»Detective Lucchesi?« Ein großer dünner Mann betrat das Krankenzimmer. »Ich bin Dr. Branfield. Ich nehme heute Morgen den Eingriff vor.«
»Oh … äh, ja. Wie geht es Ihnen, Doktor?«, fragte Joe.
Branfield lächelte. »Mir geht es gut. Ich wollte Sie nur beruhigen, dass es ein kleiner Eingriff ist. Und ich habe diesen Eingriff häufiger gemacht als jeder andere Chirurg hierzulande. Für mich ist das wie ein Spaziergang durch den Park. Und für Sie auch … sofern Sie normalerweise im Liegen und unter Narkose spazieren gehen.«
Joe lächelte verhalten.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Branfield fort. »In dreißig Minuten ist die Sache vergessen. Ehe Sie sich versehen, sind Sie hier wieder raus und können wieder Steaks essen.« Er wandte sich zum Gehen. »Wir sehen uns dann im Operationssaal.«
Joe hatte gehofft, diesen Satz nie im Leben zu hören. Er hatte nichts im Magen, hatte aber das Gefühl, einen Stein verschluckt zu haben. Er sank zurück aufs Kissen und legte einen Arm über den Kopf.
Was tue ich hier?
Sein Handy piepte. Anna hatte ihm eine SMS geschrieben: »Viel Glück. Wir denken alle an dich. Gruß und Kuss.«
»Sind Sie bereit?«, erklang eine fröhliche Stimme vom Gang.
»Klar«, entgegnete Joe, obwohl sein Körper und sein Verstand eine ganz andere Sprache sprachen.
Als der Krankenpfleger ihn zur Narkose in den OP-Vorbereitungsraum schob, starrte Joe an die Decke und betrachtete die Neonlampen, die über seinen Kopf hinwegzogen. Der Krankenpfleger redete mit schneller Stimme über die Reichweite seines Handys und wie schlecht ihm seine neue Wohnung gefiel. Joe hätte ihn am liebsten erwürgt. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste sie an seinen Körper, wobei er sich zu entspannen versuchte, doch er schnappte wie ein Ertrinkender nach Luft. Der Krankenpfleger blickte ihn an.
»Keine Bange«, sagte er. »Atmen Sie ein paar Mal tief ein. Das hilft. Ein. Aus. Ein. Aus.«
Joe schaute dem Krankenpfleger in die Augen und begriff, dass dieser Mann der Einzige war, der ihn daran hätte hindern können, in einem OP-Hemd auf die Straße zu laufen. Er passte seine Atmung dem »Ein-aus«-Rhythmus des Krankenpflegers an.
»Okay«, sagte der Krankenpfleger fröhlich. »Alles wieder gut. So, wir sind da.«
Joe drehte den Kopf ruckartig zur Tür. »Das ging aber schnell.«
»Ja. Jetzt geht’s los.«
Der Krankenpfleger überließ Joe dem wartenden Operationsteam und verabschiedete sich. In einer Ecke des Raumes wandte der Arzt sich von einer Gruppe lachender OP-Schwestern ab. Eine Krankenschwester kam zu Joe und stellte ihn vor.
»Das ist Dr. Graff, Ihr Anästhesist.«
»Guten Tag.« Dr. Graff begrüßte Joe. »Dann tun Sie heute also den ersten Schritt zu größerem Wohlbefinden, hm?« Er lächelte. »Aber wenn Sie es schon bis hierher geschafft haben, sage ich Ihnen sicher nichts Neues.« Er lächelte wieder. »Okay. Ich gebe Ihnen jetzt etwas, und ehe Sie von zehn bis eins heruntergezählt haben, werden Sie spüren, dass Sie langsam wegtreten.«
Nackt und hilflos lag Joe auf dem Rücken, als bei ihm plötzlich der Groschen fiel. Es gab einen Menschen, mit dem er unbedingt reden musste …
Mühsam rappelte er sich auf.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte die Krankenschwester ihm. »Sie sind bei uns in den besten Händen.«
»Tut mir leid«, sagte Joe. »Ich muss weg.«
Martinez stellte zwei Tassen Kaffee auf Dannys Schreibtisch und reichte ihm eine.
