Die Geschichte des Ökolandbaus

Eine Idee breitet sich aus

An der stählernen Eisenbahn

»Die Menschen haben sich zu Werkzeugen ihrer Werkzeuge gemacht. Sie haben sich ihre eigenen silbernen oder goldenen Fesseln geschmiedet.« Im neunzehnten Jahrhundert hatte es ein amerikanischer Lehrer und Philosoph satt. Er packte seine Sachen und baute sich eine Hütte im Wald an einem See – am Waldensee in Massachusetts. Er bezog sein neues Zuhause und legte einen Hausgarten auf einer Waldlichtung an, wo er Bohnen, Beeren und Gemüsepflanzen kultivierte, um sich von deren Früchten selbst zu versorgen: »Meine Bohnen, deren Reihen zusammengerechnet eine Strecke von sieben Meilen ergeben hätten, warteten ungeduldig darauf, umgestochen zu werden, denn die ersten waren schon beträchtlich in die Höhe geschossen, noch ehe die letzten in der Erde lagen.« Über seine Erlebnisse schrieb er ein Buch, das noch heute gelesen wird. Es ging in die Weltliteratur ein und trägt den Titel: »Walden – Ein Leben mit der Natur«. Henry David Thoreau (1817–1862) zählt zu den bedeutendsten Philosophen und Schriftstellern der Geschichte.

Sein Wirken und Denken stand im krassen Gegensatz zu der, im neunzehnten Jahrhundert vorherrschenden, Vorstellung einer dem Menschen untergeordneten Natur. Thoreaus Weltsicht war durch seine Kontakte zu nordamerikanischen Ureinwohnern mitgeprägt worden. Er war von tiefem Respekt vor der Natur und ihren lebendigen Bewohnern – den Tieren und Pflanzen – erfüllt und stand der Industrialisierung im neunzehnten Jahrhundert entschieden entgegen. Thoreau wird von vielen Kulturwissenschaftlern als Begründer der ökologischen Philosophie in Amerika gesehen. Als Lehrer wandte er sich gegen die damals als notwendig geltende Prügelstrafe und weigerte sich, sie seinen Schülerinnen und Schülern gegenüber anzuwenden. Es kam zu einem vorprogrammierten Konflikt mit der Schulleitung. Thoreau hing seinen Lehrerberuf desillusioniert an den Nagel und schloss sich der Sklavenbefreiungsbewegung an. Von nun an verweigerte er dem Staat die verpflichtenden steuerlichen Abgaben, da er mit seinem Steuergeld nicht länger die Praktiken der Regierung, allen voran Sklaverei und Krieg, mitfinanzieren wollte. Später sollte ihm diese Entscheidung noch einen Monat im Gefängnis einbringen. Er schrieb: »Das meiste von dem, was meine Mitmenschen für gut halten, halte ich im Grunde meines Herzens für schlecht.«

Henry David Thoreaus philosophisches Wirken fällt in eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Er lebte während der zweiten Phase der Industrialisierung Amerikas, deren Phase eins bereits am Ende des achtzehnten Jahrhunderts begonnen hatte. Auf Basis von Wasserkraft und Dampfmaschinen waren zahlreiche Arbeitsschritte erleichtert worden. Die Mechanisierung hatte zunächst in der Baumwoll- und Eisenindustrie stattgefunden. In weiterer Folge waren Flüsse ausgebaut, Kanäle errichten und Wagenstraßen für den Gütertransport angelegt worden. Die Kohledampfmaschine hatte an Bedeutung gewonnen. Henry David Thoreau erlebte das rasante Wachstum der Stahlindustrie. Der industrielle Schiffsverkehr wurde zunehmend internationaler und im ganzen Land wurden Eisenbahnstrecken gebaut. Letztere, die Eisenbahn, taucht in Thoreaus industriekritischen Schriften immer wieder auf. Er sah in den Zwängen des industriellen Wachstums eine Ablenkung von den eigentlich wichtigen Dingen im Leben. Er warnte vor dem Verlust von Naturschätzen, wies auf die empfindlichen Gleichgewichte natürlicher Lebensräume hin und war überzeugt davon, die Sinnlosigkeit industrieller Expansion erkannt zu haben, die – wie er meinte – nur den Drang nach Reichtum einzelner Geschäftsmänner stillte. Schon im neunzehnten Jahrhundert waren Großindustrielle politisch sehr einflussreich und konnten ihre Interessen auch auf dem Rücken der Bürger oder ganzer Völker – man denke an die nordamerikanischen Ureinwohner – durchsetzen. Der Historiker Dr. Jürgen Mirow schreibt in seinem weltgeschichtlichen Lehrbuch über das neunzehnte Jahrhundert Folgendes49:

»Die schwarzen Rauchwolken über den Schornsteinen wurden zum Markenzeichen der neuen Industriegebiete. Über den Ballungsgebieten bildeten sich mehrere hundert Meter hohe Dunstglocken, was die Nebelbildung förderte, und die Wälder der Umgebung erlitten deutliche Rauchschäden. In den durch Abwässer verfärbten und stinkenden Flüssen machten sich die Fische rar. Die Bahndämme durchschnitten die Landschaft. Doch selten wurden Produktionen verboten. Fischerei und Forstwirtschaft waren politisch einflusslos.«

Die Kulturgeografin Sally A. Marston von der University of Arizona und der Humangeograf Paul L. Knox an der Virginia Tech State University schreiben über Henry David Thoreau: »Es gibt gute Gründe dafür, Thoreaus Sicht der Natur als eine Reaktion auf die Einflüsse einer frühen Form von Globalisierung zu betrachten.«50

Die lange Tradition des Ökolandbaus

Henry David Thoreau zeigte sich aber auch angesichts der beginnenden Industrialisierung der Landwirtschaft besorgt: »Und sind wir sicher«, so fragte er, »dass des einen Nutzen nicht des anderen Schaden bedeutet und des Stallburschen Bedürfnisse ebenso wie die seines Herren befriedigt werden?« An einer anderen Stelle gibt der Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts zu bedenken: »Es ist mehr als gerecht, auch einmal auf die Klasse von Menschen zu sehen, durch deren Arbeit die [industriellen] Werke entstehen, welche unsere Epoche so hervorheben.« Als ich diese Worte von Henry David Thoreau las, musste ich unweigerlich an die Erntehelferinnen und Erntehelfer und die Arbeiter an den Todeskarussellen der Bio-Industrie denken – an die Akkordarbeit, die sie zu leisten haben. Und ich dachte an das finanzielle Vermögen, das sie erzeugen und von dem sie doch nur eine so winzige Scheibe in Form ihres niedrigen Stundenlohns abbekommen. Manche Aussagen von Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts können noch heute unverändert ausgesprochen werden, ohne an Aktualität verloren zu haben.

Der Beginn der Ökolandbaubewegung wird meistens in den 1920er-Jahren angesetzt. Wie schon für Henry David Thoreau, so war auch für die Vertreter der biologischen Landwirtschaft im frühen zwanzigsten Jahrhundert ihr Widerstand gegen die fortschreitende Industrialisierung ein wichtiger Antrieb.

Die schweizerische Agrarwissenschaftlerin Maria Müller-Bigler begründete Anfang der 1930er-Jahre gemeinsam mit ihrem Mann, dem Biologen Dr. Hans Müller, den sogenannten organisch-biologischen Landbau. Die beiden sahen den Bauernstand bedroht und entwarfen ihr eigenes Konzept des Ökolandbaus als Rettungsanker der bäuerlichen Zukunft jenseits industrieller Zwänge. Wenige Jahre zuvor hatte Rudolf Steiner seine biologisch-dynamische Landwirtschaft begründet, aus der bereits am Ende der 1920er-Jahre der Demeter-Verband hervorgegangen war. Doch selbst Anhänger Rudolf Steiners und dessen anthroposophischer Lehre räumen ein, dass die Wurzeln des Ökolandbaus noch weiter zurückgehen. »Wenn sich der Mensch selbst verstehen will, dann kann er das nicht hinreichend, solange er sich nicht als ein geschichtliches Wesen in einer ganz bestimmten geschichtlichen Zeit begreift«, schreibt der Anthroposoph Wolfgang Schaumann.51

Der Geist des Ökolandbaus wurde weder von Rudolf Steiner, noch vom Ehepaar Müller in die Welt gesetzt. Er begleitet die Menschheit schon, seitdem die Industrialisierung in Gange ist und reicht daher bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück.

