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Tagebuch der Urzeit

Ein Pferd brachte die Wissenschaft auf die Spur einer ihrer größten Entdeckungen. Es war vor etwa 100 Jahren, am 31. August 1909. Der Naturforscher Charles Doolittle Walcott ritt mit seiner Frau über den Burgess-Pass in den kanadischen Rocky Mountains. Das Pferd der Frau, so wurde berichtet, glitt auf dem Schotter aus. Walcott stieg ab, um das gestürzte Tier aufzurichten. Da fiel ihm eine Schieferplatte auf, die das Pferd beim Straucheln umgedreht hatte. Dieser Moment sollte die Paläontologie – die Wissenschaft des Urzeitlebens – revolutionieren und wichtige Beweise für Darwins Evolutionstheorie liefern. Auf dem Schiefer erblickte Walcott die versteinerten Abdrücke eines Kleintiers.

Der Autodidakt und leidenschaftliche Forscher aus Utica im US-Bundesstaat New York wäre am liebsten gleich dortgeblieben, um sämtliche Platten umzudrehen. Doch das schlechte Wetter trieb ihn nach Hause. Zuvor hatte Walcott auf einer Landkarte noch den Ort markiert. Natürlich ahnte er nicht, dass er die größte Schatzkammer des Urzeitlebens entdeckt hatte. An einen interessanten Fund glaubte er aber wohl. Und so kehrte Walcott im folgenden Frühjahr zurück und fand heraus, dass der Schotter von einem Felssturz stammte. Er folgte den Spuren der Lawine fast bis hinauf zum Berggipfel. In 2400 Meter Höhe stand er vor einer Flanke aus Schiefergestein von der Größe einer Reihenhauszeile. Silbrig schimmerten die Abdrücke unzähliger Lebewesen im schwarzen Fels. Wie ein steinernes Buch des Lebens hatte der Berg eines der interessantesten Kapitel der Erdgeschichte konserviert: die sogenannte Kambrische Explosion vor gut 500 Millionen Jahren. Sie war gleichsam der »Urknall« des Lebens auf der Erde: Damals waren binnen weniger Millionen Jahre beinahe alle Körperbaupläne der Tiere entstanden. In den dreieinhalb Milliarden Jahren zuvor war die Erde ein öder Planet gewesen. Lediglich Bakterien und – viel später – simple Schleimorganismen hatten die Flachmeere bevölkert. Im Kambrium entstanden plötzlich höhere Lebensformen. Ohne die Entdeckung des Burgess-Schiefers wäre diese entscheidende Epoche der Evolution im Dunkeln geblieben – zu dieser Zeit machte die Entwicklung des Lebens seinen vielleicht größten Sprung: »Es war, als ob ein Bühnenvorhang mit einem Ruck aufgerissen wurde und mitten in der Handlung des ersten Aktes den Blick freigab auf diese Zeit«, sagt der Paläontologe Richard Fortey vom Naturhistorischen Museum in London.

Zu keinem späteren Zeitpunkt wurde eine ähnlich reiche Fossilienstätte von solch immenser wissenschaftlicher Bedeutung gefunden. Die Vielfalt der Formen erstaunt Wissenschaftler bis heute, 140 Arten wurden gezählt. Erst der Blick in den Burgess-Schiefer habe gezeigt, »wie viel reicher die Welt einst war und wie viel weniger berechenbar«, schwärmt Fortey. Walcott hämmerte etwa 70.000 Abdrücke von Urzeitwesen aus dem Schiefer. Die ersten sandte er an Museen in aller Welt. »Er hatte Sorge, die Fachwelt könnte an seiner aufregenden Entdeckung zweifeln«, sagt Fortey. Auch bei der Namensgebung ging Walcott auf Nummer sicher: Vielen Fossilien gab er Namen bedeutender Paläontologen. Den Spitzenkrebs Marrella etwa benannte er nach Johnny Marr, seinerzeit die höchste Instanz der britischen Urzeitforschung.

Die Burgess-Region lag im frühen Kambrium vor gut 500 Millionen Jahren in einem Flachmeer, in dem sich unzählige Lebewesen tummelten. Ihnen wurde der Zusammenbruch einer Klippe zum Verhängnis: Der Schutt begrub Abertausende Tiere am Meeresboden – und schuf damit ein Massengrab für die Ewigkeit. Zufälle führten dazu, dass die Stätte erhalten blieb. Kadaver, die in sauerstofflosem Milieu die normale Zersetzung überdauern, werden meist durch Erosion endgültig beseitigt, stetig schmirgeln Wind und Wasser die Erdkruste. Im Burgess-Schiefer aber sorgten seltene chemische Prozesse dafür, dass ein stabiler Zement die Abdrücke ausfüllte; tief im Berg blieben sie erhalten. Das Leben in den Ozeanen sei heute weitaus weniger vielgestaltig als in jenem Flachmeergebiet des Burgess-Schiefers, staunte der berühmte, 2002 verstorbene Geologe Stephen Jay Gould. Das Sortiment an Wassertieren »hätte jeden Fischhändler glücklich gemacht«, witzelt hingegen Richard Fortey.

