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Die größte Krise der Menschheit
Vor gut 70.000 Jahren war die Geschichte der Menschheit beinahe zu Ende. Nur noch wenige Tausend Individuen des Homo sapiens lebten auf der Erde. Ihr Überleben hing von Zufällen ab: Krankheiten, Hungersnöte und Naturkatastrophen waren eine konstante Bedrohung. Geoforscher stützen die These, dass die Menschheit nach einem Vulkanausbruch in Indonesien nur um Haaresbreite der Ausrottung entging.
Erste Belege dafür fanden Biochemiker in den 1990er-Jahren im menschlichen Erbgut. Der Vergleich der Gene offenbarte eine erstaunlich enge Verwandtschaft der Menschen aus allen Erdteilen. Alle heute lebenden Menschen stammen demnach von wenigen Tausend Vorfahren ab, die vor rund 70 Jahrtausenden gelebt haben. Spuren im Eispanzer von Grönland gaben Hinweise auf die Ursache dieses Beinahe-Aussterbens. Gasblasen in Eisbohrkernen verrieten: Zur fraglichen Zeit muss die Erde jahrhundertelang deutlich kühler gewesen sein. Allerdings hatten die Vorfahren des Menschen zuvor noch drastischere Eiszeiten durchlebt. Warum also sollte ausgerechnet diese Abkühlung eine solch verheerende Wirkung gehabt haben?
Eine Schicht mit Schwefelsäurepartikeln, die sich unmittelbar vor der Kaltphase im Grönlandeis abgelagert haben muss, brachte die Wissenschaftler auf die Spur eines gigantischen Vulkanausbruchs: Vor etwa 72.000 Jahren war der Toba auf der indonesischen Insel Sumatra explodiert, ein sogenannter Supervulkan. Es war die heftigste Eruption der vergangenen zwei Millionen Jahre. Der Vulkan spie nicht nur eine Säule aus Lava und Asche in den Himmel. Eine gewaltige Magma-Blase explodierte, der Erdboden zerriss auf weiter Flur. Der Toba spuckte 1000-mal so viel Asche aus wie der Mount St. Helens 1980. Säuredämpfe vergifteten die Umwelt, Ascheschleier verdunkelten die Erde über Jahre hinweg. Die Atmosphäre sei um mehr als fünf Grad Celsius abgekühlt, berichten Geoforscher, in mittleren Breiten herrschte plötzlich Eiszeit.
Unseren Vorfahren habe der »vulkanische Winter« schwer zugesetzt, folgerte Stanley Ambrose von der Universität von Illinois, USA, als er vor elf Jahren die »Theorie vom evolutionären Flaschenhals« der Menschheit aufstellte. Ambrose führte das aus Genom-Analysen vermutete Schrumpfen der Menschheit vor 70.000 Jahren auf die Toba-Eruption zurück: Viele Menschen hätten kaum mehr Nahrung gefunden, viele seien erfroren. Doch bald schon regte sich Widerspruch. Die Auswirkungen des Toba-Ausbruchs seien nicht so verheerend gewesen, errechnete Clive Oppenheimer von der Universität in Cambridge, Großbritannien, im Jahr 2002. Die gigantische Eruptionswolke habe zu wenig Schwefel enthalten, um die Erde dauerhaft um fünf Grad abzukühlen. Zur Verdunkelung braucht es Schwefel, denn anders als Asche bleiben Schwefeltröpfchen jahrelang in der Luft. Klimatologen um Claudia Timmreck vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg kamen mit Klimasimulationen allerdings zu dem Ergebnis, dass sich die Schwefeltropfen rascher abgebaut hätten als angenommen. Aufgrund der großen Masse, die der Vulkan in die Luft geblasen hätte, seien die Partikel besonders dick geworden – und deshalb relativ rasch wieder zu Boden gefallen.
Die Debatte gewann an Brisanz: 2007 schienen Archäologen die Toba-Theorie endgültig widerlegt zu haben. Im Südosten Indiens hatten sie Steinwerkzeuge gefunden – sowohl unterhalb als auch oberhalb der Ascheschicht des Ausbruchs. Die Eruption, folgerten die Experten um Michael Petraglia von der Universität in Cambridge, habe die Menschen nicht verdrängen können. »Sie lebten unverändert weiter«, sagt Petraglia. Dann ließen Forscher erneut Computermodelle sprechen – die Simulationen bildeten die Katastrophenzeit nach. Die Auswirkungen des Toba-Ausbruchs waren demnach gravierender als angenommen: Fünf Jahre lang lagen die Temperaturen weltweit um bis zu 18 Grad tiefer als zuvor, noch zehn Jahre nach der Eruption war es auf der Erde durchschnittlich zehn Grad kälter, haben Klimatologen um Alan Robock von der Rutgers Universität von New Jersey ermittelt. Zudem regnete es weniger, mancherorts herrschte jahrelang Dürre. Weil sich die Eruptionswolke von den Tropen her ausbreitete, verteilte sie sich besonders effektiv über beide Hemisphären. Eine andere Klimasimulation aus dem Jahr 2010 jedoch kam zu einem weniger dramatischen Resultat: Stephen Self von der Open Universität in Milton Keynes, Großbritannien, und Michael Rampino von der New York Universität rechneten den Ausbruch des philippinischen Vulkans Pinatubo von 1991 auf Toba-Dimensionen hoch. Demzufolge sei die Welt vor 70.000 Jahren lediglich um drei bis fünf Grad abgekühlt.
Auch die Simulationen von Claudia Timmreck und ihren Kollegen ergaben keine so dramatische Abkühlung, jedenfalls nicht für die Gebiete, in denen seinerseits die meisten Menschen lebten: Afrika und Vorderasien. Zwar hätten zurückgehende Niederschläge die Baumsavannen jahrelang in kärgere Strauchsavannen verwandelt – doch auch darin hätten unsere Vorfahren vermutlich überleben können.
Stanley Ambrose aber hält die Simulation für unzutreffend, da sie von heutigen Klimabedingungen ausgehe. Vor 70.000 Jahren jedoch stürzte die Erde in eine Eiszeit, und der Toba-Ausbruch habe die weltweite Abkühlung noch verstärkt, sagt Ambrose. Obwohl Klimasimulationen seine Theorie bislang nicht bestätigen konnten, hält er daran fest: Der plötzliche Kälteeinbruch habe den meisten Menschen vermutlich keine Zeit für eine Flucht in lebensfreundliche Regionen gelassen. Unter der Dunkelheit des gigantischen Ascheschleiers verdorrten auch in Ostafrika Pflanzen, und viele Tiere starben. Nur wenige Menschen überlebten – unsere Vorfahren.
Ostafrika erlebt auch heute einen Umbruch: Im geologischen Eiltempo entsteht dort ein neuer Ozean. Der ganze Kontinent beginnt zu zerbrechen. Im nächsten Kapitel werden Wissenschaftler Zeugen verstärkter Aktivität: Es bebt, Vulkane brodeln, die Erde bricht auf, das Meer dringt vor. Schon bildet sich Tiefseeboden – mitten in der Wüste.