Der Philosoph, Nonkonformist, Sklavenbefreier und Naturschützer aus Amerika, Henry David Thoreau, ist gemeinsam mit anderen als frühes Glied in einer internationalen Ideenkette der Ökologie zu verstehen, die bis heute nicht abgerissen ist und deren Entwicklung auch in Zukunft voranschreiten wird. Im Laufe der Geschichte gelangte dieser »ökologische Geist« in die Hände von Angehörigen verschiedenster Strömungen. Am Übergang vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert formierte sich, insbesondere von Deutschland und der Schweiz ausgehend, die sogenannte Lebensreformbewegung, die durch Kritik an der Industrialisierung und der Kommerzialisierung der Lebensmittelproduktion geprägt war und in der sich verschiedenste, teilweise auch miteinander verfeindete, politische Strömungen fanden. Manche Vertreter der Lebensreform verfochten gar religiöse Ansprüche. Andere kamen aus dem anarchistischen Lager. Es gab politisch linke ebenso wie Strömungen von Rechts. In den 1930er-Jahren instrumentalisierten sogar die Nationalsozialisten den Trend und lenkten die Tendenzen des naturnahen Lebens in ihre Richtung. Von nun an verstanden die Nazis unter der Natur, zu der man sich zurückbesinnen sollte, in erster Linie die »heimische Natur«. Naturschutz und der sogenannte »Heimatschutz« verflossen miteinander. Die Natürlichkeit des Körpers und die Nacktkörperkultur wurden mit dem Stolz über den »arischen Körper« verbunden. Traditionelle Naturheilmethoden nannten die Nationalsozialisten schließlich »Neue Deutsche Heilkunde«. Dem Widerstand vieler Ärztinnen und Ärzte ist es zu verdanken, dass sich dieses Konzept in der Medizin der damaligen Zeit nicht etablieren konnte.

