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Die schicksalsschwere Entscheidung, sich ans Biographieschreiben zu wagen, hatte Kate gleich zu Beginn des Frühjahrssemesters getroffen – rechtzeitig genug, um unbezahlten Urlaub beantragen zu können. Die Universität zögerte keinen Moment, ihn ihr zu gewähren. Wegen finanzieller Engpässe war die Einsparung eines vollen Professorengehalts gern gesehen. Kates Arbeit würde von einem außerordentlichen Professor übernommen, dessen Bezahlung, nach Stunden berechnet, unter dem Mindestlohn eines Arbeiters lag. Kate selbst hatte solche Härteproben schon oft absolviert und wußte auch um deren Vorteile: Die Gelegenheit, einmal woanders zu arbeiten, neue Kollegen und neue Studenten kennenzulernen, neue Lehrme-thoden auszuprobieren oder alte Fragen anhand neuer zu überprüfen, und nicht zuletzt das Abenteuer, ein neues Wohnviertel und einen neuen Campus zu erforschen.

Unbezahlten Urlaub nehmen war ungefähr so, wie eine Zeitlang sterben, denn man konnte nie sicher sein, ob die Universität je die Personalakte wiederfände oder der Versuchung widerstehen würde, jemand anderem das Büro zu geben. Nur daran, daß man seine Krankenversicherung im voraus selbst bezahlen und komplizierte Arrangements wegen der Post treffen mußte, merkte man, daß man noch zu den Lebenden zählte. Am ersten Juni würde Kate mit der Arbeit an der Biographie beginnen. Bis dahin wollte sie – falls die Zeit dazu reichte – ein wenig herumschnüffeln, wie sie das ausdrück-te. Die Frage war nur: Wo mit dem Schnüffeln beginnen?

Russell Baker berichtet, wie er einmal zu seiner Frau sagte: »Ich gehe jetzt nach oben und erfinde die Geschichte meines Lebens.«

Kate wiederholte seine Worte Reed gegenüber. »Ich fange jetzt an, die Geschichte von Gabrielles Leben zu erfinden. Wie es sich für einen guten Biographen gehört, werde ich allerdings nach Dokumen-ten suchen, die meine Interpretationen stützen.«

»Das gehört sich auch für einen guten Detektiv«, hatte Reed ge-antwortet. »Es gelingt dir immer wieder, mich zu überraschen. Und genau das – falls du es noch nicht wußtest – ist der Grund, warum ich dich geheiratet habe. Du bist der einzige Mensch, den ich gut kenne, der noch Überraschungen bereithält. Die meisten Leute beschränken sich darauf, genau die Erwartungen zu erfüllen, die man an sie hat.«

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»Allmählich hörst du dich wirklich an wie ein Juraprofessor«, sagte Kate. »Etwas Bombastisches hat sich in deine Sätze geschli-chen.«

»Wie sonst soll ich dir verständlich machen, daß ich dich wundervoll finde?«

»Unsinn. Daß du Juraprofessor geworden bist, finde ich mindestens genauso außergewöhnlich wie meinen Plan, eine Biographie zu schreiben. Im Grunde willst du doch nur sagen, daß dein Sprung ins Ungewisse ein vernünftiger war und meiner nicht. Gib es zu.«

»Ich gebe höchstens zu, daß ich nicht ganz verstehe, warum diese Frau dich überhaupt so interessiert. Sonst unterstellst du doch allen Frauen, die sich mit Schriftstellern zusammengetan haben, um ihnen Muse zu sein und die Wäsche zu waschen, sie hätten, gelinde gesagt, einen sehr unweisen Schritt getan. Bestenfalls billigst du ihnen noble Motive zu.«

»Heutzutage gibt es solche Frauen ja kaum noch. Die Frauen, die heute Schriftsteller heiraten oder mit ihnen zusammenleben, schreiben meistens selbst oder haben einen anderen anspruchsvollen Beruf.

Du darfst nicht vergessen, was Gabrielle hinter sich ließ, als sie mit ihrem hübschen Helden durchbrannte. Das Leben einer englischen Upper-class-Ehefrau mochte zwar eine gewisse Sicherheit bieten, aber ansonsten verdammt wenig. So viele Alternativen hatte sie nicht. Ich weiß, wie sich ihre Angehörigen verhielten, nachdem sie fortgelaufen war, und das beweist, daß sie praktisch nicht existent waren – die Alternativen, meine ich, nicht die Angehörigen. Gabrielle wollte Abenteuer und Herausforderungen in ihrem Leben, und sie verschaffte sie sich auf dem einzigen Weg, den sie sah. Heute ist es nicht mehr angesagt, reiche Frauen zu bemitleiden – schließlich müssen sie weder zusehen, wie ihre Kinder hungern noch die Kü-

chen anderer Frauen putzen –, aber sie sind trotzdem ein ziemlich ohnmächtiger Haufen. Ich finde, Gabrielle war klug, das zu begreifen.«

»Wie klug sie war, könntest du doch auch in einem kurzen präg-nanten Essay beschreiben.«

»Vielleicht. Aber das ist nicht das einzig Interessante an ihr. Alle, die sich in letzter Zeit mit ihr befaßten, scheinen überzeugt davon zu sein, daß sie etwas unternommen hat, um den Überzeugungen und Ansichten ihres Meisters etwas entgegenzusetzen. Das Memoir von Anne läßt vermuten, daß sie diese Schritte wahrscheinlich sogar schriftlich festgehalten hat. Aber selbst wenn nicht, selbst wenn sich 69

ihre Papiere als bloßes Gekritzel herausstellen – das verborgene Leben einer Frau ihrer Generation verdient es, näher betrachtet zu werden. Das ist meine Ansicht. Und angesichts Simons großzügigem Angebot verspüre ich in der Tat große Lust, mir dieses Leben genau anzusehen.«

»Ich wußte doch, daß du schon alles genau ausgetüftelt hast«, sagte Reed stolz, wie jemand, der auf ein völlig unbekanntes Pferd gesetzt und gewonnen hat. »Und wo willst du anfangen?«

»Ich werde«, sagte Kate so pompös, daß Reed grinsen mußte,

»mit einem Zitat von Luce Irigaray beginnen. Wappne dich! Jungfräulichkeit bedeutet, noch nicht von Männern gezeichnet zu sein, noch nicht von ihrer Sexualität, ihrer Sprache geprägt zu sein!«

»Ah«, sagte Reed. »Du hast also vor, zu beweisen, daß Gabrielle ihr ganzes Leben lang Jungfrau blieb. Und – bist du auch eine?«

»Verdammt, ich wußte, daß du das fragen würdest«, sagte Kate.

