratet hatte, kamen aus ganz verschiedenen Verhältnissen. Nur eins hatten sie gemeinsam: Beide hatten weder die Chance gehabt, ein College zu besuchen noch sich auf eine berufliche Karriere vorzubereiten, die nicht ausgesprochen weiblich war. Eleanor hatte zwischen Krankenschwester, Lehrerin oder Sekretärin wählen können, und sie entschied sich für letzteres, weil sie als älteste einer kinderreichen Familie genug vom Kinderbeaufsichtigen und -betreuen hatte. Die reiche, verwöhnte Hilda dagegen ließ es sich gutgehen, genoß all den Luxus, den der Wohlstand ihrer Familie ihr bot, und nur ihre Schönheit und Abenteuerlust, die sich unausweichlich aufs Sexuelle beschränkte, zeichneten ihr eine Lebensbahn vor. Wenn Eleanor und Hilda sich als Schwägerinnen trafen, hatten sie wenig gemeinsam –

nur den Gatten-Bruder (dessen Zuneigung zu seiner Schwester wahrscheinlich die zu seiner Frau übertraf) und den Tisch, an dem sie gelegentlich bei Familienfeierlichkeiten in dem Jersey-Haus gemeinsam saßen.

Zu dem Zeitpunkt, als ich Eleanor in der Nachthemdenabteilung traf, war Hilda bereits zwei Jahre tot. Sie war an Krebs gestorben, hatte ihr Leben auf fast tragische Weise verschwendet, war in eine Katastrophe nach der anderen gerannt, und alles nur, weil die Reichen darauf bestanden, ihre Töchter zu schönen Objekten der Begierde heranzuziehen – eigene Ziele gab es für sie nicht, und die Disziplin, sich eine Welt zu schaffen, die jenseits der materialisti-schen Orientierungen ihrer Familien lag, lernten sie nicht.

Die Mädchen wurden in eleganten Schulen erzogen, die ihnen keine eigene berufliche Karriere nahelegten. Frauen arbeiteten nur, wenn sie dazu gezwungen waren. Es war der Stolz dieser erfolgrei-42

chen Männer, daß ihre Frauen, abgesehen von Wohltätigkeitsveran-staltungen, außer Haus keinen Finger rühren mußten. Meine Mutter arbeitete, weil sie keinen Mann hatte. Mein Vater war gestorben, aber er hatte uns schon lange vor seinem Tod verlassen. Meiner Mutter wäre also ohnehin nichts anderes übriggeblieben. Wie die Töchter aus den reichen jüdischen Familien, für die meine Mutter arbeitete, hatten auch meine Tanten kein College besucht. Für Frauen wie meine Tanten und Eleanor galt das College als zu teuer und überflüssig und für Frauen wie Hilda als zu gefährlich. Für meine und Dorindas Generation war es bereits selbstverständlich, daß die Frauen der Ober- und Mittelschicht von ihren wohlhabenden Vätern aufs College geschickt wurden. Hildas Generation erfüllte mich nur mit Mitleid. Ich verstand ihre Situation und konnte mich in ihre Verzweiflung hineinversetzen. Hildas sexuelle Eskapaden währten, anders als bei Dorinda, ihr ganzes Leben lang, genau wie ihre Labili-tät und ihr Getriebensein. Es schien fast so, als fürchte sie, sich in Luft aufzulösen, wenn sie auch nur einen Moment innehielte, um sich zu fragen, was sie tat. Und als sie während des Krieges, vom Schicksal nach Europa verschlagen, schließlich doch gezwungen war, nachzudenken und ihre Lebensweise in Frage zu stellen, wurde sie verrückt. Dorindas Vater mußte sie narkotisieren lassen und unter der Obhut zweier Krankenschwestern auf einem der letzten Passa-gierschiffe, die den Ozean überquerten, nach Amerika holen.

Auf Eleanor muß Hilda wie ein Wesen einer unbekannten Spezies gewirkt haben. Aus der Zeit, als Hilda Emile noch nicht kannte und Eleanor gerade die frischgebackene Goddard-Schwiegertochter geworden war, gibt es ein Foto von beiden im Garten des New-Jersey-Hauses. Sie stehen neben dem Großvater, der den Arm um seine geliebte und schöne Tochter Hilda gelegt hat. Eleanor steht etwas abseits, sorgfältig frisiert, perfekt gekleidet und voller Anspannung. Das Foto muß ungefähr zwei Jahre vor Dorindas und Nellies Geburt aufgenommen worden sein. Dorindas Geburt war hochkompliziert; Nellie dagegen kam wie im Vorbeigehen auf die Welt. Auch ich war noch nicht geboren. Es gelang mir einfach nicht, den Schnappschuß anzusehen, ohne uns drei, Dorinda, Nellie und mich, als Ungeborene in einer über dem Bild schwebenden Luftblase dazuzudenken. Wie das Leben meiner Mutter zu jener Zeit aussah, interessierte mich nicht im geringsten.

Die Geschichte von Dorindas Geburt ist schnell erzählt. Sie wurde nach vielen bangen Monaten empfangen und unter schrecklichen 43

Wehen geboren. Als ihrem Vater, Sig, schließlich der verquollene Säugling gezeigt wurde, schniefte er verächtlich und sagte, sie sehe aus wie ein jüdischer Komödiant. Das weiß ich von Dorinda, der er die Geschichte oft erzählt hat. Ich kann mir aber gut vorstellen, wie er, der unbekümmerte Mann, sich im gleichen Moment um seine angebetete Schwester Hilda sorgte, die in Frankreich kurz vor der Geburt stand.

Eleanor war Sigs Sekretärin gewesen. Vielleicht hatte er sie geheiratet, weil sie fügsam, tüchtig und ordentlich war, vielleicht auch, weil sie sonst nicht mit ihm geschlafen hätte. Sig war so attraktiv, daß eine Frau, die sich ihm verweigerte, zweifellos eine neue Erfahrung für ihn war. Später erzählte Eleanor mir, die Goddards hätten darauf bestanden, daß sie für Dorinda ein Kindermädchen einstellte; aber jedesmal, wenn das Mädchen Dorinda ausfuhr, lief Eleanor in diskretem Abstand hinterher, um sicherzugehen, daß ihrem Kind nichts passierte. Manchmal setzte sie sich durch und fuhr Dorinda selbst in dem eleganten Kinderwagen spazieren. Es sei schrecklich gewesen, erzählte sie mir später. Dorinda schien instinktiv zu spüren, daß sie es mit jemand Wehrlosem zu tun hatte, und gleich, welche Richtung Eleanor einschlug, Dorinda hörte vor Zorn auf zu atmen, lief vor den Augen ihrer entsetzten Mutter blau an, bis Eleanor sich geschlagen gab und fuhr, wohin Dorinda wollte. Eleanor war sich sicher, daß das Kindermädchen nie solche Probleme hatte.

Als die Kinderschwester von einer Gouvernante abgelöst wurde, also kurz ehe ich Dorinda kennenlernte, hatte Eleanor gelernt, ihre elegante Robe mit größerer Selbstverständlichkeit zu tragen. Sie war von Natur aus eine Dame, brauchte aber einige Jahre, bis sie Zutrau-en zu sich selbst und ihrer Autorität faßte, zumindest der Diener-schaft und den Kreisen der Goddards gegenüber. Allerdings glaube ich nicht, daß sie sich je stark genug fühlte, Dorinda zu lenken. Oft erzählte sie mir Geschichten, wie Dorinda über sie triumphierte, erzählte sie aber so, als sehe sie darin nicht den Beweis für ihr eigenes Versagen, sondern für Dorindas Willenskraft. Wahrscheinlich war Eleanor von uns allen am meisten überrascht, als Dorinda plötzlich einen so konventionellen Weg einschlug. Es sah fast so aus, als hätten sich zwanzig Jahre nach ihrer Geburt plötzlich und unverse-hens die Gene ihrer Mutter durchgesetzt.

Derweil bewegte Hilda sich mit unendlicher Anmut und unendli-chem Reichtum in den Künstlerkreisen von Paris. Es war die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die Nachtclubs blühten und das 44

Leben pulsierte. Aber obwohl ich mir praktisch alles im Leben der Goddards, bevor ich sie kennenlernte, bildlich vorstellen kann, weigert sich meine Fantasie, den Ozean zu überqueren. Eleanors, Dorindas und Nellies Erzählungen und die späteren Biographien von Emmanuel Foxx sind meine einzigen Anhaltspunkte. Hilda lernte gleich zu Anfang ihrer Zeit in Europa Emmanuel Foxx kennen und wurde –

wie so viele Frauen vor ihr – seine Sklavin. Hilda, die nicht einmal ihre eigene Unterwäsche aufheben oder einen Brief schreiben konnte, tippte Manuskripte für Foxx und unterstützte ihn auf vielfältige Weise – mit Geld, aber auch mit eigener Anstrengung, Mühe und oft sogar Qual.

