13

Rufo saß in seinem Büro, kaute Tabletten gegen Blähungen und sagte sich, dass es an der Zeit sei, rohen Brokkoli von seinem Speiseplan zu streichen. Er beschloss, bei der Gelegenheit gleich auch von ein paar anderen Dingen Abstand zu nehmen. Nur weil etwas gut für den Körper war, musste es nicht unbedingt gut schmecken. Und man musste es auch nicht unbedingt gut vertragen.

»Hallo, Leute«, sagte er, als Joe und Danny sein Büro betraten. »Na, wie ist es gelaufen?«

»Der Mann heißt Blake«, sagte Danny. »Rencher hat ihn überprüft. Er ist sauber. Er wohnt in einem schicken Haus in Brooklyn Heights. Allein schon die Eingangshalle ist ’ne Wucht. Ein Wunder, dass der Bursche bisher noch nie in Schwierigkeiten war. Sieht so aus, als hätte er ’ne Menge Geld.«

»Auf jeden Fall hat er jetzt begriffen, dass Geld ihn nicht automatisch vor Katastrophen bewahrt«, sagte Joe. »Nicht dass Sie mich falsch verstehen, Chef – ich finde es tragisch, was ihm zugestoßen ist.«

»Ist er schwul?«, fragte Rufo.

»Nein.«

»Wie kommt er darauf, er wäre Opfer unseres Täters geworden?«

»Er hat den Fremden in sein Haus gelassen«, sagte Joe. »Und der hat ihn mit dem Gesicht auf eine Kante der Arbeitsplatte geschmettert und eine Waffe auf ihn gerichtet, ohne dass er eine Chance hatte, sich zu wehren.«

»Aber der Trick mit der Brieftasche wurde bei Blake nicht angewandt«, sagte Danny. »Der Mann gab sich als Immobilienmakler aus.«

Rufo rieb sich das Kinn. »Hm. Das macht es uns nicht gerade einfacher.«

»Es gibt nur zwei Dinge, die bei allen Morden gleich abliefen«, sagte Joe. »Der Täter hat die Gesichter seiner Opfer brutal zerschlagen und sie mit einer Waffe vom Kaliber zweiundzwanzig getötet. Das war in allen drei Fällen so. Dem Täter ist es offenbar egal, wie er sein Ziel erreicht. Wenn er erst einmal ins Haus gelangt ist und die Opfer in seine Gewalt gebracht hat, nimmt alles seinen Lauf.«

»Vielleicht geht es ihm allein darum, die Gesichter seiner Opfer zu zerschlagen«, meinte Rufo. »Und er erschießt sie nur, damit sie ihn nicht identifizieren können.« Rufo zuckte mit den Schultern. »Okay, Männer. Bleibt an der Sache dran und haltet mich auf dem Laufenden.«

»Wird gemacht, Chef«, sagte Joe.

Victor Nicotero saß mit einem Bier, einem Notizheft und einem silbernen Kugelschreiber am Küchentisch, als Joe die Küche betrat.

»Hübsches Sicherheitssystem«, spöttelte Joe.

»Patti«, erwiderte Old Nic kopfschüttelnd. »Die Frau ist wie eine Naturgewalt. An Banalitäten wie das Schließen der Türen und das Lichtausschalten denkt sie einfach nicht.«

»Scheint mir auch so«, sagte Joe. »Die Tür stand sperrangelweit auf.«

»Euer Serienmörder hätte mich totschlagen können«, meinte Old Nic.

»Ich glaube, ihm gefällt die Stadt zu gut.«

»Lass uns gehen. Ich bin hier fertig.«

»Sag mal, schreibst du alles mit der Hand?«

»Ja, ich schreib nun mal ein Buch«, sagte Nic. »Oder hast du schon mal gehört, dass jemand sagt, er tippt ein Buch?«

Joe nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich neben Old Nic.

»Willst du hier einziehen?«, fragte Nic.

Joe lächelte. »Und mit so einem Griesgram die Wohnung teilen? Nein. Da plage ich mich lieber weiterhin mit einem Sohn ab, der außer Kontrolle geraten ist.«

»Na, das ist nicht ganz so schwer, wenn einem dabei eine hübsche Französin wie Anna zur Seite steht. Wie läuft’s zu Hause? Hast du meinen Rat befolgt?«

»Natürlich. Die Lage hatte sich auch schon entspannt … bis gestern Abend.« Joe erzählte ihm, was im Restaurant Pastis geschehen war.