»Natürlich nicht. Kein Mitglied des Lehrkörpers einer englischen Fakultät kann noch Jungfrau sein. Jedenfalls noch nicht. Nächste Frage!«

Kate fand es logisch, ihre Arbeit mit einem Gespräch mit Mark Hansford zu beginnen, dessen Foxx-Biographie sie kürzlich gelesen hatte. Von Simon Pearlstine hatte Kate erfahren, daß Hansford erst Anfang Fünfzig war und die Biographie damals in der Hoffnung geschrieben hatte, damit seine bereits beachtliche Karriere zu krö-

nen. Wegen des Rufes, den ihm seine früheren Biographien eingebracht hatten, war ihm ein ansehnlicher Vorschuß plus Umsatzbetei-ligung zugestanden worden, aber (ganz unter uns, hatte Pearlstine gesagt) als es dann erschien, stellte sich sein Werk als ziemliche Enttäuschung heraus – für den Verlag wie für die Leser. Viel mehr wußte Kate über Hansford nicht.

Sie habe vor, eine Biographie über Gabrielle zu schreiben, informierte sie ihn höflich, und sie hoffe, auf seine Bereitschaft zu einem Gespräch rechnen zu dürfen. Ihres Danks für jegliche Hilfe dürfe er gewiß sein, und, nüchtern besehen, sei es ja nur in seinem Interesse, ihr zumindest ein wenig zu helfen, denn Zitate aus einer Biographie in einer anderen werteten die erwähnte Biographie natürlich in gewisser Weise auf.

Kate war daher ziemlich überrascht, als er einem Treffen eher abgeneigt schien; das wurde in seinem Brief deutlich, der sich durch Knappheit, um nicht zu sagen Schroffheit, auszeichnete. Dem Brief folgte ein Telefonanruf, in dem Hansford sich zunächst umständlich 70

auf seinen Brief berief, dann aber, wie seinen Worten zufolge seine Mutter zu sagen pflegte, die Karten offen auf den Tisch legte. »Um die Wahrheit zu sagen«, vertraute er ihrem Telefonhörer an, »meine Frau und ich hätten uns beinahe wegen Gabrielle getrennt. Wir haben uns wieder versöhnt, aber ausgemacht, daß das Thema Gabrielle in Zukunft für uns beide tabu ist. Wenn Sie unbedingt meine Hilfe möchten, rufen Sie mich in meinem Büro an. Vielleicht läßt sich das Ganze ja telefonisch erledigen, ansonsten verabreden wir ein Treffen. Tut mir leid, daß ich so vorsichtig bin, aber Ehe und Wissenschaft gehen entweder sehr gut zusammen oder sehr schlecht. Sie werden sicher erraten, wie der Fall bei mir liegt.«

Ziemlich erstaunt antwortete Kate, sie habe nicht die geringste Ahnung, wovon er spreche. Aber könnte man sich nicht kurz treffen, damit sie ihm ein paar Fragen stellen und ihr Vorhaben skizzieren könne? Es entstand eine Pause, während der Hansford offensichtlich seinen Terminkalender konsultierte.

»Ich könnte mich nächste Woche mit Ihnen treffen, Donnerstag abend«, sagte er. »Da geht meine Frau in eine Wagneroper mit Über-lange, was ich, nebenbei gesagt, für eine völlig überflüssige Kenn-zeichnung halte, denn für mich wäre jede Wagneroper überlang.

Würde Ihnen der Donnerstag passen?«

»Habe ich nicht irgendwo gehört, daß ›Rheingold‹ ein wenig kürzer ist?« fragte Kate. »Aber ich teile Ihr leidenschaftliches Desin-teresse an Wagner und kann mich also völlig irren. Donnerstag abend paßt wunderbar. Darf ich Sie zum Essen einladen?«

»Danke, aber nein danke. Ich esse mit meiner Frau zu Abend.

Dann werde ich kurz nach ihr das Haus verlassen und beten, daß ihr Wagner nicht gerade an dem Abend auf den Magen schlägt. Können wir uns gegen acht bei Ihnen treffen?« Kate, die sich vorkam, als arbeite sie für die CIA, war einverstanden.

Punkt acht stand er vor der Tür und setzte sich kurz darauf mit einem Drink und so weitentrücktem Blick auf die Couch, daß Kate sofort wußte: Er hatte sich nicht nur genau zurechtgelegt, wie er seine Geschichte erzählen wollte, sondern seinen Auftritt auch schon geprobt. Selbstzufriedenheit strahlte aus jeder seiner Poren – nach Kates langer Erfahrung mit männlichen Universitätskollegen kein neues Phänomen. Hansford gehörte zu der Sorte Männer, die fest davon überzeugt waren, jeder Satz von ihnen, und mochte er so drö-

ge und überlang sein wie eine Wagneroper, sei umwerfend fesselnd und von höchstem Interesse. Nun, gestand Kate ihm innerlich zu, in 71

diesem konkreten Fall stieß er wirklich auf interessierte Ohren.

»Ich habe mich ein wenig über Sie umgehört«, sagte Hansford.

»Natürlich kenne ich Ihre Arbeiten. Ich setze also voraus, ich kann mit Ihnen sprechen wie mit einer Frau von Welt. Denn ich fürchte, Sie brauchen einige Abgeklärtheit für meine Geschichte.«

Kate vermutete, daß sie wahrscheinlich eher einen starken Magen brauchte, bemühte sich aber, erfreut über ein so mannhaftes Kompliment zu erscheinen. Sie schob das Tablett mit Eis, Whisky und Pistazien in seine Reichweite und lehnte sich zurück, um ihm zu lauschen.