Gabrielle, Emmanuels Frau, hatte von Anfang an eine tiefe Abneigung gegen Hilda, oder, wie ich eher glaube, Furcht vor ihr –

ihrer Schönheit, ihrem Geld und Emmanuels Faszination für sie.

Aber am Ende erwies sich Emmanuel als resistent gegenüber Hildas Reizen, ihrem Geld und ihren Bemühungen um ihn. Also probierte sie ihren Charme an Emmanuels und Gabrielles zwanzigjährigem Sohn Emile aus. Sie war älter als er und weit erfahrener in der Kunst des Flirtens. Emile war von seinem Vater auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen, billigeren Mieten, ergebeneren Frauen und großzügigeren Mäzenen durch ganz Europa geschleppt worden. Vor Nellies Ankunft in Amerika erzählte mir Dorinda, daß Nellie, wie ihr Vater, vier Sprachen spreche und alle mit jener eigenartigen Kor-rektheit, an der man sofort erkennt, daß es nicht die Muttersprache ist. Emile und Nellie waren Sprachgenies ohne Muttersprache.

Nicht nur wegen des Krieges kam Nellie so bereitwillig zu den Goddards, sondern weil hier ein Ort war, an dem sie sich, zumindest einige Jahre lang, würde zu Hause fühlen können.

Kurz nachdem Hilda und Emile ihre Affäre begonnen hatten, galt er in den Pariser Kreisen als Gigolo. Ich nehme’ an, er konnte sich einfach nicht gegen diese Rolle wehren. Auf allen noch existierenden Fotos aus jener Zeit ist er nie mit Hilda allein, sondern immer in einer Gruppe von Leuten: Sie stets im Mittelpunkt, er am Rande, mit schmollendem Blick, und immer wirkt er fehl am Platz. Aber Hilda muß ihn mit ihrer Schönheit, ihrer Raffinesse, ihrem Reichtum und ihrer Unbesonnenheit, die nach nichts fragte, fasziniert haben. Als sie schwanger wurde, bestand Emmanuel Foxx auf einer Heirat. Er wollte einen Erben, jemanden, der seinen Namen weiterführte. Wie alle, hoffte Emmanuel natürlich auf einen männlichen Erben, aber nach Nellies Geburt verkündete er, schließlich sei die Hauptfigur 45

seines berühmten Romans eine Frau, und er sei sehr glücklich über die Geburt der Enkelin. Sie wurde nach der Hauptfigur seines Romans benannt, aber immer nur Nellie gerufen.

Nachdem Hilda genug davon hatte, mit ihrem Baby für hübsche Fotos zu posieren, überließ sie Nellie den Kindermädchen. Aber Gabrielle, Emmanuels Frau, schaltete sich ein und nahm sich der Enkelin an, ein Schritt, der Emmanuels volle Zustimmung fand. So verbrachte Nellie ihre ersten Jahre zum größten Teil bei ihnen; spä-

ter, Ende der dreißiger Jahre, gesellte sich auch ihr Vater zu ihnen, als er Hilda und seiner Rolle als Ehemann einer unersättlich flirten-den Frau überdrüssig geworden war. (Peggy Guggenheim wird nachgesagt, sie hätte darauf bestanden, daß ihre Liebhaber alle Posen nachahmten, die auf den Wandgemälden eines bestimmten Gebäudes in Pompeji zu sehen waren, dessen Zutritt Frauen verboten war, in das sich Peggy jedoch durch Bestechung eingeschmuggelt hatte. Ob dies der Wahrheit entspricht oder nicht, auch Hilda gab jedenfalls damit an. Zweifellos waren für ihr wildes Spiel ewig wechselnde Liebhaber genauso wichtig wie immer neue Stellungen.) Obwohl Nellie bei ihren Großeltern und ihrem Vater lebte, ging sie bereitwillig und froh zur Familie ihrer Mutter, als sich ihr die Gelegenheit bot. Emmanuel wollte sie in Sicherheit wissen. Emile hatte sich inzwischen zu einem so starken Trinker entwickelt, daß niemand ihn um seine Meinung bat. Was Gabrielle empfand, danach fragte offenbar niemand, aber Nellie wußte genau, wie sehr ihre Großmutter sie vermißte, und sie schrieb ihr regelmäßig Briefe, in denen sie sich Mühe gab, anhänglich zu klingen, aber kaum verbergen konnte, wie vergnügt sie war und wie glücklich darüber, bei den Goddards, Dorinda und mir in Amerika zu sein.

Als ich nach der Begegnung mit Eleanor im Kaufhaus in London ankam, fragte ich mich, ob sich Gabrielle an mich als das dritte Mädchen in Nellies Briefen erinnern würde. All die Jahre hatte ich so oft an Gabrielle gedacht, so viel von Nellie und den Goddards über sie gehört, daß sie mir wie eine alte Bekannte erschien. Vielleicht war sie auch schon zu alt, mich überhaupt inmitten all ihrer traurigen Erinnerungen unterbringen zu können?

Mit Emmanuels Tod, nicht lange nach Nellies Abreise in die Staaten, geriet Gabrielle in Vergessenheit. Die Bewunderer und Verehrer großer Literaten, die sich in deren Nähe drängen, nehmen Ehefrauen als unumgängliche Begleiterscheinungen notgedrungen hin. Aber ohne den großen Autor wird die Ehefrau – es sei denn, sie 46

macht sich zur Nachlaßverwalterin und strengen Hüterin seines literarischen Rufes, wie beispielsweise die Witwe von T. S. Eliot – so wenig beachtet wie seine Schreibutensilien oder, noch wahrscheinlicher: behandelt wie ein lästiges Überbleibsel.

Wie immer waren es die Goddards, die zu Hilfe kamen. Sie sandten Gabrielle monatlich einen Scheck, hofften zwar, daß er nicht hauptsächlich für Emiles Alkoholkonsum verwendet würde, fürchteten aber, genau das geschähe. Während des Krieges verschwand Emile plötzlich. Man fürchtete, die Nazis, die jetzt in Paris regierten, hätten ihn verhaftet. Es bestand die vage Hoffnung, daß er sich zu-sammengerissen, das Trinken aufgegeben und sich der Résistance angeschlossen hatte und dann entweder untergetaucht oder bei irgendeiner Aktion gegen die Deutschen heldenhaft gestorben war.

Aber niemand gelang es, seine Spur aufzunehmen. Emiles Verschwinden war für Gabrielle wahrscheinlich der schlimmste Schlag.

Aber: Sie lebte, und die Geldsendungen erreichten sie – mehr konnten die Goddards während des Krieges nicht über sie in Erfahrung bringen.

Nach der Befreiung Frankreichs gelang es Sig Goddard, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie bewohnte immer noch einen Teil der alten Foxxschen Wohnung und wurde von einigen vornehmen Damen unterstützt, die Emmanuel Foxx für den großen Schriftsteller seiner Zeit gehalten hatten, ohne sich Illusionen über seinen Charakter zu machen und über die Vorsorge für seine Frau, falls sie ihn überlebte. Genies leben nach ihren eigenen Gesetzen, so viel gestanden sie ihm zu, aber es mußte Leute geben, die sich um die nicht-literarische Hinterlassenschaft solcher Genialität kümmerten. Am rührendsten von all den Hilfeleistungen, besonders – wie Sig Goddard auf seine übliche sardonische Art sagte – angesichts der Knau-serei und Pfennigfuchserei der Franzosen, war das Angebot eines Restaurantbesitzers, bei dem die Familie Foxx vor dem Krieg oft gespeist hatte: Er gewährte Gabrielle jeden Tag eine freie Mahlzeit.

Eleanor hatte bei unserer Begegnung erwähnt, daß sie dem Restaurantbesitzer mit einem angemessenen Geschenk dafür gedankt habe.

Die Goddards hatten keine Mühe gescheut, Gabrielle zu Dorindas Hochzeit nach Amerika zu holen. Nellie hatte noch London telegra-fiert und sie angefleht zu kommen, aber Gabrielle meinte, sie sei zu alt, Nellie solle sie vertreten. Zu der Zeit hatten wir wohl alle das Gefühl, Nellie hätte selbst zu ihrer Großmutter nach London reisen sollen.

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Es war eine riesige Hochzeit im Harmonie Club, mit Nellie und mir als Brautjungfern. Auch meine Mutter war eingeladen, und ich war innerlich in Panik, sie könne etwas sagen oder tun, das mir peinlich wäre, aber sie benahm sich völlig korrekt und schien sich sogar zu amüsieren. Meine Mutter, die ich mir nie als Tänzerin hätte vorstellen können – das allerletzte Talent, das ich ihr zugetraut hätte –, wurde aus reiner Höflichkeit von einem der Männer zum Walzer aufgefordert, und sie erwies sich als so graziöse und lustvolle Tänzerin, daß sie keinen Tanz ausließ und mir – wenn ich in meiner Beschämung und Bestürzung einen Blick wagte – damit zeigte, was aus ihr hätte werden können, wenn etwas Vergnügen in ihrem Leben erlaubt und erreichbar gewesen wäre.

