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Überall Atlantis

17 Jahre hatte sich Ronnie Alonzo auf diesen Moment vorbereitet. Mit neuen Erkenntnissen über die sagenumwobene Insel Atlantis ausgestattet, war er von seinem Heimatort auf den Philippinen zur »Atlantis-Konferenz« auf die griechische Insel Milos gereist. Dort präsentierte der Hobbyforscher dem staunenden Auditorium einen Stein, den er bei einer Wanderung in seiner Heimat gefunden hatte. Der Stein enthalte die Botschaft eines antiken Volkes, erklärte Alonzo. Nach Berichten von Teilnehmern legte er den Stein bei seinem Vortrag auf eine geologische Weltkarte und richtete ihn so aus, dass eine Maserung im Stein mit einer Erdbebenlinie der Karte zur Deckung kam. Entlang dieser Linie habe sich Atlantis von Island über Großbritannien bis zu den Kanarischen Inseln erstreckt. Verblüffung im Publikum über die dürre These, dann eine hilflose Frage: Woher Alonzo wisse, wie herum der Stein gehöre? Der Philippiner lächelte und erklärte den Vortrag für beendet – eine Antwort hatte er offensichtlich nicht.

Die Episode zeigt: Ebenso faszinierend wie der Untergang von Atlantis ist der Untergang von Atlantis-Theorien – das konnte man auf Milos vielfach beobachten. Atlantis-Freunde, Naturwissenschaftler und Philosophen aus der ganzen Welt hatten sich versammelt und tischten 48 neue Erklärungen auf, von denen nur manche plausibel klangen, die aber alle unbewiesen blieben. Ihre Urheber hatten teure Reisen unternommen in der Hoffnung, so berühmt zu werden wie Heinrich Schliemann nach der Entdeckung Trojas. Doch wenn überhaupt, können sich nur zwei Deutsche Hoffnung auf Ruhm und Anerkennung machen.

Vieles spricht dafür, dass die von Platon in Umlauf gebrachte Geschichte des paradiesischen Atlantis keine Schnurre ist. Detailgenau wie in einem Reiseführer beschreibt er in den Dialogen Timaios und Kritias jenen idealen Staat, der vor rund 11.500 Jahren binnen Tagesfrist versunken sein soll. In der ganzen Welt wurde nach den Überresten gesucht, tausendfach ihre Entdeckung vermeldet. Auch die Tagungsteilnehmer nahmen zunächst die bei Atlantis-Freunden unter Generalverdacht stehende Meeresenge von Gibraltar ins Visier. Denn »vor den Säulen des Herakles« – mutmaßlich die Felsen beiderseits der Passage – soll nach Platon Atlantis gelegen haben.

Zwar hatten dort bereits 1984 sowjetische U-Boote vergeblich gefahndet, der französische Geologe Jacques Collina-Girard von der Universität Aix-Marseille meinte jedoch die vor Gibraltar gelegenen untermeerischen Spartel-Inseln als Atlantis identifiziert zu haben. Sie seien bei einem rasanten Anstieg des Meeres zur fraglichen Zeit versunken. Doch dann trat der Geologe Marc-André Gutscher von der Universität Brest aufs Podium. Er zeigte in einer Animation, wie das Wasser vor Gibraltar gestiegen war, nachdem die Eiszeit zu Ende gegangen war. Von der Spartel-Insel-Theorie seines Kollegen aus der Provence blieb nicht viel übrig: Vor 11.500 Jahren ragte vor Gibraltar keineswegs ein Inselreich aus dem Wasser, lediglich zwei Felsspitzen waren zu sehen. Damit ganze Inseln über Wasser gelegen haben könnten, hätte der Meeresgrund damals rund 40 Meter höher als heute gelegen haben müssen. Aber dass sich der Boden seither so stark abgesenkt habe, sei nur mit mehreren äußerst starken Erdbeben zu erklären, sagte Gutscher. Achtmal hätte die Region von Erdstößen wie von jenem 1755 bei Lissabon erschüttert werden müssen, rechnete er vor: Bei dem Beben, das die Stadt zerstörte, sackte der Grund in der Region tatsächlich um einige Meter ab. Allein es fehlen die Belege für sieben weitere Beben. Zudem wurden weder auf dem Meeresboden noch an den Küsten Spuren einer steinzeitlichen Hochkultur gefunden.