»Neunzehnhundertsiebenundsiebzig«, begann Hansford, als hielte er eine Vorlesung vor einem Saal voller Studenten, zumindest aber vor einer Gruppe faszinierter Bewunderer, »war das Foxx-Jahr. Das Interesse in den literarischen Kreisen schwappte über auf die populä-

re Presse. Emmanuel Foxx war fünfundzwanzig Jahre tot und sein Meisterwerk ›Ariadne‹ (erstaunlich, nicht wahr?) vor fünfzig Jahren erschienen. Runde Zahlen«, Hansford fiel jetzt in einen leicht he-rablassenden Ton, »vermitteln Menschen ein gewisses Sicherheitsge-fühl. Überall in England und von Toronto bis Texas wurden Seminare über Foxx’ Œuvre abgehalten.«

Kate nickte ermutigend. Sie hatte sich mit diesen Tagungen beschäftigt und wußte, daß deren Teilnehmer zu zwei Kategorien ge-hörten – so wie auch von Anfang an die Leser von ›Ariadne‹: Zum einen die männlichen Literaturwissenschaftler, die Foxx als Vertreter der klassischen Moderne in der Tradition von Pound, Eliot und Joyce betrachteten, und zum anderen Frauen, die in Foxx den Darsteller weiblichen Bewußtseins sahen. Dabei waren einige dieser Frauen der Ansicht, Foxx’ Darstellung beschränke sich auf die männliche Sicht weiblichen Bewußtseins, andere wiederum waren davon überzeugt, er habe die männliche Sicht überwunden und sei zu einer wahren Einsicht in die weibliche Seele und das weibliche Herz gelangt. Im ersten Lager gab es auch einige Frauen (im Lager der Männer gibt es immer Frauen), und es gab einige wenige Männer im Frauenlager (manchmal finden sich eben auch ein paar mutige Männer). Daß die Männer im Lager der Frauen mit größerem Mißtrauen aufgenommen wurden als die Frauen in dem der Männer, spiegelte lediglich ganz allgemein das Verhältnis zwischen Mächtigen und weniger Mächtigen wider. All das erwähnte Kate natürlich mit keinem Wort, sondern behielt lediglich ihren interessierten Blick bei.

»Während der ersten Dekaden nach dem Erscheinen von ›Ariad-72

ne‹«, hob Hansford wieder an, nachdem er sich eine Pause gegönnt hatte, um einen Schluck zu trinken und eine Handvoll Pistazienkerne zu kauen, »versuchten mehrere Literaturwissenschaftler, Emmanuels Frau, Gabrielle, zu interviewen. Sie schickte alle fort, sowohl in Paris wie auch später in London. Offenbar hatte sie ihre Vermieterin bestochen, niemanden vorzulassen. 1955 wurde sie krank, erlitt eine Herzattacke oder einen Gehirnschlag, irgend etwas in der Richtung.

Sie wurde in einem Pflegeheim untergebracht und war damit für niemanden mehr erreichbar. Es ging das Gerücht um, daß niemand –

weder ihre Enkelin noch die Familie, mit der sie durch Emiles Heirat verwandt war – ihr noch einen zusammenhängenden Satz entlocken konnte. Irgendein besessener und gewissenloser Literaturwissenschaftler ließ sich von journalistischen Praktiken inspirieren und verschaffte sich durch Bestechung Zugang zu dem Pflegeheim, um die Akten einzusehen – in der Hoffnung, zu erfahren, wer Gabrielle im Pflegeheim besucht hatte.«

Nun erhob sich Hansford und begann, im Zimmer auf und ab zu schreiten, so wie er es zweifellos auch im Hörsaal tat. Seine Körpersprache signalisierte die Gewißheit, daß er sein Publikum von seiner Geschichte gefesselt wußte, und mit seinem gewichtigen Auf- und Abschreiten schien er ihr noch mehr Dramatik verleihen zu wollen.

Kate, die bei ihren Vorlesungen nie auf und ab ging, beobachtete ihn mit ernsthafter, gespannter Miene.

»Von einigen Personen war natürlich bekannt, daß sie Gabrielle in dem Pflegeheim besucht hatten«, teilte Hansford Kate mit, deren Wenigkeit für einen ganzen Hörsaal voller Studenten herhalten muß-

te. »Aber sie hatte noch weitere Besucher: nämlich Anne Gringold –

eine Jugendfreundin von Nellie, Gabrielles Enkelin. Ferner besuchte sie noch irgendein Neffe. Dem Eindringling gelang es schließlich, mit beiden zu sprechen, aber er ging mit so wenigen Informationen wieder fort, daß er nicht einmal einen kleinen Zeitschriftenartikel daraus machen konnte. Selbst seiner abgestumpften Wahrnehmung war nicht entgangen, daß sowohl der Neffe wie auch die Freundin der Enkelin es meisterhaft verstanden, sich in Nebelwolken zu hüllen: Sie gaben sich hochkooperativ, sagten aber im Grunde gar nichts.«

Kate fragte sich, wie lange es wohl her war, seit Hansford eine so aufmerksame, bereitwillige und ermutigende Zuhörerschaft wie sie gehabt hatte. Wahrscheinlich ließen sich seine Studenten leicht von seinen Possen ablenken. Amüsiert beobachtete sie, wie Hansford zu 73

dem Tablett mit den Getränken zurückkehrte, sein Glas nachfüllte, seinen Diskurs aber nicht unterbrach.

»Vor fünf Jahren«, schwadronierte Hansford jetzt, »beauftragte mich ein großer Verlag, der den bevorstehenden Jahrestag von Foxx’

Tod vor Augen hatte, eine Biographie über den großen Schriftsteller zu schreiben – zu sehr guten Bedingungen, wie ich hinzufügen darf.

Es war natürlich nicht die erste Biographie, aber diese würde so umfassend sein, daß ihr zumindest zwei Dekaden lang keine andere den Rang streitig machen konnte. Ich weiß nicht, wieviel Sie über die Vorarbeiten für eine Biographie wissen«, fügte er wie nebenbei hinzu, »nun, falls Sie noch keine Vorstellungen haben, so werden Sie eins gewiß bald feststellen: Die für Forschungen und Niederschrei-ben nötige Zeit sprengt stets die optimistischen Terminvorstellungen des Verlages. In einem Wort: Die Hoffnung, meine Biographie könnte zum Jahrestag fertig sein, war sehr unrealistisch. Aber – Gott sei’s geklagt – die Verleger sind nicht mehr die Gentlemen, die sie einst waren. Kurz, um es gelinde auszudrücken, ich war in der Zwickmühle. Die Wahrheit ist, ich war unter entsetzlichem Druck, und zwar nicht nur Zeitdruck – auch meine Ehe geriet ins Wanken.