Daß sie so tanzte, schockierte mich noch aus einem anderen Grund. Ich war, ganz für mich allein, immer eine wilde Tänzerin gewesen, wirbelte durch den Raum, den Kopf voller Phantasien, und bewegte meinen Körper auf eine Art, wie es kein Gesellschaftstanz damals zuließ. Jahre später, als die jungen Leute damit begannen, sich nicht mehr als Paar zu bewegen, sondern jeder nach seinem eigenen Rhythmus, sagte ich mir, die Art Gesellschaftstanz hätte mir auch gelegen. Aber ich konnte mich nie von einem Mann führen lassen. Ich hätte es als Omen deuten müssen, aber damals wunderte ich mich, daß Dorinda keinerlei Schwierigkeiten mit den traditionel-len Tänzen hatte und sich in den Armen ihres Partners bewegte, als wolle sie nichts anderes vom Leben, als geführt zu werden. Meine wilde Tanzerei für mich allein erwähnte ich meiner Mutter gegen-

über nie. Ich tanzte zu einer Platte, aber nur, wenn niemand in der Nähe war. Dann hörte ich mit dem Tanzen auf und fing nie wieder damit an. Vielleicht sind die Spaziergänge, nach denen ich süchtig bin, mein Ersatz geworden, vielleicht sind auch die Phantasien, die mein Tanzen begleiteten, mit den Jahren verblaßt. Auf Dorindas Hochzeit tanzte ich ein paar wenige Pflichtrunden, saß den Rest der Zeit am Tisch und trank Champagner und strengte mich an, nicht zu meiner Mutter hinzusehen – was mir jedoch schlecht gelang.

Der Harmonie Club, in dem die Hochzeit stattfand, war und ist wahrscheinlich heute noch – ich nahm mir nie die Zeit, mich zu vergewissern – in der 60. Straße Ecke Fifth Avenue. Es war ein Club für wohlhabende Juden, die zu den ihrer sozialen Klasse entspre-chenden Clubs nicht zugelassen waren. Ich erinnere mich, daß Dorinda mir erzählt hatte, der Club nehme nur deutsche Juden auf, niemals osteuropäische, und sei sehr streng in der Auswahl seiner 48

Mitglieder. Dorinda schritt in ihrem prächtigen Brautkleid am Arm ihres Vaters den Gang hinunter, so als habe es nie ein graues Ford-Coupé oder die Männer ihrer Collegejahre gegeben; Nellie und ich folgten ihr in passenden himmelblauen Kleidern, die, überflüssig zu erwähnen, die Goddards uns gekauft hatten.

Der Bräutigam erwartete sie in voller Montur – neben ihm sein Trauzeuge, der genauso langweilig war wie er – und übernahm sie, wie in den Filmen unserer Kindheit, aus den Armen des Vaters.

Weder Nellie noch ich machten uns Illusionen. Er haßte uns, und Dorindas Abkehr von uns begann mit der Hochzeit. Nellie fuhr kurz nach Dorindas Hochzeit nach London, um ihre Großmutter zu besuchen, eine Reise, die die Goddards bezahlten, und ich begann mit meiner Arbeit als Lektoratsassistentin, in Wirklichkeit Sekretärin, in einem Verlag. Den Job hatten mir, wiederum überflüssig zu sagen, die Goddards verschafft.

Dorinda schritt den Gang entlang – hinein in die Arme ihres faden Chirurgen in spe und hinaus aus der Nähe, die sie mit Nellie und mir verband.

Hinter Dorinda hergehend, drehte ich den Ring an meiner rechten Hand, eine Art Talisman für mich, der all das symbolisierte, was die Goddards und Dorinda mir bedeuteten. Es war – ich besitze ihn heute noch – ein Jensen-Ring aus jenen Tagen, als das Jensen-Geschäft noch in der Fifth Avenue war und den für meine Begriffe herrlichsten Schmuck der Welt führte. Zu meinem sechzehnten Geburtstag, dem Geburtstag nach der Nacht mit dem Capehart, in der ich Len kennenlernte, gingen Dorinda und ihre Mutter mit mir zu Jensen, um mir einen Ring zu kaufen. Ich wählte den gleichen Ring, den Dorinda bereits besaß. Er war aus Silber mit ziselierten Blättern und einem Mondstein in der Mitte. Ich hatte Dorindas Ring immer bewundert und mir sehnlichst genau den gleichen gewünscht. Obwohl ich aus Höflichkeit den Preis überhörte, erinnere ich mich, daß er fünfund-dreißig Dollar kostete, zur damaligen Zeit eine riesige Summe, heute ein Spottpreis. Mit dem Schwur, ihn nie abzunehmen, verließ ich das Geschäft; ein Schwur, dem ich lange Zeit treu blieb. Für mich enthielt der Ring unsere ganze Jugend; diesen Satz habe ich einmal in einem Roman gelesen.

Während ich also bei Dorindas Hochzeit den Gang hinunter-schritt, drehte ich den Ring – vielleicht, um mich von der Farce ab-zulenken, bei der ich mitspielte. Plötzlich erinnerte ich mich auch an einen Abend nach dem ersten Sommer in New Jersey, den ich mit 49

Dorinda in New York verbrachte. Die Goddards hatten uns alle in einem Taxi zu Rumpelmayer ausgeführt, und während wir unsere Limonaden bestellten, brachte der Geschäftsführer einen Taxifahrer an unseren Tisch. Der Mann sagte, wir hätten eine Handtasche in seinem Taxi vergessen. Voller Scham und Schuldgefühle gab ich mich als Besitzerin der braunen Handtasche zu erkennen, die er zuerst Dorinda hinhielt, dann mir. Ich erinnere mich, wie Mr. Goddard in seiner Tasche kramte und dem Fahrer ein Trinkgeld gab. Ich wußte, daß meine Tasche, eine alte meiner Mutter, weniger wert war als das Trinkgeld.

Noch eine andere Erinnerung folgte – die Erinnerung an Dorindas Geburtstagsparty in jenem ersten Sommer. Alle Töchter der Familien, die den Sommer an der Küste verbrachten, waren eingeladen. Als wir uns schließlich zum Abendessen an den Tisch setzten, fand jede an ihrem Platz ein Lederetui, in das ihr Name mit Gold-buchstaben eingraviert war. Als wir die Etuis öffneten, entdeckten wir eine Reihe von Stiften, jeder mit einem Namen. Mein Etui trug meinen Namen, die Stifte trugen meinen Namen. Ich bewahrte das Etui und die Stifte viele Jahre auf. Natürlich war Eleanor diejenige, die sich alles ausgedacht und mich nicht ausgeschlossen hatte.

Und dieser Eleanor würde ich mich erkenntlich zeigen, wenn ich meinen Auftrag in London gut ausführte. Oder, fügte die Realistin in mir hinzu, wenn ich ihn überhaupt ausführte.

Meine Reise nach London war keineswegs so glamourös, wie sie sich anhörte. Ich sollte dort meinen ehemaligen New Yorker Chef unterstützen, der wegen ehelicher Probleme, die Anlaß zu heftigstem Klatsch gegeben hatten, dessen Inhalt ich aber völlig vergessen habe, nach London übergesiedelt war. Zuerst hatte er erwogen, nach Paris zu gehen, um dort eine Filiale des Verlags aufzubauen, aber zu meiner unendlichen Erleichterung hatte er sich statt dessen für London entschieden.

Zu dem Zeitpunkt, als ich ihm nach London folgte, zeichnete sich bereits ab, daß meine Karriere im Verlagswesen sich eher in den Geschäftsetagen abspielen würde als in den Lektoraten, wo die literarische und herausgeberische Seite betreut wurden. Ich konnte sehr gut mit Zahlen umgehen, war tüchtig und schnell, genau wie meine Mutter, obwohl mir der Vergleich damals kaum in den Sinn gekommen wäre. Statt anderen Reichen führte ich Verlegern den Haushalt.

Heute ist mir klar, daß da kaum ein Unterschied besteht.

Paris hat mich nie besonders interessiert. Ich weiß, welche Ver-50

wunderung eine solche Äußerung hervorruft, aber anscheinend gehö-

re ich zu denen, die nie den Geschmack ihrer Generation oder Kultur teilen. Irwin Edman, der in den zwanziger Jahren jung war, soll einmal gesagt haben, er habe in seiner Jugend nichts von dem Sprühen und dem Taumel gespürt, von denen er später immer gelesen habe.

Gewiß, er war ein Philosoph, und in jemandem wie beispielsweise Scott Fitzgerald konnte er wohl kaum das Sprachrohr seiner Wünsche und Hoffnungen sehen.