Es war eine bizarre Welt. Ein Gliederfüßer namens Anomalocaris canadensis etwa ähnelte einem Mini-Weihnachtsbaum mit Geweih auf der Spitze. Das Krabbeltier Opabinia hatte fünf Augen und einen Rüssel mit Klauen an der Öffnung. Hallicugenia scheint auf sieben Stelzen über den Meeresboden gewankt zu sein. Und Odontogriphus – eine Art Fladen – wirke wie ein »überfahrenes Tier«, meinen selbst Paläontologen. Ein schlankes, nacktschneckenähnliches Geschöpf namens Pikaia gracilens indes flößt den Forschern mehr Ehrfurcht ein. Es soll eine primitive Wirbelsäule besessen haben und war somit wohl der Vorfahr aller Wirbeltiere – einschließlich des Menschen.

Hätte es je Menschen gegeben, wenn Pikaia gracilens sich während der Kambrischen Explosion nicht behauptet hätte? Nein, meinte Stephen Jay Gould. Die Entstehung des Menschen habe – wie die Evolution aller Lebewesen – vor allem vom Zufall abgehangen, schrieb er in seinem berühmten, 1989 erschienenen Buch Zufall Mensch. Er löste damit eine heftige Debatte über die Entwicklung des Lebens aus. Gould zufolge war die Entstehung der Arten weitgehend eine Lotterie. Würde das »Band des Lebens« bis in die Zeit des Burgess-Schiefers »zurückgespult und erneut gestartet«, schrieb er, wäre die Chance, dass sich wiederum menschliche Intelligenz entwickelte, »verschwindend gering«.

Gould hat dem Stammbaum des Lebens sozusagen neue Gestalt gegeben, erläutert Richard Fortey. Zuvor habe man sich die Evolution als »eine Art Busch« vorgestellt, der sich zur Seite und nach oben verzweigt. Die Vielfalt der Tierarten im Burgess-Schiefer indes bewog Gould zu dem Schluss, die Entwicklung des Lebens ähnele einem Baum, der unten breit ist und sich nach oben verjüngt. Das Leben sei eine »Geschichte des Sterbens«, gefolgt von der »Spezialisierung weniger Überlebender«, schrieb er. Andere Experten hingegen widersprachen: Katastrophen hätten keinen so großen Einfluss, die Evolution verlaufe gleichmäßiger.

Dieser Ansicht war auch Charles Doolittle Walcott gewesen. Die meisten Sommerurlaube bis zu seinem Tod 1927 verbrachte er am Burgess-Schiefer. Seine wissenschaftlichen Arbeiten füllten schließlich ein ganzes Bücherregal. Nach seinem Tod jedoch verschwanden die Burgess-Fossilien für 45 Jahre in den Schränken des Amerikanischen Museums für Naturgeschichte in Washington.

Erst in den 1970er-Jahren wagten sich die britischen Paläontologen Simon Conway Morris, Harry Whittington und Derek Briggs an eine Revision. Von da an wandelte sich Walcotts »Triumph zur Niederlage« – so beschrieb es jedenfalls Stephen Jay Gould. Bereits bei einer ersten Durchsicht der Sammlung wunderte sich Conway Morris: Walcott hatte die Fossilien aus dem Burgess-Schiefer sämtlich heute lebenden Arten zugeordnet. Doch Morris erkannte, dass die meisten frühzeitlichen Tiere keine modernen Nachfahren haben. Walcott hatte seine Funde »damit so falsch interpretiert, wie es überhaupt nur möglich war«, schrieb Gould. Die Lebewesen hätten sich nach Walcotts Ansicht einfach immer weiterentwickelt, »mit vorhersagbarer Zwangsläufigkeit«, lästerte er.

Zwar rüffelten andere Forscher Gould für seine Attacke, die neuen Interpretationen wichen weniger drastisch von denen Walcotts ab, als er behauptet hätte. Walcotts Irrtum aber war nicht zu übersehen. Als Simon Conway Morris mal wieder eine neue Fossilienkiste öffnete, soll er irgendwann sogar entkräftet geschimpft haben: »Verdammt, nicht schon wieder ein neuer Stamm!« Die Fehldeutungen schmälerten Walcotts Ruhm als einer der größten naturwissenschaftlichen Entdecker aber kaum. Seine Fundstätte am Burgess-Pass ist längst Teil des Weltnaturerbes der UNESCO. In der Umgebung haben Wissenschaftler inzwischen weitere Steinbrüche aufgemacht, wo sie bis heute nach Fossilien suchen. 150.000 Exemplare lagern allein im Royal Ontario Museum in Kanada. Und noch immer bringen Paläontologen mehr Fossilien aus dem Burgess-Gebiet, als überhaupt untersucht werden können.

Nicht nur die Erdgeschichte steckt noch immer voller Geheimnisse. Selbst manch grundlegende Eigenschaft des Planeten ist unbekannt – und sei es auch nur, weil noch niemand danach gefragt hat. Wie schwer sind eigentlich Großstädte und Länder? Ich habe Wissenschaftler die Gewichte von Regionen ausrechnen lassen. Im nächsten Kapitel steht, wo in Mitteleuropa die wahren Schwergewichte liegen.