Ich weiß nicht, ob Sie Feministin sind«, fügte er düster hinzu, offensichtlich aufs Schlimmste gefaßt. Aber Kate ließ die Gelegenheit ungenutzt verstreichen, denn schließlich wollte sie Informationen und weiter nichts. Hansford gab sich mit ihrem ermutigenden Lä-

cheln zufrieden. »Ich will nicht behaupten, daß meine Frau Feministin ist, aber zu der Zeit las sie eindeutig zuviel feministische Litera-turkritik. Jedenfalls, ihre Interpretation meines Materials, das sie mir tippen half – damals hatte noch nicht alle Welt einen Computer –, vor allem ihre Theorien über Foxx’ Meisterwerk ›Ariadne‹, brachten unsere Beziehung an den Rand des Scheiterns.«

Kate hatte keine Schwierigkeit, diese letzte Bemerkung zu interpretieren. Sosehr er auch versuchte, die Ideen seiner Frau ihrer Ehe-krise und ihrer Vergiftung durch den Feminismus anzulasten, so hatte sie doch seinen Glauben an seine eigene Größe ordentlich ins Wanken gebracht.

»Sie dürfen nicht glauben«, sagte Hansford, »ich hätte nicht die größten Anstrengungen unternommen, all die Menschen aufzuspü-

ren, die Emmanuel in seiner Jugend und während seiner Jahre in Paris und den anderen europäischen Städten gekannt haben.« Kate hatte genug gelesen, um die vielen Punkte auf der Landkarte Europas zu kennen, wo die Foxx’ sich mit großen Hoffnungen niedergelassen 74

hatten, von wo sie aber bald wieder weitergezogen waren. Seßhaft wurden sie erst in Paris. Und auch dort hatten sie mit einer selbst für die damalige Zeit erstaunlichen Häufigkeit eine Wohnung gegen die nächste getauscht. Kate wußte, daß Hansford all jene Menschen aufgesucht hatte. In der Tat hatte er beinahe fünf Jahre allein darauf verwandt, mit den Leuten zu sprechen, die Foxx als Knabe gekannt hatten, während seiner Schulzeit und seiner Studienjahre in Cam-bridge – ehe er dort von der Universität verwiesen wurde – und während der Zeitspanne in England, ehe er heiratete.

»Natürlich«, sagte Hansford und ließ sich mit einer Geste auf die Couch sinken, die Kate die Bedeutung des nun folgenden signalisieren sollte, »sprach ich mit den Goddards. Und natürlich auch mit Dorinda.« Hier machte er eine Pause, um seinen Drink und, so wirkte es auf Kate, auch seine Nerven aufzumöbeln. Denn nun schien, wie sie zu vermuten begann, die Krux des Ganzen erreicht zu sein.

Sie erinnerte sich sehr wohl, daß Dorindas Fotos das Herzstück der Biographie waren, die Hansford schließlich fabriziert hatte.

»Ich war recht überrascht«, Hansford schien sich nun endgültig auf heikles Terrain vorzuwagen, »aber Dorinda gab mir die Zeit für unsere langen Gespräche keineswegs widerwillig. Sie zeigte mir die Fotos, die sie von Hilda, Emile und Nellie gemacht hatte. Nellie war auf den meisten Fotos zusammen mit Anne Gringold zu sehen, was mich in meinem Gefühl bestärkte, Anne Gringold sei sehr wichtig, und was gleichzeitig meinen Ärger darüber verstärkte, daß sie sich geweigert hatte, mit mir zusammenzuarbeiten.«

Kate konnte sich Hansfords Frustration vorstellen. Auch wenn er seine Interpretation des Foxxschen Œuvres für die einzig maßgeben-de hielt und sich alle Ansätze der modernen Literaturwissenschaft –

den feministischen, dekonstruktivistischen und was es sonst noch gab – zunutze gemacht hatte, hegte er tiefe Zweifel, ob seine so gründlich recherchierte und so sorgfältig ausgearbeitete Biographie von Emmanuel Foxx nicht doch bloß ein alter Hut sei, oder noch schlimmer: ein kolossaler Langweiler.

»Das war Anfang 1977«, fuhr Hansford fort. »Ich finde den Weihnachts- und Neujahrsrummel deprimierend und hochgradig irritierend, womit ich gewiß nicht allein dastehe. Um genau die Zeit nun wurde mein Verleger immer verständnisloser für die Verzögerungen. Die Verkettung von Feiertagen und die Ungeduld meines Verlegers katapultierten mich in einen heftigen Streit mit Judith, meiner Frau.« Auch dies fiel Kate nicht schwer zu interpretieren: 75

Judith hatte ihm an den Kopf geschleudert, sie habe die Nase voll davon, seine Gehilfin zu sein; sie wolle als Co-Autorin genannt werden, das sei das mindeste, was ihr zustehe. Und davon ganz abgesehen, finde sie seine Biographie langweilig, dumm und, gelinde gesagt, wenig inspirierend.

Eines ahnte Kate allerdings nicht, nämlich, daß Judith eine Bombe hatte platzen lassen. »Sie werden nie erraten, was meine Frau sagte«, fuhr Hansford fort, unbewußt Kates Gedankengang aufneh-mend und inzwischen sowohl seine eigene wie Judiths Rolle schau-spielernd. »Judith hatte mir gerade verkündet, sie wolle eine möglichst lange, wahrscheinlich jedoch endgültige Trennung; kurz darauf stürmte sie wutentbrannt aus dem Schlafzimmer. Aber vorher blieb sie noch reglos in der Tür stehen« – Hansford mimte jetzt Judiths Pose als Statue –, »erstaunlich nach ihren wilden Anklagen, nicht wahr? – und verkündete, Emmanuel Foxx habe ›Ariadne‹ überhaupt nicht geschrieben, zumindest nicht den ganzen Roman. ›Jede Frau könnte dir das sagen‹, so ihre Worte, ›aber Foxx war und ist eine solche Männerdomäne, genau wie Lawrence, Joyce und Pound, daß sich nie jemand die Mühe gemacht hat, seine Schreibweise wirklich zu analysieren‹.