Ich bin nie besonders gern oder viel gereist, es gab zwar Städte, die mich begeisterten – Paris gehörte nicht dazu. Für mich ist Paris keine Stadt, in der eine alleinstehende Frau genüßlich durch die Straßen schlendern oder in Buchläden stöbern kann (interessant waren für mich natürlich nur solche mit alten und neuen Büchern in englischer Sprache). London ist eine solche Stadt, und ebenso war es das New York jener Tage. In Paris fühlte man sich immer als Au-

ßenseiter. Und das würde sich, so fürchtete ich, auch nicht ändern, wenn ich dort arbeitete. Die Leute müßten dann zwar mit mir über geschäftliche Dinge reden, meine Fragen beantworten und wichtige Angelegenheiten erörtern, aber ich bezweifelte, ob mich das den Franzosen näher brächte. Ich sprach Französisch, aber mit einem schweren amerikanischen Akzent. Die Art, wie die Franzosen bei allem eine sexuelle Ebene mitschwingen ließen, war mir fremd, und ich mochte sie nicht. Während meines einzigen Frankreichaufent-halts vor einigen Jahren fand ich, daß die Franzosen in ihrer Einstel-lung zu Geld, Sex, intellektuellen (als Gegensatz verstanden zu prak-tischen) Ideen, in ihrer Kleidung und ihren Essensgewohnheiten auf einer Ebene operierten, die einfach nicht meine war. Heute weiß ich, daß nicht nur mein Akzent mich behinderte; es war auch meine völlige Unempfindlichkeit für die vielen Signale (die mir einfach ent-gingen) und die vielen Gesten (die ich verschmähte). Einfach ge-strickte Leute haben noch nie Zugang zu den Franzosen gefunden.

Als ich später die Bücher von Nancy Mitford las, verstand ich, warum mir in Frankreich immer das Schicksal der Außenseiterin sicher gewesen wäre. Mir gefielen Mitfords Bücher, aber mir war auch klar, daß ich in ihrer Welt eine der unbeholfenen und schwerfälligen Figuren abgäbe, die sie in ihren Romanen karikiert.

Während meines Aufenthalts in Paris war ich sogar verliebt. Ich hatte Len dort wiedergetroffen, und wir lebten ganz unsere junge, wilde Liebe, die nur von Mahlzeiten und idyllischen Spaziergängen unter Kastanien unterbrochen wurde. Wir liebten uns, gingen eng 51

umschlungen, aber die sorgfältig beschnittenen Bäume wirkten verstümmelt auf uns. Das Wetter war uns zu grau, naß und dunkel, und die Kellner waren uns zu hochnäsig und unfreundlich. Wenn die Franzosen an den Nebentischen uns amerikanisch reden hörten, ließen sie es sich nicht nehmen, uns ihre Meinung über Amerika mitzuteilen. Ich war also sehr froh, daß mein ehebrecherischer Chef sich für London entschied, noch froher war ich darüber, weil ich auf diese Weise Eleanor einen Gefallen tun und noch einmal in die Affä-

ren ihrer faszinierenden Familie eintauchen durfte, das heißt, der Familie, in die sie, vielleicht unglücklicherweise, eingeheiratet hatte.

Ob Gabrielles Ehe auch nur eine Spur leichter zu ertragen gewesen war als Eleanors, wer weiß das schon. Aber Gabrielle war mit Emmanuel nach Paris davongelaufen, schwindlig vor Glück und in einem Sinnentaumel, wie ich ihn nie gekannt hatte und nach dem ich mich auch nicht sehnte. Das empfand ich schon so, lange ehe ich auf den Aphorismus eines Franzosen stieß, den ich im Gegensatz zu den meisten anderen der vielen französischen Aphorismen sehr zutreffend fand. Er lautete: Es gibt Menschen, die lieben, und Menschen, die sich lieben lassen. Jenen Sinnenrausch und Glückstaumel erfahren nur jene, die lieben; und der Preis, den sie dafür zahlen – der Preis, den Gabrielle gezahlt hatte –, erschien mir zu hoch. Erst als ich zu dieser Einsicht gelangt war, fragte ich mich zuweilen, ob Eleanor so geliebt hatte wie Gabrielle, und ich sagte mir, daß es wohl so gewesen sein müsse – daß beide hatten erfahren müssen, wie gefährlich es war, das Objekt seiner Leidenschaft zu heiraten.

Gabrielles Familie verstieß sie ohne einen Pfennig, was als recht und billig galt, denn sie hatte ihnen ja ins Gesicht gelacht. Ich nehme an, das Leben am linken Seineufer mit seinen Künstlern und Emig-ranten war sehr anregend. Aber ein ungebundener Hemingway zu sein, ist eine Sache – eine ganz andere ist es, einen Haushalt und ein Kind zu versorgen mit dem unregelmäßigen Einkommen eines Genies. Gabrielle war abhängig, ängstlich und lebte im Exil, kehrte aber selten nach London zurück, begleitete nicht einmal Emmanuel auf all seinen Reisen dorthin. Und obwohl sie sich angeblich wieder mit ihrer Familie versöhnen wollte, reagierte diese nicht.

Die Goddards konnten nie recht verstehen, warum sie schließlich doch nach London zurückkehrte. Sie schrieb ihnen nur, sie bewohne jetzt eine kleine Wohnung in Kensington, gab ihre Adresse an, damit die Schecks sie erreichten; ansonsten sei sie unendlich dankbar für ihre Großzügigkeit. Eleanor erzählte mir einmal, daß bei aller Dank-52

barkeit, die aus ihren Briefen spreche, gleichzeitig Gabrielles Überzeugung herauszuhören sei, die Goddards täten ihr gegenüber nur ihre Schuldigkeit. Ich war mir immer noch zu unsicher, was meine eigene Dankbarkeit den Goddards gegenüber betraf, um die von Gabrielle zu beurteilen. Ich gefiel mir in dem Glauben, meine Dankbarkeit sei unkompliziert, aber gelegentlich überkam mich ein Ge-fühl von Bitterkeit. Obwohl ich mir einredete, es rühre aus meiner Enttäuschung über Dorindas Entwicklung, hütete ich mich, Gabrielle gegenüber moralisch zu werden.

Die romantische Geschichte von Emmanuel und Gabrielle kannte ich so gut, als sei es eine Liebesgeschichte aus der Literatur – und in der Literatur findet sich stets mehr über die Liebe als über die Realität. Wären Romeo und Julia am Ende des Stückes nicht gestorben –

wie hätten sie gelebt? Wollte Shakespeare in seinem ›Wintermärchen‹ andeuten, ein Mann könne seine Frau nach zwanzig Ehejahren nur dann noch lieben, wenn sie sich die Schönheit der Zwanzigjährigen bewahrt habe? Emmanuels und Gabrielles Liebe hatte fast sha-kespearesche Züge, so zumindest erschien es mir noch 1955, als ich mich auf die Suche nach der sechsundsechzigjährigen Gabrielle machte. Ihr Sohn war tot, ihr Mann nach kurzer qualvoller Krankheit gestorben. Ihre Enkelin lebte auf der anderen Seite des Ozeans, und ich, diejenige aus unserem Triumvirat, die ihr am entferntesten stand, war auf dem Weg zu ihr. So traurig ihr Leben vielleicht heute auch sein mochte, selbst ich erwartete, daß sie die gelebte große Liebe noch immer ausstrahlte. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, alte Menschen blickten nur in ihre Vergangenheit zurück, entdeckten und durchlebten sie noch einmal neu. Auf welch herrliche Vergangenheit, auf welch großartige Liebe konnte Gabrielle zurückblicken!

Wenn man sich schon in den Strom hemmungsloser Leidenschaft warf, war es immerhin von Vorteil, wenn das Objekt der Leidenschaft ein bedeutender Schriftsteller war, der große Schöpfer einer Romanheldin.

Gabrielle lernte Emmanuel kennen, als sie sechzehn war. Dem Familienklatsch der Goddards zufolge soll sie ihm gleich bei ihrer ersten Begegnung »alles« gegeben haben. Emmanuel war zu Gast auf dem riesigen, schloßartigen Herrensitz ihrer Familie (vielleicht ist er auch von Erzählung zu Erzählung größer geworden). Einer von Gabrielles Brüdern hatte Emmanuel eingeladen und ihn als den gro-

ßen Schriftsteller der Zukunft vorgestellt. Solche Einführungen haben selten wirklich prophetischen Charakter. Emmanuel war zwar 53

noch nicht der große Schriftsteller, aber doch ein Mann von außergewöhnlicher Anziehungskraft, vor allem für Frauen. Ich habe ihn mir immer so imposant wie Rodin oder Augustus John vorgestellt –

von hoher Gestalt und hohen Ansprüchen an das Leben. Gabrielle bewunderte ihn vom ersten Augenblick an. »Wer, der nicht auf den ersten Blick liebte, hat je geliebt?« Ich bin fest davon überzeugt, daß diese Zeile Marlowes (und meine Ansicht wird durch den Zusam-menhang bestärkt, in dem Shakespeare sie zitiert) nur auf Schürzen-jäger und Leute, die keine Ahnung von der Ehe haben, zutrifft.