»Die Hormone spielen verrückt«, sagte Nic.

Die Küchentür hinter ihnen wurde aufgerissen, und schwere Schritte näherten sich der Schiebetür. Joe und Nic hoben den Blick. Bobby, einen billigen Blumenstrauß in der Hand, beugte sich auf die Terrasse hinaus. Er runzelte die Stirn und schaute sich im Garten um.

»Ist Mom nicht da?«, fragte er und nickte Joe knapp zu.

»Sie ist einkaufen«, sagte Nic. »Möchtest du ein Bier?«

»Nein, danke. Mom hat mich gebeten, eine Tür im Schlafzimmer zu reparieren. Die schließt wohl nicht richtig.«

»Das habe ich schon erledigt, Junge. Setz dich. Es ist ein schöner Abend.«

»Du hast das schon erledigt?«, stieß Bobby hervor. »Wann denn?«

»Heute Nachmittag. Deine Mutter nervt mich schon seit Wochen damit.«

»Aber wegen der Tür bin ich extra hergekommen!«

»Du warst doch auch am Wochenende hier. Warum hast du es da nicht schon gemacht?«

Bobby seufzte und spähte zu Joe hinüber, der sich eine Zeitschrift vom Tisch genommen hatte.

»Hast du gegessen?«, fragte Old Nic.

»Nein«, antworteten Bobby und Joe im Chor.

»Entschuldigung«, sagte Joe. »Ich dachte, du meinst mich, Nic.«

»Ich meinte euch beide.«

»Ich will nicht länger stören.« Joe stand auf.

»Du bleibst, wo du bist«, sagte Bobby. »Da ich gerade hier bin, gehe ich die Kinder besuchen. Die hier sind für Mom.« Er hielt die Blumen in die Höhe. »Ich leg sie in die Spüle.«

»Okay. Pass auf dich auf.« Nic seufzte, drehte sich zu Joe um und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch Joe blickte in die Ferne und dachte an Shaun.

Am nächsten Morgen fuhr Joe zeitig ins Büro, um den Abholservice der chemischen Reinigung nicht zu verpassen, der dreimal in der Woche die Anzüge abholte. Er achtete immer darauf, zwei vollständige Garnituren im Spind zu haben, aber jetzt hatte er nur noch eine. Er ging gerade zurück an seinen Schreibtisch, als sein Telefon klingelte.

»Lucchesi«, meldete er sich.

»Joe, hier ist Giulio.«

»Hallo, Dad. Alles in Ordnung?«

»Ja. Ich habe neulich deinen Namen in der Zeitung gelesen.«

»Ach ja?«

»Ja. Es ist eine Schande.«

»Was ist eine Schande?«

»Dieser ganze Wirbel.«

»Was für ein Wirbel?«

»Können sie dich nicht aus dem Spiel lassen?«

»Wer?«

»Die Medien.«

»Ich hab mit keinem einzigen Journalisten gesprochen, Dad. Die tun bloß ihren Job. Ich war in einen Fall verwickelt, der für Schlagzeilen gesorgt hat. Daraus machen sie nun eine wilde Story, aber das ist nicht meine Schuld.«

»Aber du stehst schon wieder im Licht der Öffentlichkeit, und die Journalisten kramen alles hervor, was dir, Anna und Shaun widerfahren ist. Du musst daran denken, was es für deine Familie bedeutet, wenn du dich in den Vordergrund drängst.«

»Ach, daher weht der Wind«, sagte Joe. »Ich dränge mich nicht in den Vordergrund, Dad. Ich leite eine Ermittlung. Es ist ja nicht so, dass ich von ein paar Morden und dem Interesse der Medien gehört und dann gesagt habe: ›Das ist ja großartig, bitte setzen Sie mich in dem Fall als leitenden Detective ein.‹«

»Ich habe nur gesagt …«

»Ich weiß, was du gesagt hast, Dad. Du gehst von falschen Fakten aus. Du kannst nicht die ganze Welt kontrollieren.«

»Ich mache mir Sorgen.«

»Das ist Unsinn. Hör mal, wir reden später darüber. Ich muss jetzt los.«

Joe legte auf und ging zur Kaffeemaschine. Es stank nach saurer Milch und verbranntem Kaffee. Auf der Tischplatte waren dunkle Ringe, und auf dem Fußboden war Kaffeemehl verstreut.