›Viele Frauen haben seine Schreibweise analysiert‹, schoß ich zu-rück, wie Sie sich wohl vorstellen können.« In der Tat, das konnte Kate. »›Frauen‹, sagte ich, ›schwanken immer, ob sie Foxx als männliches Chauvinistenschwein verdammen sollen oder ihn in den Himmel loben, weil er bemerkenswerte Einsicht in die weibliche Psyche vermittelt. Aber gleichwie, niemand bestreitet, daß die Hauptfigur eine Frau ist und diese Tatsache sein Buch so bemerkenswert macht.‹

›All diese Leute bleiben auf halbem Weg stehen‹, beharrte meine Frau und meinte, nachdem sie so viel Zeit mit ›Ariadne‹ und den anderen Foxxschen Werken verbracht habe, glaube sie allmählich, Gabrielle habe den ganzen Roman verfaßt. Für sie sei es völlig klar, daß Foxx seine Frau nicht nur beobachtet, befragt und imitiert habe –

seine ganze Arbeit sei schlicht und einfach geklaut, und wenn nicht von seiner eigenen Frau, dann von einer anderen. An diesem Punkt explodierte Judith förmlich, wie Sie sich vorstellen können. Ich wies daraufhin, daß es nicht den geringsten Beweis für solch wilde Spekulationen gebe, aber sie ließ nicht locker: Und wenn es solche gäbe, würde ich sie ignorieren und als lächerliche Beweise von der Sorte abtun, die harmlose Idioten zu der Behauptung veranlassen, De Vere 76

habe Shakespeare geschrieben und Shelley statt seiner Frau ›Fran-kenstein‹.« Hansford, der sich inzwischen in Rage geredet hatte, sank plötzlich wieder auf die Couch und hielt sein Glas in der Hand, als habe er sich die ganze Zeit nicht gerührt.

Kate murmelte, sie glaube ihm ohne weiteres, daß seine Frau in Rage geraten sei.

»Ich hoffte bloß, daß sie nicht als nächstes behauptete, eine Freundin von Richardson habe ›Clarissa‹ geschrieben, denn das hätte geheißen, Judith wäre völlig verrückt geworden. Ich wies sie ruhig darauf hin, daß die Beispiele aus der Literatur mir recht gäben. Sie werden es nicht für möglich halten, aber sie behauptete, so abwegig sei der Gedanke gar nicht, daß ›Clarissa‹ von einer Frau geschrieben worden sei. Sie schrie herum, auch Lawrence habe in ›Söhne und Liebhaber‹ und seinen anderen Büchern die Worte von Frauen gestohlen, und in ›Das wüste Land‹ habe T. S. Eliot die genauen Worte und Ausdrücke seiner Frau übernommen. Unzählige Professoren-frauen schrieben die Bücher ihrer Männer, und zum Schluß würden sie höchstens mit zwei Worten in der Danksagung erwähnt – wahrscheinlich genau ein Jahr, ehe ihre Göttergatten sich dann scheiden ließen und mit irgendeiner Studentin fortliefen.« Hansford, der merkte, daß die Gäule mit ihm durchgingen, verstummte und füllte sein Glas nach.

Kate amüsierte sich bei der Vorstellung, wie Hansford zu der verspäteten und unerfreulichen Einsicht kam, daß seine Frau dadurch, daß sie ihm bei seinen Büchern »half«, eine Menge über moderne Literatur gelernt hatte. Der Gedanke mußte ihn zugleich geärgert und geängstigt haben.

»Ich will keinen Hehl daraus machen«, nahm Hansford seinen Faden wieder auf, »aber ich habe mich allen Ernstes gefragt, ob sie nicht irgendwann behaupten würde, sie hätte meine Foxx-Biographie geschrieben.«

Kate, die allmählich den Rhythmus des Hansfordschen Ehe-geplänkels erkannte, wobei ihr ihre umfangreiche Kenntnis moderner Akademikerehen zu Hilfe kam, konnte sich Judiths Antwort vorstellen: Sie habe nicht das geringste Interesse daran, als Autorin einer solch langweiligen Biographie zu gelten. Aber Hansford sprach das nicht aus. Er gab lediglich zu, Judith sei der Ansicht gewesen, daß alles Wissenswerte über Foxx’ sexuelle Beutezüge bereits in den früheren Biographien stehe. Davon aber ganz abgesehen, sei sexuelle Freibeuterei nicht mehr so aufsehenerregend und skandalös wie 77

früher, auch wenn es sich natürlich nach wie vor um Ausbeutung handele.

»Um die Wahrheit zu sagen«, vertraute Hansford sich jetzt Kate an, »ich hoffte, sie würde sich an ihrem Lieblingsthema, der sexuellen Ausbeutung, festbeißen, denn das würde sie eine Weile beschäftigen.« Und, fügte Kate im stillen hinzu, sie von anderen, heikleren Themen ablenken, dem zum Beispiel, wie enttäuschend seine letzte Biographie war oder wieviel seiner drei früheren Biographien sie geschrieben hatte. Aber Judith enttäuschte ihn, so, wie sie immer häufiger in letzter Zeit seine Erwartungen enttäuschte. »Aus heite-rem Himmel erzählte sie mir dann, sie spiele mit dem Gedanken, selbst ein Buch über meinen großartigen Emmanuel Foxx zu schreiben. Sie sagte noch, das solle ich mir in meine Pfeife stopfen und rauchen! Dann stürmte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.«

Hansford stand von der Couch auf und setzte sich in einen Sessel neben Kate. Seine Haltung hatte sich verändert, war entspannter, fast kumpelhaft. Kate wappnete sich: Als nächstes folgte bestimmt ein ausführlicher Bericht irgendwelcher sexueller Tollkühnheiten.