Sie bot an, ihm den Park zu zeigen, den Teich mit den Enten, die verwilderten Gärten und schlief mit ihm unter den Bäumen eines Buchenhains, im Licht, das durch das dichte Blätterwerk fiel. Als sie kurz darauf mit ihm nach Paris durchbrannte, mußte sie schon mit Emile schwanger gewesen sein, der neun Monate später geboren wurde. Sobald sie wußten, daß Gabrielle ein Kind erwartete, ließen sie sich in Paris von einem Standesbeamten trauen. Emmanuel hatte sich bisher in keine Ehe einfangen lassen. Aber Gabrielle war (so behaupteten die Goddards) die erste oder zumindest die jüngste Jungfrau, die er sich genommen hatte. Er konnte also sicher sein, daß sie sein Kind trug, und er wollte einen Erben, jemand, der seinen Namen weiterführte. Vielleicht, weil Emile eine solche Enttäuschung wurde, begrüßte Emmanuel es später, daß Nellie ein Mädchen war.

Das war zumindest meine Vermutung.

Gabrielles Familie blieb unerbittlich. Ihr Vater verfolgte sie bis nach Paris, aber als er das flüchtende Paar aufgestöbert hatte, wozu er einige Wochen brauchte, sagte ihm Emmanuel, Gabrielle sei schwanger und würde ihn heiraten. Der Goddard-Legende zufolge verkündete der Vater, seine Tochter existiere von nun an nicht mehr für ihn, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Ich habe mich oft gefragt, ob Gabrielles Brüder versuchten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen – sie waren älter und hatten zweifellos ein beträchtliches eigenes Vermögen –, aber offensichtlich waren sie sehr konservativ oder ebenso ängstlich auf den Ruf der Familie bedacht wie die Eltern. Gabrielles Mutter starb wenig später – an ge-brochenem Herzen, wie mir die Goddards versicherten. Sie hatte ihre Tochter geliebt und gab sich selbst die Schuld an allem. Hätte sie weitergelebt, hätte sie Gabrielle vielleicht irgendwann verstanden und unterstützt. Aber sie stand ganz unter der Knute ihres Mannes und verlor mit Gabrielles Flucht ihren einzigen Grund zu leben. Eine romantische Geschichte, wenn es je eine gegeben hat.

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Egal, worauf die Goddards ihre wundervollen Geschichten über die Foxx’ auch stützten, sie behaupteten jedenfalls, Gabrielle habe von Zeit zu Zeit an ihre Familie geschrieben und um Hilfe gebeten, aber keine erhalten. Ihre Briefe kamen auf die feinste englische Art ungeöffnet zurück. Ein zweites Kind wurde tot geboren, und die Foxx’ bekamen keine weiteren Kinder mehr. Angesichts der Katastrophe, die sie aus Emile gemacht hatten, war das wahrscheinlich auch gut so; das jedenfalls dachte ich 1955 auf meine arrogante, intolerante und nüchterne Art. Aber was – erinnere ich mich, Dorinda kurz nach Nellies Ankunft gefragt zu haben – hatten sie während des Krieges getan? Ich rühmte mich, die Historikerin in unserer Gruppe zu sein und über alle wichtigen Daten Bescheid zu wissen.

Schließlich wußte ich ja auch, daß mein Vater, lange bevor er meine Mutter kennenlernte, im Krieg gewesen war. Dorinda konnte mir keine Auskunft geben, fragte aber beim Dinner nach, und ihr Vater sagte, Emmanuel sei bei Kriegsausbruch schon fast vierzig gewesen und zunächst nicht von den Franzosen eingezogen worden. Später blieb er vom Kriegsdienst verschont, weil er ein Herzleiden und ein Geschwür hatte. Er zog sich mit seiner Familie aufs Land zurück und arbeitete weiter an seinem Roman, seiner Meinung nach eine weit wichtigere Sache als der Krieg.

Einer von Gabrielles Brüdern wurde im Krieg getötet, der andere verwundet, aber weder das Herz ihres Vaters noch das des überle-benden Bruders stimmte das weicher. Gabrielle half Emmanuel bei seinen Schriften und versuchte, Essen für ihn und den Jungen aufzu-treiben. Es muß eine schwere Zeit gewesen sein. Wenn ich sie mir vorzustellen versuchte, hatte ich immer die Bilder Frankreichs vor Augen, die ich aus Filmen und Geschichten über den Zweiten Weltkrieg kannte. Die Bilder von Emile als kleinem Jungen in dem einen Krieg und von Emile als Mitglied der Résistance in dem anderen Krieg verschwammen in meinem Kopf miteinander.

In London beanspruchte mein Boß mich über alle Maßen. Meine Zeit war damit ausgefüllt, ihm beim Aufbau seines Büros zu helfen und ansonsten die Rolle auszufüllen, die man in den Fünfzigern von einer Verlagsassistentin erwartete: die Rolle der »Dienerin«. Aka-demikerfrauen spielten natürlich eine ähnliche Rolle, oft in ungeheu-erlichem Ausmaß. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Queenie Leavis, die Frau des damals gefürchtetsten und einflußreichsten Kritikers F. R. Leavis, viele Jahre später in einem Interview zugab, daß sie alle Recherchen für seine berühmten Bücher übernommen 55

und den größeren Teil von ihnen geschrieben habe. Wir, die wir den männlichen Verlegern und Schriftstellern assistierten, übernahmen also das Recherchieren und Tippen, manchmal auch das Formulieren der Texte und ließen sie alles Lob einheimsen, auf Gesellschaften herumlaufen und schwadronieren. In jenen Tagen hatten ›Time‹ und

›Life‹ eine große Leserschaft. Im Mitarbeiterstab dieser Zeitschriften waren die Männer die Autoren. Für Frauen galt diese Bezeichnung nicht, sie waren die »Rechercheure«. In meinem Fall bedeutete das, daß ich nach einigen Jahren das Büro des Geschäftsführers leitete, nicht nur als Sekretärin (unabhängig von mir gab es eine zweite Sekretärin), sondern auch für Hauptbuchhaltung, Öffentlichkeitsar-beit und nicht selten für wichtige Entscheidungen verantwortlich war.

Erst einige Wochen später unternahm ich also den Versuch, Gabrielle anzurufen, um mich mit ihr zu verabreden. Wie sich herausstellte, hatte sie kein Telefon. Das war damals nicht so ungewöhnlich wie heute – für mich, als Amerikanerin, aber dennoch verblüffend.

Ich mußte ihr daher einen Brief schreiben, den die englische Post, die damals, anders als überall sonst auf der Welt, noch nicht den Tiefststand ihrer Funktionstüchtigkeit erreicht hatte, Gabrielle am nächsten Morgen zustellte. Sie schrieb sofort eine Antwort, die mich noch am selben Nachmittag erreichte, was im Rückblick das Überra-schendste an der ganzen Geschichte war. Sie bat mich, sie am nächsten Tag um drei Uhr aufzusuchen. Ich überließ meinen Boß seinem heillosen Durcheinander, nahm mir den ganzen Tag frei, wanderte durch die Straßen, überlegte, was ich Gabrielle sagen sollte, plante meinen Brief an Eleanor und kaufte einige Süßigkeiten für Gabrielle.

Gabrielle bewohnte das Erdgeschoß eines umgebauten Hauses am Rande von Kensington, eigentlich schon Knightsbridge, wie mir sogleich die Vermieterin erklärte, die mir die Tür geöffnet hatte. Die Frau hatte schon auf Gabrielles allerersten Besuch gelauert. Offenbar hatte Gabrielle ihr erzählt, daß sie mich erwarte, mehr aber nicht.

Trotz meines amerikanischen Akzents schien die Frau sofort anzunehmen, ich sei mit Gabrielle verwandt. Vielleicht hielt sie mich für Nellie. Sie erzählte mir, wie sehr sie sich um Gabrielle sorge, die nie einen Schritt vor die Tür setze, das »Mädchen« dafür bezahle, ihr Lebensmittel und andere notwendige Dinge zu besorgen, und die bei Gott nicht die Sorte Mieter sei, die sie eigentlich haben wolle, aber schließlich bezahle sie pünktlich die Miete, und man könne das arme Geschöpf ja nicht einfach auf die Straße setzen. Immer noch schwat-56

zend, führte sie mich einen Flur entlang, zu Gabrielles Tür. Ich dankte ihr, blieb stehen und blickte sie so lange an, bis sie ging. Ich wollte allein sein, wenn ich Gabrielle gegenübertrat.

Und als ich ihr schließlich gegenüberstand, als sie die Tür öffnete und mich hereinließ, fesselte sie meine Aufmerksamkeit mit solcher Gewalt, wie nie jemand zuvor, nicht einmal Nellie, als sie in Amerika ankam, nicht einmal Dorinda, als ich ihr das erste Mal begegnete.