»Warum macht hier nicht jeder seinen Dreck selbst weg?«, schimpfte er. »Es geht nicht an, dass Ruthie das immer machen muss. Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie hat genug damit zu tun, jeden anderen Mist für euch Faulpelze zu erledigen.«

»Danke, Joe«, rief Ruthie von der Rezeption.

»Tut mir leid, Ruthie«, rief Martinez.

Joe nahm ein Papiertuch und wischte den Tisch ab. Dann beugte er sich hinunter, um einen zerknüllten Zettel aufzuheben, der den Papierkorb verfehlt hatte. Es war ein Ausdruck aus dem Pages-Programm, mit dem er arbeitete. Joe strich den Zettel glatt. Jemand hatte mit rotem Filzstift »Fröhliche Weihnachten und ein glückliches neues Jahr« daraufgeschrieben und auf sämtliche Opfer Nikolausmützen gezeichnet. Unter dem Foto von Gary Ortis stand: »Grüße von der Ortis-Familie. In diesem Jahr wurde Gary ermordet. Sein entstellter Leichnam wurde in seiner Diele gefunden. Er wurde stundenlang gequält. Und sein Killer ist noch immer auf freiem Fuß! Schöne Feiertage!«

Joe schaute sich in dem Raum um und betrachtete die Kollegen, die die ursprüngliche Sondereinheit gebildet hatten, ehe weitere Detectives hinzugekommen waren: Denis Cullen – ein Mann, der nicht mit dem Herzen bei der Sache war, sondern seine Energie für die Besuche bei seiner kleinen kranken Tochter aufsparte. Tom Blazkow – zuverlässig und gewissenhaft. Martinez – engagiert, aber zynisch und engstirnig. Roger Pace – nicht viel mehr als Bobby Nicoteros langer, dünner Schatten. Rencher – ein tüchtiger Mann, aber nicht besonders scharfsinnig. Und schließlich Bobby Nicotero – Joe schaute auf das Blatt – und seine mädchenhafte Schrift.

»Mann Gottes, Lucchesi, das ist dein verdammtes Telefon!«, rief Martinez vom anderen Ende des Büros.

Joe warf den Zettel in den Papierkorb und lief zu seinem Schreibtisch.

»Detective Lucchesi?«, sagte eine Männerstimme. »Hier Preston Blake.«

Joe konnte nicht sofort erkennen, ob es in der Leitung zischte oder ob es tatsächlich Preston Blakes Stimme war.

»Oh, hallo …«

»Sie verdammtes Arschloch!«, rief Blake.

»Wie bitte?«, sagte Joe.

»Sie ignoranter Mistkerl!« Blake schluchzte jetzt.

Joe schaute sich im Raum um, sah aber niemanden, mit dem er Blickkontakt herstellen konnte. Sein Handy, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, vibrierte. Es war Danny.

»Würden Sie bitte einen Augenblick warten, Mr Blake?« Joe legte das Gespräch in die Warteschleife.

»Joe? Hier ist Danny. Ich bin gleich da. Hast du die erste Seite der Post gesehen? Nimm bloß kein Gespräch von Preston Blake entgegen, bevor du den Artikel gelesen hast.«

»Tja, deine Warnung kommt ein bisschen spät. Ich habe Blake gerade in der Leitung.«

»Oh, tut mir leid. Sieh auf Martinez’ Schreibtisch nach. Er müsste ein Exemplar der Post haben. Die Presse bezeichnet Blake als den ›Mann, der davonkam‹. Wie konnte das passieren?«

»Woher soll ich das wissen?« Joe ging zu Martinez’ Schreibtisch und nahm die Zeitung auf. »Mist!«, sagte er. »Wir waren die Einzigen, die es wussten. Du, Rencher, Martinez, Rufo und ich!«