»Natürlich«, sagte Hansford, »trug der Streit mit Judith nicht gerade dazu bei, mein Selbstvertrauen zu stärken, aber wenigstens brachte er mich auf eine Idee oder war zumindest der Ansporn, eine Idee weiterzuverfolgen, die mir schon vorher gekommen war. Dorinda erschien mir plötzlich wie ein Hoffnungsstrahl. Ich fragte mich, ob ich nicht doch zu ungeduldig mit ihr gewesen war – mit ihren extrem ausführlichen Beschreibungen, unter welchen Umständen und wo jedes einzelne Foto entstanden war. Wenn man es sich genau überlegte, war sie schließlich eine zentrale Figur in der Foxxschen Familiensaga: die Kusine und Freundin Nellies, die Nichte Hildas, das vergötterte einzige Kind der Goddards. In ihren zugege-benermaßen nicht gerade fesselnden Anekdoten waren vielleicht doch Hinweise enthalten, die mir entgangen waren. Meine Frau hat mir schon immer vorgeworfen, ich würde Frauen und dem, was sie zu sagen hätten, zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Einmal gab sie mir eine Geschichte von Susan Glaspell, ›A Jury of Her Peers‹, zu lesen, die ich, offengestanden, ärgerlich fand, obwohl ich sie natürlich lobte. Meiner Meinung nach hatte Glaspell die Geschichte künstlich konstruiert, um ihre Thesen zu veranschaulichen: daß Männer Idioten sind und nur das sehen, was sie sehen wollen.« Als ob Männer keine Geschichten konstruierten, um ihre Anschauungen 78

an den Mann zu bringen, dachte Kate, unternahm aber nichts, Hansfords inzwischen sturzbachartigen Redefluß zu unterbrechen.

»Vielleicht, so dachte ich plötzlich«, sprach Hansford weiter,

»hätte ich mir den Frauenstandpunkt doch mehr zu Herzen nehmen sollen. Vielleicht gab es in Dorindas weitschweifigen Erzählungen doch noch einiges, was aufschlußreich war. Jedenfalls schien es mir einen Versuch wert. Schließlich hatte sie mir bei unseren bisherigen Gesprächen nie das Gefühl gegeben, meine Gegenwart sei ihr unangenehm. Im Gegenteil, sie forderte mich auf wiederzukommen.« Er grinste Kate auf eine Wir-Jungs-verstehn-schon-wovon-die-Rede-ist-Art an. Es passierte Kate nicht zum erstenmal, daß männliche Kollegen ihr die vertraulichsten Geständnisse machten und Kate sich plötzlich in einen Kumpel verwandelt fühlte. Hansfords nächsten Gedanken zu erraten, fiel ihr daher nicht schwer: Dorinda war nicht der Frauentyp, der ihn anzog – sie war älter als er-, aber die Aufmerksamkeit eines Mannes, noch dazu eines Professors und Autors, würde sie, da war er ganz zuversichtlich, nicht zurückweisen. Und auf irgendeine subtile Weise, die er lieber nicht analysierte, würde er damit Judith eins auswischen.

»Nun«, fuhr er in seliger Unkenntnis von Kates Gedanken fort,

»zu meiner Überraschung lud Dorinda mich zum Lunch ein, in ein Restaurant in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Mir war offengestanden bis dahin nicht klar gewesen, daß sie überhaupt arbeitete. Irgendwie hatte ich mir unsere Begegnung in ihrem Salon vorgestellt: Sie nötigt mich zum Tee, vielleicht auch einem Drink oder irgend etwas Vor-nehmem zum Essen, wie Brunnenkresse-Sandwiches zum Beispiel.

Ist es nicht eigenartig, wie wir alle Menschen gleich in Schubladen stecken, ehe wir das geringste von ihnen wissen?« Diese Weisheit bot er dar, als sei sie der größte Durchbruch in der menschlichen Erkenntnisgeschichte. Nun, mahnte sich Kate zur Nachsicht, er will mir erzählen, wie er Dorinda verführte und weiß nicht recht, wie er es anfangen soll. Vielleicht noch einen Drink? Das hilft immer.

Kate nippte an ihrem Mineralwasser. Sie trank gerne, aber nur in der richtigen Gesellschaft und zu den für ihre Begriffe richtigen Zeiten. Da ihr Begriff von richtigen Zeiten sich aber kraß von dem der meisten anderen Menschen unterschied, wurden ihre Trinkge-wohnheiten, das Gefühl hatte sie oft, leicht falsch interpretiert. Hansford, der vor sich hin trank, setzte seine Geschichte fort, die er aus hingeworfenen Fakten, versteckten Anspielungen und leicht verschämtem Eigenlob zusammenstrickte. Reed gegenüber füllte Kate 79

später die Lücken in seiner Geschichte aus.

»Wenn du mich fragst«, sagte sie zu ihm, als sie ihren Feier-abend-Drink genossen, »brachte es ihn bloß deshalb aus der Fassung, daß Dorinda sich in einem Restaurant mit ihm treffen wollte, weil er fürchtete, ihm würde die Rechnung präsentiert. So knickrig ist er!

Wie sich herausstellte, hatte sie sich für eins der italienischen Restaurants auf der West Side entschieden, wo es exzellentes Essen gibt, die kleinen Tische dicht an dicht stehen und der Service inso-fern typisch italienisch ist, als die Kellner sich lieber miteinander und mit dem Barmann unterhalten, als sich um die Gäste zu kümmern. Hansford fürchtete, das Getriebe dort ließe keine Vertraulich-keit aufkommen, aber sie blieben, bis das Restaurant fast leer war.

Du erinnerst dich doch, Reed: Wir wurden einmal von Kollegen von dir in ein ähnliches Restaurant eingeladen. Die Leute standen Schlange, um hereinzukommen, das Essen war sehr gut und die Bedienung erbärmlich.«

Reed erinnerte sich und bemerkte, schlecht serviertes Essen, noch dazu in einer Atmosphäre, wo kein entspanntes Gespräch entstehen konnte, sei kaum der Mühe wert. Aber ihnen beiden lag schließlich weniger an Gourmet-Kost als an guten Gesprächen, und Feinschme-cker und Redner gehören vielleicht verschiedenen Gattungen an.

Wie dem auch sei, Hansford wollte reden, oder nicht?