Alles bisher, so sah ich es in jenem Moment, war die Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen, und mir schien, daß mein Leben zum guten Schluß doch eher ein Roman war als eine realistische Biographie. Diese Ahnung hatte ich schon früher gehabt und mich im stillen damit auseinandergesetzt, wie so oft, seit Dorinda, Nellie und ich getrennt waren. Nur in Romanen, Märchen und in den Geschichten, die Mädchen träumen, entreißt etwas junge Frauen ihrer glanzlosen Bestimmung und versetzt sie in eine andere, reichere, abenteuerlichere Welt. Genau das war mit mir geschehen: zuerst die Goddards, dann Nellie und nun Gabrielle. Aber es gab auch einen Grund, warum mir – der schwerfälligen, etwas langweiligen, hart arbeitenden Anne – all dies passierte, und nicht Dorinda oder Nellie, die vom Schicksal viel eher für eine Starrolle auserkoren schienen.

Gabrielle brauchte jemand Aufnahmebereiten wie mich. Eleanor, sagte ich mir, wäre auch geeignet gewesen, aber Eleanor war zu sehr von ihrem Mann in Anspruch genommen, zu sehr das Geschöpf der Goddards.

Auf mich, mit knapp dreißig, wirkte Gabrielle an jenem Tag, als ich ihrer zum erstenmal ansichtig wurde, alt und heruntergekommen.

Das ist der richtige Ausdruck: »ansichtig wurde«. So als hätte ich sie aus meiner Phantasie herausgelöst und ins Blickfeld genommen. In New York und London bin ich bestimmt täglich an vielen sechsundsechzigjährigen Frauen vorübergegangen, die mir weder alt noch verhärmt vorkamen, weil sie sich durch Kosmetik und Diät ihre jugendliche Erscheinung bewahrten. Gabrielle sah aus wie Sechsundsechzig, wenn nicht älter. Ich brauchte jedoch nicht lange, um ihre Vitalität zu entdecken – eine Lebendigkeit, die keine Imitation von Jugend ist und nicht den Anschein von Jugendlichkeit erwecken will, sondern die echt und so ganz anders ist als jene Verkörperung von Jugend, der die modernen Frauen nachjagen. Gabrielles grau-weiß meliertes Haar war kurz geschnitten. Bei unserer ersten Begegnung war ich konventionell genug, ihr insgeheim zu einem »guten«

Friseur zu raten. Sie trug ein langes formloses Kleid mit einer alten 57

Strickjacke darüber: Wie in allen englischen Häusern jener Tage war es kalt bei ihr. Ihre Füße, mit Strümpfen aus grobem Material, steckten in Gebilden, die wie Männerschlappen aussahen. Ihre Hände waren groß, und die Fingernägel an den dicklichen Fingern kurz geschnitten. All dies nahm ich mit einem Blick auf – wie eine Art Offenbarung, auch wenn mir dieses Wort damals nicht in den Sinn kam. Warum sind die Geschöpfe, die in Offenbarungen erscheinen, immer schön wie die Engel? Und warum stellen wir uns Engel immer schön vor? Ich will damit nicht behaupten, Gabrielle sei mir auf den ersten Blick wie ein Engel vorgekommen, sondern nur, daß irgend etwas in mir sich zu ihr hingezogen fühlte, sie wiedererkannte und sagte: »Da bist du also.«

»Kommen Sie herein.« Sie sprach ein reines Upperclass-Englisch; heute hört man das in England viel seltener als damals. In jenen Tagen hatten alle BBC-Sprecher einen Oxford-Akzent. Daß die Beatles oder die heute allgegenwärtigen Tonlagen aus Australien, Yorkshire, den Midlands oder dem East End über einen Sender gingen, lag noch in ferner Zukunft. Aber selbst damals versetzte mich die Reinheit ihrer Sprache in Staunen.

Im Kamin entdeckte ich ein elektrisches Heizgerät, in das sie eine Münze warf. Auf einem Tischchen neben dem Kamin stand ein mit Münzen gefüllter Teller. Sie verwandte offenbar ihr Geld für das, was ihr wichtig war: Wärme, einen großen Raum, ein eigenes Badezimmer, Trinkgelder für das »Mädchen«, das für sie einkaufte. Sie verschwendete es nicht für Äußerlichkeiten oder irgend etwas, das nicht von unmittelbarem Nutzen war. Sie hatte ein Radio, an dem sie, in wenigen Stunden, die Nachrichten hören würde und später am Abend Musik. Sogar auf den ersten Blick fand ich, daß sie ihr Leben bemerkenswert vernünftig eingerichtet hatte.

Mein Plan war gewesen, sie zum Abendessen auszuführen, aber ich verwarf ihn gleich im ersten Moment. Ihr Leben fand hier statt und nirgendwo sonst. Sie hatte Zugang zu einem Garten, den die Bewohner aller umstehenden Häuser gemeinsam benutzten. Ich nahm an, oder wollte es gern glauben, daß sie gelegentlich dorthin ging, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Als ich sie fragte, erzählte sie mir, nachts stelle sie sich manchmal ans offene Fenster, aber tagsüber gehe sie nie hinaus. Dort gebe es Kinder, und für die sei sie das geborene Opfer; sie schien das als unvermeidliches Schicksal hinzunehmen. Sie mochte keine Kinder. Als sie das sagte, wurde mir plötzlich klar, daß auch ich keine Kinder mochte, nicht 58

einmal, als ich selbst Kind war, außer Dorinda und Nellie, aber die waren ja keine Kinder, sondern, wie ich, kleine Erwachsene, die auf ihre Verwandlung warteten.

»Setzen Sie sich«, sagte sie. Ich setzte mich auf einen Stuhl gegenüber dem Kamin mit dem elektrischen Heizer. Offensichtlich hatte sie den Stuhl für mich dorthin gestellt. Für zwei Stühle in der Nähe der Wärmequelle gab es normalerweise keinen Bedarf. Immer noch im Mantel, setzte ich mich: Der Raum war alles andere als warm. »Wie geht es Nellie?« fragte sie.

»Nellie geht es gut«, sagte ich. »Sehr gut.« Das schien keine angemessene Antwort und schon gar keine Neuigkeit, aber Gabrielle akzeptierte sie. Nellie, mit ihrer Begabung für Sprachen, arbeitete inzwischen für eine internationale Bank und war recht erfolgreich dort. Wie ich hatte sie nicht geheiratet, sah in der Ehe eine Falle.

Weder sie noch ich hatten uns durch die Ehen in jener Welt, der Dorinda angehörte, zum Narren halten lassen. Vielleicht mußte man das Bild meiner Mutter oder Hildas vor Augen haben, um genug Widerstandskraft gegen die Ehe zu entwickeln, der die Frauen unserer Generation hinterherjagten wie dem Goldenen Vlies.

»Ledig wie Sie«, sagte Gabrielle, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Arbeitet, bringt sich selbst durch. Braves Mädchen. Und sie nutzt ihre Sprachkenntnisse. Nur jemand wie Emile konnte behaupten, weil er so viele Sprachen spreche, habe er keine Muttersprache. Nellie nach Amerika gehen zu lassen, brach mir das Herz, aber wäre sie bei mir geblieben, sie wäre verdammt wie ich. Wie Emile.«

»Sind Sie immer noch verdammt?« fragte ich. Immer und immer wieder habe ich an diese Frage zurückgedacht und daran, warum ich sie stellte. Sie kam mir wie durch Eingebung. Und Eingebungen gibt es selten: Sie sind eine Form von Telepathie wie eine plötzliche Einsicht oder Offenbarung, die vielleicht nur einmal im Leben vor-kommt und ein ganzes Leben Vorbereitung braucht. Zweifellos hatte mich alles in meinem Leben darauf vorbereitet – mir eingegeben, diese Frage zu stellen.

»Nein«, sagte sie. »Ich bin nicht mehr verdammt. Deshalb war ich damit einverstanden, Sie zu empfangen. Sie sind die Botschafterin.«

Mit meinen knapp Dreißig fragte ich mich natürlich einen schrecklichen Moment lang, ob sie vielleicht verrückt sei. Sie muß diese Zweifel in meinem Gesicht gesehen haben. »Vielleicht mehr 59

als eine Botschafterin«, sagte sie. »Vielleicht eine Freundin. Sie sind genau in Nellies Alter«, fügte sie offenbar zur Erklärung hinzu.

»Möchten Sie Tee?«

Ich freute mich über ihr Angebot – echter englischer Tee, stark und mit Milch. Erst jetzt sah ich, daß sie den Wasserkessel schon aufgesetzt hatte. Wir tranken unseren Tee und sahen einander an. Ich hatte das Gefühl, mir eröffne sich eine neue Welt. So hatte ich noch nie empfunden, nicht einmal während meines Zusammenlebens mit Dorinda. Ich wartete, daß sie zu sprechen begänne, nur um ihre Stimme zu hören. Ob sie etwas Tiefgründiges sagte oder nicht, war mir völlig gleichgültig.

»Foxx behauptete immer, die Engländer machten aus ihrem Tee-trinken eine heilige Handlung. Er hatte recht, was die englischen Bräuche betraf, hatte er immer recht. Tee ist fraglos besser als Wein.