»Kannst du nicht einfach auflegen? Tu so, als wäre die Leitung gestört.«

»Gute Idee.«

»Oder sag ihm, du hast jemanden an der Haustür gehört.«

Joe lachte. »Ich komm schon klar.«

»Und wie? Stellst du ihn zu Rufo durch?«

»Vielleicht. Jedenfalls kann ich ihn nicht länger warten lassen. Wir müssen jetzt Schluss machen.«

»Ruf mich hinterher an, ja?«

»Okay.« Joe nahm den Hörer des Festnetztelefons wieder auf. »Tut mir leid, Mr Blake. Dürfte ich mir den Artikel durchlesen, bevor wir uns unterhalten?«

»Ich werde Ihnen die Mühe ersparen. Ich zitiere: ›Preston Blake, den Sie hier in glücklicheren Zeiten sehen‹ … hier ist ein Foto meines lächelnden Gesichts abgebildet … ›bevor er angeblich das Opfer des Besuchers wurde. Blake ist der Einzige, der das unglaubliche Glück hatte, diesen entsetzlichen Angriff zu überleben.‹ Und weiter: ›Preston Blake führte in seiner Luxusvilla in Brooklyn Heights das Leben eines wohlhabenden Einsiedlers. Hier soll er den Gerüchten zufolge schon vor sechs Monaten Opfer eines brutalen Überfalls geworden sein. Mr Blake hatte sich geweigert, sich nach der Entdeckung des verstümmelten Leichnams von Ethan Lowry am siebten September zum letzten Opfer des Besuchers zu äußern.‹ Und ein Stück weiter unten: ›Während noch unklar war, wie lange Mr Blakes Martyrium in den Händen des Besuchers dauerte oder wie schwer seine Verletzungen waren, bekam er Besuch von Detective Joe Lucchesi, Mordkommission Manhattan Nord, der sich neue Erkenntnisse für seine Ermittlungen erhoffte. Detective Lucchesi erlangte Berühmtheit …‹ Und dann steht da etwas über Ihre Leidensgeschichte. Ich bedaure sehr, was Sie, Ihre Frau und Ihr Sohn durchgemacht haben, aber das ändert nichts daran, dass ich stinkwütend auf Sie bin, Sie verdammter Lügner! Sie haben mich hereingelegt und mich den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben!«

»Ich versichere Ihnen, Mr Blake, dass ich mit diesen Enthüllungen nicht das Geringste zu tun habe. Ich habe Ihren Wunsch nach Diskretion respektiert und mich daran gehalten. Möchten Sie, dass wir Ihr Haus bewachen lassen? Würden Sie sich dann sicherer fühlen?«

»Nein. Ich habe Ihnen erlaubt, mein Haus zu betreten, und das war schon einmal zu viel! Wissen Sie, wie viele Menschen seit dem Überfall in meinem Haus waren?« Blake verstummte kurz. »Ich bekomme nie Besuch. Ich habe monatelang zurückgezogen gelebt und war glücklich damit. Und dann tauchen Sie auf, und alles ist vorbei. Begreifen Sie? Ich stehe in den Schlagzeilen, verdammt noch mal.«

»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber ich versichere Ihnen, dass die Informationen nicht von mir oder irgendeinem meiner Kollegen stammen, die in diesem Fall ermitteln.«

»Das kaufe ich Ihnen nicht ab, denn von mir stammen diese Informationen mit Sicherheit auch nicht. Das hätte niemals an die Öffentlichkeit dringen dürfen! Können Sie sich vorstellen, wie verarscht ich mich fühle? Soll ich mich jetzt einfach zurücklehnen und mein Schicksal akzeptieren, Detective?«

»Nein. Aber das geht bald vorüber, Mr Blake. Die Presse hat größeres Interesse an dem Täter. Nur weil die Reporter in dieser Woche kein neues bluttriefendes Opfer haben, greifen sie Ihre Geschichte auf. Wir wissen nicht, wie die Presse an die Informationen gekommen ist, aber sie wird sich schnell wieder anderen Themen zuwenden.«