»Milch, zwei Stück Zucker, nicht wahr?« Er schaute Danny fragend an.
»Gott segne dein gutes Gedächtnis.« Danny stieß einen leisen Pfiff aus und schaute auf die Uhr. »Wahrscheinlich ist Joe jetzt schon im Reich der Träume.«
Martinez setzte sich auf die Schreibtischkante.
»Wie lange fällt er aus?«, fragte er.
»Nur ein paar Tage.«
»Mir würde es gar nicht gefallen, wenn ich mir im Gesicht herumschnippeln lassen müsste.« Martinez strich sich über die Wange. »Ich kapiere nicht, dass alle sich jetzt die Augen lasern lassen. Ich krieg schon Schiss, wenn ich nur daran denke.«
»Ich glaube, Joe ist verzweifelt.« Dannys Handy klingelte. »Ja?«, meldete er sich.
»Komm sofort ins Krankenhaus«, erklang Joes Stimme.
»Joe? Meine Güte! Du bist doch nicht etwa abgehauen? Wo steckst du?«
»Ich hab nicht genug an, um auf einem Krankenhausflur an einem öffentlichen Telefon zu stehen.«
»Hast du schon Medikamente bekommen?«
»Beeil dich, verdammt.«
»Nein. Ich bin nackt hergekommen.« Joe seufzte. »Natürlich habe ich meine Sachen hier, Blödmann. Du musst nur mein Zimmer finden.«
»Bin schon unterwegs«, sagte Danny.
Die Fahrt durch Westchester war Joe vertraut, denn nach ihrer Rückkehr aus Irland hatte er mit Shaun bei seinem Vater in Rye gewohnt. Heute fuhren sie durch ein ruhiges Vorortviertel, sieben Meilen von der Stadt entfernt, das sich für den Bau der zweiten Colt-Embry-Klinik geradezu anbot. Sie folgten der Asphaltstraße, die sich durch Gärten schlängelte, die hier angelegt wurden, und zum Haupthaus führte. Joe und Danny gingen an der unbesetzten Rezeption vorbei und blieben vor einem Stapel Schilder stehen, die an einer Wand lehnten und deren Ecken mit Pappe geschützt waren. Die Schilder mussten noch montiert werden, doch eines wies ihnen mit einem eleganten schwarzen Pfeil den Weg zu Julia Embrys Büro. Joe klopfte an und riss die Tür auf, ohne auf Antwort zu warten. Julia zuckte zusammen und fuhr vom Stuhl hoch.
»Wo ist Mary?«, fragte Joe scharf.
Julia nickte. Sie war leichenblass. »Ja … ja, Sie haben recht, Mary ist hier. Sie ist in Sicherheit.«
»Wissen Sie, wie viele Menschen sie suchen?«, fragte Joe. »Sind Sie verrückt?«
Danny legte eine Hand auf Joes Arm. Joe schüttelte sie ab.
»Was ist hier los?«, fragte er.
Julia brach in Tränen aus.
»Hören Sie mit dem Geplärre auf!«
»He, Joe«, sagte Danny. »Beruhig dich.« Er wandte sich Julia zu. »Wir sind froh, dass Mary in Sicherheit ist, Mrs Embry.«
»Danke.«
»Wo ist sie?«
»In einer Wohnung im neuen Gebäude. Ich habe sie sofort hierher bringen lassen. Ich konnte nicht mit ansehen, dass sie noch mehr durchmachen musste. Ich wusste, dass Mary Sie angerufen hatte und dass Sie freundlich zu ihr waren. Aber ihr Leben war völlig auf den Kopf gestellt, und ich wollte ihr weitere Unannehmlichkeiten ersparen. Sie hat mir schrecklich leidgetan.«
»Ist Stan auch hier?«
»Ja.«
»Mein Gott«, murmelte Joe.