Tee ist niemandes Blut, außer dem der Unterschicht. In Tee ist kein Erlöser mit hineingepanscht.« Sie prustete los. Zum erstenmal sah ich sie lachen. Dann lächelte sie mich an, wie um ihr lautes Prusten zurückzunehmen. Ihr Lächeln war hinreißend und strafte das gestutz-te Haar und die ruinierte, mit winzigen geplatzten Äderchen übersäte englische Haut Lügen. Es war ein liebevolles und intelligentes Lä-

cheln, das so selten ist wie ein großer Rubin. Ich trank meinen Tee, und ein Gefühl reiner Freude überkam mich, wie eine Welle von Wohlbehagen, aber weit intensiver, eben Freude, nehme ich an. Als meine Mutter in die Menopause kam, litt sie unter fliegender Hitze; sie werde von den Hitzewellen förmlich übermannt, so beschrieb sie es – sie ergriffen von ihrem Körper Besitz wie Lust, nur daß fliegende Hitze eben keine Lust ist. Aber ich fühlte mich in dem Augenblick von Lust überkommen.

Wir hatten keine Eile. Beim Eintreten hatte ich meine Tasche mit den Süßigkeiten abgestellt, und ich habe keine Ahnung, was aus meinen Mitbringseln geworden ist. Vielleicht hat Gabrielle sie an die Vermieterin oder ihr »Mädchen« verschenkt? Ich habe Gabrielle nie etwas essen sehen, und sie lud mich auch nie zu einer Mahlzeit ein.

Und ich, ich dachte nicht ans Essen, wenn ich mit ihr zusammen war.

Wir tranken nur Tee, unzählige Tassen Tee. Dort saß ich also, trank meinen Tee und sah mich in dem großen Zimmer um.

Überall waren Papiere verstreut, auf jedem Stuhl, Tisch, sogar direkt neben der Ofenplatte – jede freie Fläche und fast der ganze Boden waren mit Papieren übersät. Fast instinktiv hatte ich mir einen 60

Weg durch die Papierstapel zu dem elektrischen Heizer und den Stühlen gebahnt. An diese Art Unordnung war ich gewöhnt. Dorinda hatte nie etwas aufgeräumt, und am Anfang hatte ich hart mit mir zu kämpfen, um meinen Ordnungssinn, den ich mit der Muttermilch eingesogen hatte, zu zügeln.

Gabrielle schien selbstverständlich davon auszugehen, daß ich, nachdem ich mich umgeblickt hatte, verstehen würde: Dies war keine Unordnung, sondern das Entdecken und Ordnen ihres Lebens.

»Jetzt fallen sie wieder über mich her«, sagte sie. »Alle diese Gelehrten und akademischen Schnüffler auf der Suche nach Briefen, Erinnerungen und Geschichten. Sie sind die einzige, die ich vorge-lassen habe. Die Vermieterin tut, als erweise sie mir einen Gefallen, daß sie mich hier wohnen läßt. Gewiß, vielleicht könnte sie mehr für die paar Zimmer bekommen. Aber ich besteche sie die ganze Zeit mit Geld und allem möglichen (ihre Augen wanderten zu meiner Tasche von Fortnum und Mason hin). Und sie schickt sie alle fort, alle außer Ihnen. Ich habe ihr gesagt, daß sie Sie hereinlassen soll.

Um die Wahrheit zu sagen, bis Sie hier waren, wußte ich nicht, ob Sie kommen würden oder vielleicht Nellie. Ich bin froh, daß Sie’s sind. Nellie muß ihren eigenen Weg gehen.«

Ich weiß nicht, warum mich diese Unterstellung, ich hätte keinen eigenen Weg zu gehen, nicht beleidigte. Zum Teil, weil es stimmte.

Ich spielte größeres Interesse, oder zumindest größeres Engagement, für die Verlagswelt vor, als ich in Wirklichkeit hatte. Außerdem hatte ich immer das Gefühl, mich erwarte eine Bestimmung. Vielleicht war sie genau hier.

»Sind das Foxx’ Briefe?« fragte ich.

»Einige. Die meisten sind meine – Briefe, die ich ihm über lange Jahre hinweg jeden Tag schrieb; in denen ich meine Gedanken, Sehnsüchte, meine Phantasien, meistens sexuelle, niederschrieb –

erzählte, wie ich mir ausmalte, ihn zu erregen und mich an wilde, verwegene Dinge erinnerte, die ich in Wirklichkeit nie getan hatte.

Ihm war es lieber, ich schrieb diese Dinge auf, als daß ich sie tat. Er sagte, von allen Frauen, denen er begegnet sei, hätte ich die größte Vorliebe für die Missionarsstellung. Nun, sie ist ja schließlich auch die bequemste.«

»Aber Sie waren doch so selten voneinander getrennt.« Ich hatte alle Biographien gelesen, die es gab. Über alles, was Foxx, sein Leben und seine leidenschaftliche Heldin betraf, war ich bestens informiert. All die outré sexuellen Praktiken, die er seiner Heldin 61

abverlangte – Praktiken, die sie mit leidenschaftlicher Hingabe und Lust vollführte, kamen mir in den Sinn. Ich versuchte, sie in Zu-sammenhang mit dieser großen Frau zu bringen, die mir in Filzpantoffeln und Strickjacke gegenübersaß.

»Wir waren nie getrennt. Er schleppte mich durch ganz Europa.

Er sagte, ich sei seine Muse. Ha! Ich schrieb jeden Tag in meinem Zimmer. Er schloß mich ein. Er ließ mich nicht einmal zu dem Baby, wenn es schrie. Also lernte ich, sehr schnell zu schreiben.«

»Und dies sind die Briefe?«

»Ja. Das meiste sind Briefe. Ich kann mich kaum dazu bringen, sie noch einmal zu lesen. Ich habe schon erwogen, sie zu verbrennen.«

»Sie verbrennen! Oh, das dürfen Sie nicht. Das wäre ein Sakrileg.«

»Warum?« forderte sie. »Sagen Sie, warum!«

Ich wußte, daß ich jetzt nicht schweigen oder zögern durfte. Daß ich kein falsches Wort sagen durfte. »Weil es die Worte einer Frau sind«, sagte ich. »Es sind Ihre Worte! Warum sollte die Welt glauben, es seien seine?«

Ich hatte das Richtige gesagt. Später fragte ich mich, ob jene ihr abgerungenen Worte wirklich ihre eigenen waren, oder, wie die Worte masochistischer Frauen in Pornoromanen, im Grunde Män-nerphantasien: Die Frauen sagten, was Männer von ihnen hören wollten, spielten Gefühle vor, die Männer von ihnen wollten. Aber davon erwähnte ich nichts. Es war ja gut möglich, daß Gabrielle nicht nur ihre sexuellen Phantasien niederschrieb, sondern ihre Gedanken, Sehnsüchte und verborgenen Hoffnungen. Schließlich hatte Foxx’ Heldin große Sehnsüchte, männliche Träume, sogar über die Liebe zu Frauen.

Aus irgendeinem Grund mußte ich in jenem Augenblick an Dorinda denken, an ihre wilde Mädchenzeit, ihren unstillbaren Erfah-rungshunger (zumeist sexuellen) und an die Konventionen, in die sie sich schließlich selbst eingekerkert hatte. Ihre Hochzeit war in der Tat ein Aufnahme-Ritual gewesen, eine Initiation ins wohlanständige Frauenleben. Warum hatte ich es damals nicht so gesehen?

»Trinken Sie noch einen Tee«, sagte Gabrielle. Während sie zum Kessel schlurfte – ihre Filzpantoffeln waren zu groß –, spürte ich, daß sie überlegte, wie es weitergehen sollte. Dann hatte sie offenbar einen Entschluß gefaßt. Ich solle morgen wiederkommen. Zum Tee.

Dann würden wir weitersprechen.

62

Und so, ohne meine versprochene weitere Tasse Tee, wurde ich entlassen. Gabrielle entfernte sich vom Kessel, aber ihr Gesicht war freundlich. Sie lächelte. Ich wollte noch nicht gehen, aber mir blieb keine andere Wahl. Ich erhob mich, meinen Mantel hatte ich die ganze Zeit nicht ausgezogen, griff nach meiner Handtasche und ging durch die Tür, die sie mir aufhielt. Ich wollte bleiben, aber mir fiel kein Grund dafür ein.

»Bis morgen«, sagte ich.

»Bis morgen«, antwortete sie und winkte mir kurz nach, ehe sie die Tür wieder schloß.

Die Vermieterin wartete auf mich. »Geht’s ihr besser?« fragte sie.

»War sie denn krank?« antwortete ich, leicht herablassend, wie ich hoffte.

»O ja«, sagte die Vermieterin. »Sie bekommt Anfälle.