»Ja. Und ich nehme an, das tat er auch. Sie landeten bei einer Flasche Wein, zu der er Dorinda hatte überreden müssen, denn sie trank normalerweise mittags keinen Alkohol. Wie er mir gestand, scheute er sich nicht, ihr mit dem Spruch Wein löst die Zunge zu kommen. In dem Moment war ihm, wie er reuig berichtete, allerdings gar nicht bewußt, daß er damit die Worte einer Dichterin zitierte, die Judith bewunderte und über die er sich, als sie sie ihm vorlas, abschätzig geäußert hatte. Dorindas Reaktion, so versicherte er mir nachdrücklich, war ganz so, wie er gehofft hatte.

Hansford hatte das Gefühl, sie für sich und seine Pläne gewonnen zu haben. Außerdem hatte er nicht vergessen, daß sie aus einem sehr reichen Hause stammte und sich möglicherweise verpflichtet fühlte, das Ganze zu bezahlen.

Die Neureichen, klärte er mich auf, lebten ständig in der Angst, andere würden von ihnen erwarten, für sie zu bezahlen, und bestünden deshalb stets darauf, die Rechnung zu teilen, aber die von jeher Reichen seien oft großzügig, besonders in der Gesellschaft von Akademikern. Die Entdeckung, daß Dorinda ihn offensichtlich bezau-80

bernd fand, beruhigte ihn sehr.

Er mußte sich gar nicht erst bemühen, das Gespräch auf die Foxx’ zu bringen. Dorinda ging selbstverständlich davon aus, daß er ihretwegen mit ihr sprechen wollte, und fing an, über Emile, Nellie und Gabrielle draufloszuschwatzen (sein Ausdruck). Sie erinnerte ihn auch daran, daß sie Emmanuel nie begegnet war.«

Kate unterbrach ihren Bericht. »Es ist erstaunlich«, sagte sie, »aber trotz seines schrecklichen Gefasels hat er mir doch ein Bild von Dorinda vermittelt. Oh, für die Biographie bringt mich das wahrscheinlich nicht weiter, aber seine Beschreibungen von ihr waren das einzige in seinem Redeschwall, das ich nicht selbst an seiner Stelle hätte sagen können. Sie gehöre zu der Sorte Menschen, die bedächtig und in großen Abständen an ihrem Wein nippen, eine Angewohnheit, die er verabscheue. Und, wie um seine schrecklichsten Befürchtungen zu erfüllen, habe sie dann mit ihrem Brot herumgespielt, das Weiche in der Mitte herausgepult und zu schmuddeligen kleinen Kügelchen geformt. Am liebsten hätte er ihr den Brotkorb wegge-nommen. Um seiner Irritation Herr zu werden, machte er ihr ein Kompliment wegen ihrer Fingernägel, die seine Augen anzogen, so, wie angeblich das Kaninchen von der Schlange hypnotisiert wird.

Offenbar freute sie sich über das Kompliment und erzählte ihm mit gewissem Stolz, sie habe schon immer zehn Halbmonde gehabt.«

»Weißt du, Reed«, rief Kate aus. »Seit meiner frühesten Jugend habe ich niemanden mehr über die Halbmonde an seinen Fingernä-

geln reden hören. Dabei hat meine Mutter mich gelehrt, stolz auf meine zehn Halbmonde zu sein. Andere – meinte ich in meiner schrecklichen jugendlichen Arroganz, die meine Mutter mit allen Mitteln zu schüren versuchte – mußten ihre Nagelhaut zurückschie-ben, damit die Halbmonde sichtbar wurden – falls sie überhaupt welche hatten.«

»Willst du mir berichten, wie das Essen der beiden deiner Meinung nach verlief – schon gut, schon gut, wie es wirklich verlief-, oder willst du eine Kulturgeschichte der Fingernägel entwickeln?«

»Langweile ich dich?« fragte Kate.

»Nein, du nicht. Aber Hansford und Dorinda werden mich gleich langweilen. Kam etwas dabei heraus, das für dein biographisches Vorhaben von Nutzen ist?«

»Sie sprachen über Emile, den Dorinda offenbar nie kennengelernt hat. Nachdem er ihre Tante geheiratet hatte, kamen die beiden mehrere Sommer lang an die Küste von New Jersey. Für Dorindas 81

Vater war seine geliebte Schwester natürlich für jeden Mann zu gut, und der Großvater, der alte Lüstling, der es darauf anlegte, kleine Mädchen zu verführen, wollte unbedingt den Mann sehen, den seine vergötterte Tochter geheiratet hatte. Deshalb kam Hilda mit Emile angereist. Ich glaube, die Familie hielt Emile für einen ziemlichen Waschlappen, wie man in Dorindas Jugend zu sagen pflegte. Emile schien die meiste Zeit krank, ungeduldig und gelangweilt gewesen zu sein. Dorindas Daddy meinte, das käme vom Nichtstun; der Sohn eines berühmten Schriftstellers zu sein, sei schließlich keine Lebens-aufgabe. Nicht einmal für seine Tochter Nellie schien Emile sich sonderlich zu interessieren. Wenn Hilda und er in die Staaten reisten, ließen sie das Kind in Paris bei ihrer Großmutter. Dorinda war noch sehr klein damals, erinnerte sich aber sehr genau, wie darüber gesprochen wurde. Sie wußte, daß Nellie gleichaltrig war, und Dorinda, das geliebte, einzige Kind, konnte sich nicht vorstellen, daß jemand, der ein Kind ihres Alters hatte, den Ozean überquerte, ohne es mitzunehmen. Da ihre Mutter es haßte, sie allein zu lassen, dachte Dorinda, Nellies Mutter müsse genauso empfinden, aber das war nicht der Fall.«

Kate lächelte Reed an. »Tatsache ist, daß Hansford so viele Details der Familiengeschichte der Foxx’ kannte, daß er sofort verstand, wovon Dorinda sprach. Aber ob sie dem aus der Fassung gebrachten Biographen irgend etwas Nützliches mitzuteilen hatte, blieb unklar.