Julia setzte sich wieder. »Ihre Familie ist durch enge Bande miteinander verbunden, Detective. Das habe ich gelesen. Bei wem es nicht so ist, bei dem entwickelt sich eine andere Dynamik. Stan und Mary können verschwinden, ohne dass es jemanden interessiert. Sie haben keine Familie, die sich Sorgen macht, wenn sie plötzlich nicht mehr da sind. Wie oft werden Vermisstenmeldungen ausgefüllt und …«
»Ich muss Sie unterbrechen«, sagte Joe. »Sagen Sie mal, schätzen Sie mich so ein, als hätte ein Menschenleben keinen Wert für mich?«
Julia errötete und wich seinem Blick aus. »Nein, das tue ich nicht.«
»Dann ist es ja gut«, stieß Joe hervor. »Sie müssen nämlich wissen, dass es in meinem Job viele Leute gibt, die sich Sorgen machen: mein Partner, ich selbst, die gesamte Sondereinheit. Wir sorgen uns um die Menschen, die wir kennengelernt haben. Glauben Sie, ich lerne einen Menschen wie Mary Burig kennen, und wenn sie dann verschwindet, vergesse ich die Sache einfach? Sie können nachts gut schlafen, wenn Sie wissen, dass Mary in Sicherheit ist. Aber ich kann es nicht. Ich wache auf und frage mich, was ich falsch gemacht habe. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie an meiner Stelle wären?«
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen …«
Joe schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht bestreiten, dass Sie mit dieser Klinik ein großartiges Projekt verwirklicht haben. Es ist bewundernswert, wie vielen Menschen Sie schon helfen konnten. Es müsste Tausende dieser Kliniken im ganzen Land geben.«
»Danke«, sagte Julia leise. »Das bedeutet mir sehr viel.« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich weiß auch nicht, wie ich in diese Situation geraten konnte. Es tut mir leid.« Sie hob den Blick zu Joe. »Woher wussten Sie es?«
»Ich sehe oft Menschen weinen«, erwiderte Joe. »Ich sehe richtige Tränen, und ich sehe vorgetäuschte Tränen. Als ich Ihnen gesagt habe, dass es Stan war, der mit Robin zusammengestoßen ist, habe ich richtige Tränen gesehen. Aber ich wusste, dass Sie aus einem anderen Grunde geweint haben. Ich hatte den Eindruck, ich hätte Ihnen etwas gesagt, was Sie bereits wussten. Ergibt das einen Sinn? Manchmal sieht man Menschen auf einer Beerdigung weinen, und man merkt, dass noch etwas anderes dahintersteckt. So ungefähr war es.«
Julia lächelte betrübt. »Sie haben recht. Ich habe aus einem anderen Grund geweint.«
»Und aus welchem?«
»Es hat mich daran erinnert, dass ich einen Sohn hatte, der sterben wollte.«
»Was?«
»Robin ist Stan mit Absicht ins Auto gefahren.«
»Und Sie glauben das?«, fragte Joe.
»Ja. Das Leben zu Hause war unerträglich. Ich wusste, dass es ihm nicht gut ging. Es war alles zu viel für ihn. Er hatte schon einen Selbstmordversuch hinter sich. Stan hat bestätigt, was ich vermutet hatte.«
»Wie haben Sie erfahren, dass es Stan war?«
»Er hielt es nicht mehr aus und hat es mir gebeichtet. Er sagte, er könne nicht mit der Schuld leben, und meine Freundlichkeit würde alles noch viel schlimmer machen. Er konnte nicht einfach gehen, weil er wusste, wie wichtig er mir war, doch er wollte auch nicht länger bleiben, weil er jeden Tag das Gefühl hatte, mich zu täuschen.«
»Wie haben Sie reagiert, als er es Ihnen gesagt hat?«
»Ich war am Boden zerstört.«
»Aber Sie haben sich davon erholt.«
Julia blickte ihn stumm an.