Auch die Idee einer ökologischen Landwirtschaft wurde im Laufe der Geschichte immer wieder von bestimmten politischen oder auch pseudoreligiösen Strömungen aufgegriffen und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Noch heute wird dieser unglückliche Umstand von Gegnern der biologischen Landwirtschaft ausgenutzt. In ihrem Buch »Biokost und Ökokult« schreiben beispielsweise die beiden Journalisten Dirk Maxeiner und Michael Miersch Folgendes:52 »Rudolf Steiners Landwirtschaftslehre ist pure Esoterik.53 Steiner und den anderen Gründern des Biolandbaus ging es nicht um Umweltschutz oder Tierschutz. Führende Nationalsozialisten, wie Himmler, waren Anhänger von Steiners Agrarlehre und standen der Anthroposophie nahe.« Damit reduzieren die beiden Autoren eine Idee, die sich in ständigem Wandel befindet und an welcher heute Wissenschaftler aller Disziplinen arbeiten, auf einen bestimmten, selektiven Ausschnitt der Geschichte an einem ebenso selektiven Ort des Planeten. In diesem Stile setzen sie ihre Argumentation fort, etwa im Interview mit dem Schweizer Immunologen und erklärten Bio-Gegner Univ.-Prof. Dr. Beda M. Stadler, der zu dem Schluss kommt: »Bio war von Anfang an eine Sekte.«54 Solche Behauptungen sind zu hinterfragen, da die immer wieder unterstellte – die angeblich eine und einzige – historische Linie des Ökolandbaus in Wirklichkeit überhaupt nicht existiert. Ökologische Landwirtschaft wurde in vielen Ländern der Erde mehrmals »erfunden« oder aufgegriffen und begann nicht mit Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie und schon gar nicht mit den Nationalsozialisten. Bio-Bäuerinnen und Bio-Bauern sind – selbstverständlich – nicht mit Nazis in Verbindung zu bringen. Und die meisten von ihnen haben auch mit Rudolf Steiners Lehren nichts zu tun. Dr. Steiner war zwar ohne Zweifel ein Ideenstifter und Pionier. Aber er war dies ausschließlich für seine eigene Tradition der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und nicht für den Ökolandbau an sich. Es wirkt unüberlegt, zu behaupten, eine so starke und gesellschaftlich breit vertretene Idee wie die biologische Landwirtschaft ließe sich so einfach auf eine einzelne Person zurückführen – noch dazu ursächlich. Eine solche Mutmaßung käme der Unterstellung gleich, die Idee der biologischen Landwirtschaft würde heute nicht existieren, wenn etwa Rudolf Steiner nie gelebt hätte. Ökologische Landwirtschaft ist nicht auf politische, religiöse oder sogar esoterische Strömungen eingrenzbar. Die Idee des Ökolandbaus existiert in Form einer kulturellen Informationseinheit als regelrechte Gegenspielerin der Industrialisierung der Lebensmittelherstellung. Sie gewann an Stärke und Bedeutung im selben Maße wie die Industrialisierung selbst. Heute, im Zeitalter des Agrargigantismus, hat die Forderung nach ökologischen und natürlichen Lebensmitteln freilich ihren bisherigen Höhepunkt erreicht.

Die Siebziger und Achtziger: Ökolandbau goes public

Neuerlichen Aufschwung erlebte die Bio-Bewegung im deutschsprachigen Raum insbesondere in den 1970er- bis 1980er-Jahren, in denen Produkte aus ökologischer Landwirtschaft erfolgreich Marktnischen besetzten und den Weg ins öffentliche Bewusstsein schafften. Am Ende der Siebziger strahlte der Österreichische Rundfunk (ORF) in den Sendungen »Bodenkultur« und »Planquadrat Ländlicher Raum« umfassende Beiträge zum Thema Ökolandbau aus. Die verantwortlichen ORF-Redakteure Helmut Voitl und Ernst Petz sowie die Redakteurin Elisabeth Guggenberger gaben 1979 ein Begleitheft zu ihren TV-Beiträgen heraus, in dem die Grundzüge der ökologischen Landwirtschaft ausführlich erläutert wurden.

In diese Zeit fallen auch die Anfänge des ältesten noch existierenden Bio-Ladens Österreichs, der 1978 von Rupert und Ushij Matzer in Graz gegründet wurde. Der ORF erhielt mehr als fünfzehntausend Zuschriften von interessierten Zuseherinnen und Zusehern, die zum Teil sogar anboten, den Ökolandbau und seine Verbreitung tatkräftig zu unterstützen. Vor allem Konsumenten aus Großstädten fragten, den Aufzeichnungen des ORF zufolge, an, wo sie Produkte aus biologischer Landwirtschaft erhalten könnten. Unter den Initiatoren der Ökobeiträge des Österreichischen Rundfunks fand sich unter anderem der spätere Universitätsprofessor und Generaldirektor des Naturhistorischen Museums in Wien, Dr. Bernd Lötsch, der damals noch Dozent am biologischen Institut der Universität Wien war und 1976 im »Villacher Manifest« unter dem Titel »Der ländliche Raum – Lebensgrundlage der Industriegesellschaft« ein Plädoyer für die biologische Landwirtschaft gehalten hatte. Nach der Ausstrahlung der ORF-Beiträge wurde die »Bildungsbewegung Ökologischer Landbau« gegründet, deren Ziel es war, die Idee der biologischen Landwirtschaft zu verbreiten und für eine Aufklärung der Konsumenten zu sorgen. Dies war insofern von besonderer Wichtigkeit, als es noch keinerlei gesetzliche Regelungen für die biologische Lebensmittelherstellung gab. »Wir hatten zum Beispiel damals, am Ende der 1970er, nur einen einzigen Käse im Programm. Das war ein Schafskäse. Zu dieser Zeit war es noch nicht so einfach, an Bio-Ware zu kommen«, erzählte mir Rupert Matzer. »Aber die ökologische Landwirtschaft setzte sich immer mehr durch und wir fanden schnell neue Bauern«, fügte er hinzu. »Nachdem der ORF ein paar Sendungen über den Ökolandbau ausgestrahlt hatte, standen die Leute am Morgen schon vor unserem kleinen Geschäft Schlange und warteten darauf, dass wir aufsperrten.«