Ähnliche Höhenprobleme plagen die Theorie von Axel Hausmann von der RWTH Aachen. Atlantis, behauptete der Physiker, sei identisch mit einem Plateau zwischen Malta und Sizilien. Ähnliche, rund 6000 Jahre alte Bauten auf beiden Inseln wiesen auf diese Landverbindung hin. Legte man die altägyptische und nicht die griechische Zeitrechnung zugrunde, entspräche das Szenario auch Platons Überlieferung. Einziger Schönheitsfehler: Das betreffende Plateau lag damals unter Wasser. Aber vielleicht kam es den Teilnehmern auf derartige Details gar nicht an, sondern ausschließlich darauf, den Zauber vom versunkenen Inselreich zu beleben. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie selbst den abstrusesten Theorien freundlich lauschten. Ein Hobbyforscher vermutete Atlantis unter dem seit Jahrmillionen bestehenden Eispanzer der Antarktis, ein anderer in Südindien, weil die Griechen wichtige Erkenntnisse einer indischen Hochkultur importiert hätten. Ein weiterer Vortragender verglich die Daten aus Platons Texten mit den Maßen aller Inseln der Erde und stellte fest, dass die Angaben nur auf eine zuträfen: auf Irland. Dass Irland nicht versunken ist, scheint nebensächlich. Das unterstrich ein chilenischer Teilnehmer, der in seinem Vortrag feststellte: »Atlantis war Israel.«

Wenig verwunderlich also, dass auch die nur bedingt ironisch gemeinte Theorie kursierte, die DDR sei Atlantis gewesen. Die These kommt Platons Idee sogar recht nahe, folgt man Yair Schlein von der Open Universität in Israel. Der Philosoph deutete die Geschichte als Gleichnis, mit dem Platon zeigen wollte, dass in jedem Gemeinwesen der Keim des Niedergangs angelegt ist. Das »selbst-zerstörerische Wesen von Atlantis« lasse sich auch bei bestimmten Personen erkennen, erläuterte Schlein – und bei Atlantis-Theorien muss man wohl hinzufügen, sie waren bisher fast alle dem Untergang geweiht.

Allerdings gibt es womöglich eine Ausnahme: Die Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Siegfried und Christian Schoppe vermuten, Atlantis habe an der Nordküste des Schwarzen Meeres gelegen und sei vor 7500 Jahren vom rasant ansteigenden Meer verschluckt worden. Seinerzeit lag das Schwarze Meer 130 Meter tiefer als heute, bis Wasser aus dem Marmarameer hineinströmte und rund 100.000 Quadratkilometer Ackerland – das entspricht gut einem Viertel der Fläche Deutschlands – in kürzester Zeit überschwemmte. Tatsächlich meint der Meeresgeologe Robert Ballard im Schwarzen Meer in rund 100 Meter Tiefe Überreste steinzeitlicher Siedlungen entdeckt zu haben – ein Beweis, dass Menschen vom Wasser vertrieben wurden. Die Flut führte dazu, vermuten Siegfried und Christian Schoppe, dass sich die indoeuropäischen Sprachen von der Schwarzmeerküste aus in alle Richtungen ausbreiteten. Atlantis habe demnach am einstigen gemeinsamen Delta der Flüsse Bug, Dnjepr und Dnjestr gelegen. Die Fakten aus Platons Geschichte passten zum Fundort ebenso wie die Zeit – nach altägyptischer Rechnung. »Nur das Ortsschild haben wir noch nicht geborgen«, sagt Siegfried Schoppe. Die Deutschen haben derzeit die besten Chancen, in Schliemanns Spuren zu treten. Doch womöglich hatte der das große Vorbild Atlantis bereits selbst entdeckt. Einer der wenigen robusten Atlantis-Theorien zufolge ist die versunkene Stadt nämlich gleichbedeutend mit Troja.

Vielleicht aber ist auch alles ein großes Missverständnis. Der Philosoph Amihud Gilead von der Universität Haifa jedenfalls sticht eine Nadel in den Atlantis-Ballon. Atlantis sei ein Sinnbild Platons dafür, dass die Erkenntnis der Wahrheit unmöglich ist. Die aufreibende Suche nach der versunkenen Stadt untermauert diesen Gedanken eindrucksvoll.

Auch ein anderes Mysterium der Geologie wurde zunächst ins Reich der Legenden verbannt: Doch im nächsten Kapitel wird bewiesen, dass im Tal des Todes in Kalifornien tatsächlich mächtige Felsen über den Wüstenboden streunen, manche schneller als Fußgänger. Noch immer rätseln Wissenschaftler: Was treibt die Felsen an?