»Ja, Sie haben sich rasch davon erholt, als Sie begriffen haben, dass Ihnen für den Rest Ihres Lebens jemand zur Seite stehen und alles für Sie tun würde, weil er Ihnen das Kind genommen hatte.«
»So zynisch bin ich nicht.«
»Sie wussten genau, was Sie taten, Mrs Embry.«
»So war es nicht. Stan war ein treuer Freund geworden. Ich habe meinen Sohn und meinen Mann verloren. Ich hätte es nicht ertragen, noch einen Menschen zu verlieren. Niemand konnte mir Robin zurückbringen. Stan war kein schlechter Mensch. Ich hätte nichts gewonnen, wenn ich ihn zurückgewiesen hätte.«
»Okay. Was geschah in jener Nacht in der Klinik?«
»Der Killer kam zurück und brachte Mary zum zweiten Mal in seine Gewalt. Ich hielt mich als Einzige in der Klinik auf. Als ich Geräusche in einer der Wohnungen hörte, ging ich hinein. Er fuhr zu mir herum. Dabei löste sich ein Schuss. Es war ein Reflex. Er hatte gar nicht auf mich gezielt. Die Kugel verfehlte mich. Ich schrie, Mary schrie. Stan stürzte ins Zimmer und erschoss ihn. Es war Notwehr. Alles ging blitzschnell.«
Joe schaute sie ungerührt an. In seinem Innern tobte Wut. »Was geschah mit Mary?«
»Es herrschte Chaos … der Lärm, die Schüsse … Sie kroch an uns vorbei und lief den Gang hinunter. Wir standen alle unter Schock. Mary versteckte sich in einer der Wohnungen. Ich rannte hinter ihr her.«
»Er hat den Leichnam in die Tücher gewickelt, die in dem Raum lagen, dann in Plastikfolie, und dann hat er ihn vergraben.«
Joe schüttelte den Kopf. »Und da hat Mary uns angerufen?«
Julia nickte. »Ich glaube ja. Ich bat Stan, sie zu suchen und sie in die neue Klinik zu fahren. Sie hatte sich im Materialraum in der Eingangshalle versteckt. Wahrscheinlich sind Sie an dem Raum vorbeigelaufen, als Sie das Gebäude betreten haben …«
»Erzählen Sie weiter«, sagte Joe.
»Es war schrecklich«, fuhr Julia fort. »Es brach Stan beinahe das Herz, dass er Mary praktisch überwältigen musste, ehe er sie wegbrachte. Er musste sie fesseln. Einen Menschen, an dem er so sehr hängt!«
»Sie und Stan müssen mitkommen«, sagte Joe. »Und wir müssen Mary sehen.«
»Sie ist draußen. Bitte erlauben Sie mir, Magda Oleszak anzurufen. Vielleicht können Sie Mary zu ihr bringen. Ich möchte nicht, dass Mary Sie aufs Revier begleiten muss.«
»Also gut«, sagte Joe.
Mary kniete vor den Blumenbeeten und schlug mit den Händen wild auf die frisch gepflanzten Blumen ein. Die Erde war bereits mit gelben und orangefarbenen Blütenblättern übersät. Mary weinte und schrie den Namen ihres Bruders.
Joe lief über den Rasen auf sie zu und kauerte sich neben sie. »Mary?«
Sie hob den Blick zu ihm. In ihren blassen Augen schimmerten Tränen.
»Mary? Haben Sie etwas gesehen?«
Tränen rannen ihr über die Wangen. Joe legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Sie werden keine Schwierigkeiten bekommen, Mary.«
Sie schüttelte den Kopf. »Doch.«
»Nein«, sagte Joe. »Das werden Sie nicht.«
Sie senkte den Kopf und weinte.
Julia drehte sich zu Joe um. »Diese Klinik ist mein Leben. Ich wollte nicht, dass sie durch negative Schlagzeilen in ein schlechtes Licht gerückt wird. Wir sind kurz davor, die neue Klinik zu eröffnen. Es steht viel auf dem Spiel. Viele Menschen sind auf uns angewiesen, wenn sie überleben wollen. Es tut mir schrecklich leid, dass alles so enden musste. Es steckten die besten Absichten dahinter.« Julia schwieg einen Moment. »Wissen Sie, was für ein Gefühl es ist, wenn man etwas um jeden Preis erreichen will?«