Greening Goliaths: Der Einstieg der »Großen«

»Bis zum Beginn der Neunzigerjahre«, meinte etwa der Bio- und Vollkornbäcker Clemens Waldherr im Burgenland, »befand sich die Bio-Bewegung in einem natürlichen Wachstum. Das war kein rasantes, explodierendes Wachstum, sondern ein gesundes – eben ein natürliches.« Das habe sich, so betrachtete der Bäckermeister die Entwicklung im Rückblick, dramatisch geändert, als man in den 1990er-Jahren die multinationalen Konzerne des konventionellen Lebensmittelhandels mit ihren Supermarktketten an Bord holte. »Durch den Einstieg konventioneller Handelsriesen ließ man es zu, dass sich auch deren Interessen in die Bio-Branche einkauften.« Sicher, beispielsweise habe Billa mit Ja!Natürlich zu einer immensen Verbreiterung des Bio-Marktes beigetragen und später seien andere Handelskonzerne nachgefolgt. »Aber sie betrieben Bio mit einem ganz anderen Geist und unter völlig anderen Voraussetzungen als im Nischenmarkt«, so der Bio-Bäckermeister. Zu dieser Zeit begann es in den Regalen der Supermärkte auch regelrecht zu wimmeln vor Gütezeichen und Qualitätslogos. Da kam das eindrucksvolle Bio-Zeichen gerade recht, das seit 1993 nur nach gesetzlich vorgegebenen Mindeststandards vergeben werden durfte. Die »strengen Bio-Kontrollen«, die in der Werbung mancher Bio-Marken gar zu den »strengsten Kontrollen« wurden, eigneten sich hervorragend als plakatives Verkaufsargument in den Werbeprospekten. Und das ist heute noch so. »Doch schon in den Neunzigerjahren ließ das Gesetz ausreichend Spielraum und ermöglichte ein Nebeneinander von qualitativ gänzlich unterschiedlichen Formen der ökologischen Landwirtschaft«, sagte Clemens Waldherr. »Die Konzerne des konventionellen Handels hatten ganz andere Motive als die Idealistinnen und Idealisten der Bio-Bewegung«, erinnerte er sich. Es bildeten sich zwei verschiedene Bio-Segmente heraus: der Bio-Massenmarkt, in dem das Vermögen und die kommerziellen Interessen der Konzerne wirkten, und der ökologische Nischenmarkt, der sich schon seit den Siebzigern in einem natürlichen Wachstum befand und sich auch weiterhin mehr als Bewegung denn als Branche verstand. Die konventionellen Goliaths hingegen banden ihre Bio-Produkte in ihre bestehenden konventionellen Handelsstrukturen ein. Ihre gesamte Wirtschaftspolitik, die sie seit jeher gewohnt waren, übertrugen sie auf die Bio-Produktion. Es war ein ganz anderes Denken, das sie auf die neuen Bio-Linien anwendeten.

Und dann ging der »Bio-Boom« so richtig los. Die Bio-Produktionskette wurde aus ihrem ganzheitlichen Zusammenhang gelöst und nur mehr als Produktion unter Verzicht auf bestimmte Hilfsstoffe verstanden.