Dann wird sie ganz sonderlich, wirklich sonderlich. Nun, jetzt sind Sie ja da und können sich um sie kümmern. Ihre Enkelin, habe ich recht?«

Ich ging, weil Gabrielle es so wollte, aber mit düsteren Vorah-nungen, die während der ganzen Nacht und auch am folgenden Morgen kein Appell an meine Vernunft beschwichtigen konnte.

Am nächsten Tag ging ich so früh zu Gabrielle, daß es schon beinahe unhöflich war. Die Vermieterin wartete bereits auf mich.

»Sie lag auf der Erde. Das Mädchen und ich haben sie ins Bett gehoben. Wie wir’s geschafft haben, weiß ich beim besten Willen nicht. Sie wollte keinen Arzt, und sie will nichts trinken. Nur mit Ihnen will sie sprechen. Sie wollte, daß das Mädchen Sie holt. Aber ich weiß ja nicht, wo Sie wohnen, woher sollte ich denn? Wie auf Kohlen hab’ ich gesessen, daß Sie endlich kommen!«

Sie machte Anstalten, mit mir in Gabrielles Zimmer zu gehen, aber ich schob sie zurück und schloß die Tür. Gabrielle war blaß und sah krank aus. Sie atmete in kurzen Stößen, und meine entsetzten Ohren meinten, bei jedem Atemzug ein Rasseln, ein Röcheln zu hören. Sie zog mich am Ärmel und signalisierte mir, mich auf die Bettkante zu setzen.

»Ich habe es der Vermieterin aufgeschrieben, schon lange vorher.

Gestern abend mußte ich nur noch Ihren Namen einsetzen. Gehen Sie nicht ohne die Papiere. Dort sind Taschen. Packen Sie die Papiere hinein.« Sie deutete auf eine Tasche neben ihrem Stuhl. Ich sah, daß sie schon angefangen hatte, die Papiere hineinzupacken, wahr-63

scheinlich gestern abend. Sie hatte sich überanstrengt und war zu-sammengebrochen.

»Sie sind doch erst Sechsundsechzig«, sagte ich, so als wollte ich sie anflehen, ihre Arithmetik und damit ihre Krankheit neu zu überdenken. Sie ignorierte mich.

»Packen Sie alles zusammen«, sagte sie nur. »Und nehmen Sie die Papiere heute abend mit. Lassen Sie sich ein Taxi rufen. Geben Sie allen genug Geld, viel Geld. Der Vermieterin, dem Mädchen, dem Taxifahrer. Für Geld tun die alles, was Sie wollen. Hier.«

Sie zog an ihrem Rock, um mich, wie ich schnell verstand, auf ihre Tasche hinzuweisen. Von ihr ermuntert, faßte ich hinein und zog ein dickes Bündel Banknoten heraus. Zu der Zeit war England noch nicht zum Dezimalsystem übergegangen. Ich erwähne das hier, weil das alte englische Geld eine besondere Magie besaß; es wirkte wie Spielgeld auf mich, der Stoff, aus dem die Träume sind, etwas, was die neuen Pfundnoten niemals sein können.

Ich nickte zustimmend.

»Bringen Sie sie irgendwohin«, sagte sie. »Vielleicht in ein anderes Land. Ich hab’ das Geld nicht! Haben Sie es?« Sie war jetzt völlig verwirrt und aufgeregt. Ich sagte ihr, ja, ich hätte das Geld, daß ich die Papiere irgendwo in einer sicheren Bank deponieren würde, vielleicht in der Schweiz – in meiner eigenen Verwirrtheit bildeten die Schweiz und sichere Banksafes plötzlich eine unverbrüchliche Einheit. Ich sagte ihr, ich würde die Papiere in einem großen Schließfach, einem Safe, wie ich es anscheinend unbedingt nennen mußte, verwahren. »Tun Sie es jetzt gleich. Packen Sie alles zusammen. Ich will Ihnen zusehen.«

Und ich packte ihre Papiere zusammen. In den folgenden Jahren habe ich die Szene immer und immer wieder durchgespielt, mich selbst dabei beobachtet, wie ich die Papiere einsammelte und in den Leinentaschen verstaute, die Gabrielle besorgt hatte. Schon während ich es tat, kam ich mir vor, als spielte ich eine Szene in einem Kriegsfilm, verzweifelt arbeitend, die Gestapo im Nacken, die jeden Moment einzudringen drohte. Aber es gab keine Gestapo. Die Vermieterin hätte für das Geld, das ich ihr zusteckte, alles getan. Sie konnte sehen, daß ich nicht vorhatte, ihre Möbel abzutransportieren, und was lag ihr schon an irgendwelchen Papieren? Sie war entzückt, an dem Drama teilzuhaben. Später wurde mir klar, daß ich es auch mit einer jener moralischen, gesetzestreuen Engländerinnen hätte zu tun haben können, die die Polizei gerufen hätte, damit alles seine 64

Ordnung hat. Nie zuvor oder danach in meinem Leben war ich so dankbar für Verrat. Wie sollte sie wissen, daß ich Gabrielle nicht ausraubte, sie nicht um ihren wertvollsten Besitz brachte? Gewiß, Gabrielle wirkte einverstanden mit meinem Tun, aber inzwischen atmete sie noch schwerer und hatte ihre Augen fast ständig geschlossen, außer für kurze Momente, wo sie sie, wie von Panik ergriffen, plötzlich öffnete, dann aber, wenn sie mich sah, beruhigt schien.

Offenbar wollte sie es so haben.

Als ich mit dem Einpacken fertig war, nahm ich Gabrielles Hand.

Ich würde sie morgen wieder besuchen, flüsterte ich ihr zu, oder heute, später am Abend.

»Nein«, sagte sie. »Gehen Sie jetzt. Gehen Sie, so schnell Sie können. So schnell Sie nur können.« Und sie schloß die Augen.

Wir riefen ein Taxi und verstauten Gabrielles zwei Leinentaschen darin. Ich belohnte die Vermieterin mit einem weiteren Geldbetrag.

Während der ganzen Fahrt umklammerte ich die Taschen, so als könne jemand das Taxi anhalten und sie mir wegreißen. Nachdem ich sie hoch in mein Pensionszimmer gebracht hatte, entspannte ich mich ein wenig, sagte mir, daß es hier keine Gestapo gab und nur wenige Leute Interesse an Gabrielles Schatz hatten.

Am nächsten Morgen suchte ich mir eine Bank und mietete einen Safe, in dem ich die Papiere deponierte. Die Taschen wollten nicht mit hineinpassen. Sie aufzuheben, schien sinnlos. Aber es gelang mir, die eine in die andere zu stecken, und ich nahm sie wieder mit.

Später, als ich merkte, wie schlecht sie sich als Totems eigneten, hätte ich sie beinahe weggeworfen. Am Ende beschloß ich aber doch, sie aufzubewahren – weil sie Gabrielle gehörten. Ich kam mir ein wenig albern dabei vor, aber ich habe sie heute noch.

Nachdem die Papiere sicher verstaut waren, erwog ich, Gabrielle ein Telegramm mit dem Text »Auftrag erfüllt« zu schicken, aber sie hatte mich angefleht: »Keine Botschaften, keine Botschaften.« Wie Sie, die dies lesen, war ich überzeugt, Gabrielle würde bald sterben.

Aber sie starb noch nicht. Die Vermieterin rief die Ambulanz, und Gabrielle wurde ins Krankenhaus gebracht. Sie lag in tiefer Bewußtlosigkeit, aus der sie nie wieder richtig erwachte. Inzwischen hatte ich Eleanor wie versprochen ein Telegramm geschickt, und die Goddards schickten Geld für ein gutes Pflegeheim.

Dort besuchte ich Gabrielle. Das Personal war freundlich, aber Gabrielle wußte nicht, wo sie war. Ich saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand und verlängerte meinen Englandaufenthalt um Tage, dann um 65

Wochen. Meine Arbeit war längst erledigt, aber ich hoffte, Gabrielle würde noch einmal sprechen. Manchmal, sehr selten, bewegte sich ihre Hand kaum spürbar in meiner. Am Ende fand ich mich schließ-

lich damit ab, daß ich nichts weiter tun konnte.

Gabrielle habe ich nie wiedergesehen. Kurz nachdem ich in die Staaten zurückgekehrt war, reiste Eleanor zu ihr und erzählte mir später, die Schwestern aus dem Pflegeheim hätten berichtet, Gabrielle habe nach Nellie gefragt, manchmal rufe sie sogar im Schlaf nach ihr. Als Nellie sie dann in dem Pflegeheim besuchte, erkannte Gabrielle sie nicht mehr.

Gabrielle starb einige Jahre später. Ich bezahle noch immer die Miete für den Safe in der Londoner Bank. Es gelang mir, in meine frühere Stellung in dem Verlag zurückzukehren. Ich war zu gut, man wollte nicht auf mich verzichten; und Frauen konnte man damals so wenig bezahlen, ihnen gleichzeitig so viel Verantwortung und so wenig Anerkennung geben, daß der Verleger töricht gewesen wäre, mich nicht wieder einzustellen.

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