Er fragte, ob sie je Gabrielle begegnet sei, obwohl er ziemlich sicher war, daß das nicht der Fall war. Und natürlich«, fügte Kate hinzu,

»in dem Moment, wo er über Gabrielle zu sprechen begann, richtete ich meine Antennen auf und merkte mir alles, was er sagte – nun, mehr oder weniger alles.«

»Und das war?«

» ›Nein‹, sagte Dorinda zu ihm. ›Sie kam nicht zu meiner Hochzeit, obwohl meine Familie alles daransetzte, sie zu überreden. Meine Mutter fuhr nach London, um sie im Pflegeheim zu besuchen, aber da war sie schon völlig verwirrt. Sie tat mir leid. Irgendwie hatte ich immer ein Faible für Gabrielle.‹

›Faible?‹ fragte Hansford.

›Ja‹, sagte Dorinda. ›Ihre Geschichte hat mich immer fasziniert, und sie hätte mich noch mehr fasziniert, wenn ich mehr Einzelheiten gewußt hätte. Schließlich brannte sie mit Emmanuel durch, als sie noch blutjung war. Und was für ein Leben hat sie dann führen müssen! Immer in einer fremden Stadt, ohne Familie, wahrscheinlich 82

ohne Freunde. Dann verlor sie den Sohn und mußte auf ihre Enkelin verzichten. Sie soll so schön gewesen sein, das typische schöne englische Mädchen.‹

An dieser Stelle machte Hansford einen Witz, auf den er so stolz war, daß er ihn mir wiederholte: ›Bei den Mädchen mit rosigen Wangen muß man um ihre Tugend bangen.‹ Die Sorte Plattheit, die haargenau zu ihm paßt«, fügte Kate hinzu. »Reicht es dir inzwischen?«

»Sagte Dorinda noch etwas?«

»Ja. Sie sagte, als junger Mann müsse Foxx unwiderstehlich gewesen sein, einer jener gutaussehenden Männer, die den Teufel im Leib haben und alle Regeln und Zwänge des langweiligen bourgeoi-sen Lebens durchbrechen.«

»Ich nehme an, das faßte Hansford als die Ermunterung auf, als die es eindeutig gemeint war«, sagte Reed.

»Ihr Männer seid doch alle gleich«, brummte Kate.

»Wir alle haben Gehirne, die funktionieren, falls du das meinst«, antwortete Reed. »Jedenfalls die meisten von uns.«

»Ja, du hast recht. Ich nehme an, die Semiotik der Sexualität ist recht klar umrissen.«

»Fahr fort mit der verflixten Entführungsgeschichte und verschon mich mit deinen linguistischen Theorien.«

Kate lachte. »Hansford entgegnete, solch unwiderstehliche Ty-pen, wie sie sie beschreibe, bereiteten kurze Wonne und lebenslan-ges Leid. Er wollte wissen, ob Gabrielle ihrer Meinung nach gelitten habe.

›Natürlich litt sie‹, sagte Dorinda. ›Aber immerhin hatte sie Anteil an etwas Bedeutendem, etwas, das wichtig war.‹ «

Reed seufzte. Kate ignorierte ihn. »Hansford fragte, ob sie einen Roman, und sei er auch noch so gefeiert, für so wichtig halte. Eine seltsame Frage für einen Literaturprofessor, aber er war ja jetzt auf Freiersfüßen, und sein Berufsethos scherte ihn nicht mehr. Überflüssig zu sagen, wie dumm das von ihm war, denn hätte der Idiot sich an seine Aufgabe gehalten, hätte er vielleicht mehr über Gabrielle erfahren.«

»Und was sagte Dorinda? Ich kann es mir schon denken.«

»Wie du zweifellos errätst, meinte sie, Kunst sei wichtiger als alles andere. Ein Kunstwerk zu erschaffen oder jemandem beim Schöpfungsprozeß zu helfen, sei eine großartige Bestimmung. Hansford ließ die Bemerkung fallen, daß sie ja keinen Künstler geheiratet 83

habe. Ich nehme an, Dorinda spielte weiter mit dem Brot herum, formte noch mehr kleine schmutzige Kugeln, bis Hansford vor Qual fast aufschrie. Er sagte, das Schlimmste sei gewesen, daß er einfach nicht wegsehen konnte.«

»Er konnte also seinen Blick nicht wenden, und sie landeten im Bett. In seiner Wohnung?«

»So nehme ich an. Dorindas Mann kam wohl gelegentlich von der Arbeit nach Hause, um sich am häuslichen Quell zu laben. Also wollte sie es dort nicht riskieren.«

»Das Ganze klingt allmählich sehr nach ›Les Liaisons Dangéreuses‹; war es wenigstens für beide Teile erfreulich?«

»Um Hansford Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Über diese Details hat er sich nicht ausgelassen. Aber er hatte wohl den Eindruck, Dorinda betrachtete den Sex als Lohn für ihre Bereitschaft, mit ihm zu sprechen. Sie schien es ziemlich eilig zu haben.«

»Für mich klingt das nicht nach einer besonders vielversprechen-den Person«, sagte Reed.

»Ich bin mir nicht so sicher. Das alles liegt mehrere Jahre zurück.

Vielleicht war es ihr erster Schritt aus der Enge ihres Lebens. Dorinda ist etwa zwanzig Jahre älter als ich, trotzdem – wir sind in der gleichen konventionellen Welt aufgewachsen. Ich glaube, ich verstehe sie, kann nachempfinden, was sie fühlte. Und mein nächster Schritt wird sein, mit ihr zu sprechen.«

»Ich nehme an, sie trafen sich wieder, und er bekam die Fotos.

Wirst du Hansford ihr gegenüber erwähnen?«

»Nur, wenn sie ihn erwähnt«, sagte Kate. »Mit ein bißchen Glück bleibt es mir erspart, ihn noch einmal zu sehen. Jedenfalls braucht man nicht viel Phantasie, um sich den Rest der Geschichte auszumalen: Seine Liaison mit Dorinda brachte Hansford die exzellenten Fotos für sein Buch ein, seiner Ehe tat sie aber wohl alles andere als gut, und Judith gab ihr Gabrielle-Projekt nur um den Preis einer Versöhnung auf. Mark Hansford, so kann man schließen, gab wohl seinerseits Dorinda auf: Die Jubiläumsausgabe zum zehnten Jahrestag der Erstveröffentlichung ist seiner Frau gewidmet.«

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