Über die Fließbänder der Industrie jagten nun zu manchen Tageszeiten auch Bio-Semmeln und Bio-Küken. Riesige Tiefkühlfabriken lagerten Bio-Teigrohlinge neben Iglo-Fischstäbchen ein. BioTM – das »Markenzeichen Bio« – war geboren worden. Die konventionellen Obst- und Gemüseimporteure der Supermärkte begannen, sich nach Ware umzusehen, die in großen Mengen und zu günstigen Preisen zur Verfügung stand, aber dennoch das Bio-Zeichen tragen durfte. Industriell arbeitende Getreide-, Obst- und Gemüseproduzenten schwenkten auf Bio um und stellten von nun an biologische Erzeugnisse in gewohnter Masse bereit. Geflügelkonzerne machten sich daran, Bio-Ställe zu errichten, in denen so viele Tiere untergebracht wurden, wie gesetzlich nur irgendwie erlaubt. Man sah sich nach Hochleistungsrassen um, die aber doch auch nach Bio aussahen, weil sie ein braunes Federnkleid trugen und kein weißes (wie die meisten konventionellen Fleischrassen). Die Eier, die Bio-Legehühner jetzt auch für Supermärkte legten, mussten möglichst einheitlich sein, damit sie mit den konventionellen Fließbändern und Roboterarmen kompatibel waren. Und dafür mussten sie genauso beschaffen sein wie herkömmliche Eier. »In den 1990er-Jahren wurde es immer schwieriger, Eier von alten Legerassen zu bekommen«, erinnerte sich ein Bio-Kaufmann aus Wien. Auch Rupert Matzer, der Bio-Händler mit langer Tradition, blickte zurück: »Auf einmal war Bio-Milch nur mehr in Getränkekartons erhältlich, wie sie in den industriellen Molkereien üblich waren. Diese bestehen aus dem Plastikkunststoff Polyethylen und sind mit Aluminium beschichtet. Bis heute haben wir in unserem Geschäft einen Engpass an Milch. Die Kartonverpackungen kommen mir nicht in die Regale. Das Mehrwegflaschensystem für Milch ist neben der Verpackungsindustrie kaputt gegangen. Bio-Milch können wir daher nur in begrenztem Umfang verkaufen. Viele unserer Kunden bestellen die Milch deshalb im Vorhinein.« Doch der eingesessene Bio-Händler mit dem langen weißen Haar blieb seinen Grundsätzen treu: »Getränkekartons kommen mir trotz allem nicht ins Geschäft, auch nicht bei anderen Produktgruppen.« Und immerhin sei es, so erfuhr ich, bei Fruchtsäften, Sojamilch, Reismilch und anderen pflanzlichen Getränken kein Problem, die Produkte in Mehrwegflaschen zu erhalten.

Agrarökonomen der Technischen Universität München in Weihenstephan55 typisierten die Akteure des aktuellen ökologischen Bio-Marktes (Landwirtschaft, Weiterverarbeitung, Vermarktung) und stellten fest, dass seit den 1990er-Jahren die Kategorie der »Marktstrategen« immer mehr an Bedeutung gewinnt. Kennzeichnend für diese Gruppe ist eine stark ausgeprägte Marktorientierung, hinter welcher die Motivation steht, den mittlerweile ausdifferenzierten Öko-Markt bewusst zur Expansion und zur Erhöhung des Konzernprofits zu nutzen. Das bereits vorhandene positive Image der biologischen Landwirtschaft werde gezielt dafür genutzt, schreiben die Wissenschaftler, um die Gesamtrentabilität des jeweiligen Unternehmens zu erhöhen. Die Vertreter der Kategorie »Marktstrategen« hätten, so heißt es, weniger die Stärkung der Ökolandbaubewegung als die Interessen ihrer eigenen Konzerne im Sinne.

Die Autoren der agrarökonomischen Studie schreiben, unter den Marktstrategen des Bio-Massenmarktes ließen sich »ein lockerer Umgang mit den ursprünglichen Idealen des Öko-Landbaus sowie ein pragmatischer Umgang mit dem Einzug von konventionellen Strukturen« feststellen.