»Genau wie ich, Detective. Ich habe nichts mehr dazu zu sagen. Sie sollten jetzt Wort für Wort nachlesen, was ich Ihnen an dem Tag erzählt habe, als ich so dumm war, Sie in mein Haus zu lassen. Ich hoffe, Sie finden in diesen Seiten eine Erleuchtung. Denn meine Kooperation ist hiermit beendet.«

»Das können Sie nicht tun!«

»Oh doch, das kann ich.«

»Sie sind der Einzige, der den Täter gesehen hat.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt. Und wissen Sie was? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, eines Tages im Zeugenstand zu sitzen und mit dem Finger auf diesen sogenannten Besucher zu zeigen. Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Sie eines Tages den nötigen Einblick gewinnen werden, um ihn zu schnappen! Wenn Sie ihn jetzt nicht kriegen, Detective, kriegen Sie ihn nie!«

»Da muss ich Ihnen widersprechen, Mr Blake. Meine Kollegen und ich …«

»Ihre Kollegen und Sie lassen Informationen durchsickern, Detective. Ein undichter Kessel hält das Wasser nicht. Und ein undichter Kessel sinkt.«

Als das Amtszeichen ertönte, legte Joe auf und eilte zu Rufos Büro.

»Ah, Joe. Kommen Sie herein«, sagte Rufo. »Und schließen Sie die Tür.«

»Sie haben die …?«

»Die Post? Ja, die habe ich gelesen. Was ist passiert?«

Joe schüttelte den Kopf. »Blake ist stocksauer. Er hat gerade angerufen und geschimpft wie ein Rohrspatz. Danny und ich hätten ihn verraten und den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben …«

»Was haben Sie ihm gesagt?«

»Ich wollte ihm natürlich widersprechen und ihm sagen, dass das alles gar nicht stimmt, aber er hat mir nicht zugehört.«

»Wissen Sie, wer das geschrieben hat? Artie Blackwell. Rufen Sie ihn an und versuchen Sie herauszufinden, wer ihm die Infos zugespielt hat.«

»Artie Blackwell? Dieser Giftzwerg! Von mir weiß er nichts.«

Rufo überflog noch einmal die Seite. »Ziemlich komische Sache. Glauben Sie, Blake gefällt die Aufmerksamkeit?«

»Wenn Sie den gerade am Telefon gehört hätten … ich glaube kaum. Der Mann lebt wie ein Einsiedler.«

»Hat er ein Gespräch mit dem Polizeipräsidenten, dem Bürgermeister, der Presse oder Larry King verlangt?«

»Nein.«

»Hat er irgendetwas von Ihnen verlangt? Haben Sie ihm gesagt, dass wir sein Haus bewachen lassen könnten?«

»Ja. Er hat es abgelehnt.«

»Okay«, sagte Rufo. »Ich rufe ihn an und versuche, ihn zu beruhigen.«

»Danny und ich sind dann unterwegs«, sagte Joe. »Überwachung der Poststelle.«

»Viel Glück«, sagte Rufo und nahm den Hörer ab.

In der Einundzwanzigsten Straße herrschte werktags stets reger Betrieb. Danny und Joe parkten gegenüber von der Poststelle, wo die Briefe eingeworfen worden waren. Sie hatten die Klimaanlage auf die höchste Stufe gestellt, denn die Sonne knallte auf die glänzende schwarze Motorhaube. Danny und Joe beobachteten jeden, der das Gebäude betrat oder verließ.

Plötzlich prallte etwas gegen das Fenster auf der Fahrerseite. Joe drehte sich um und sah die weiße Ritze eines Hinterns, der gegen die Scheibe gepresst wurde. Draußen rief jemand: »Scheißkerl! Du verdammter Hurensohn!«

Ein großer Pappbecher landete auf der Motorhaube des Wagens. Erdbeermilchshake spritzte auf die Windschutzscheibe des nagelneuen Chevy Impala der Mordkommission Manhattan Nord.

»So ein Blödmann!«, rief Danny.

Joe schlug mit dem Unterarm gegen die Scheibe. »Weg da!«

Danny stieg aus. »Was ist hier los?«, fuhr er die beiden Männer an.

»Das geht Sie nichts an«, erwiderte der Mann, der den anderen gegen das Fenster presste. Er hatte starkes Übergewicht, sodass der Dürre unter ihm kaum noch Luft bekam.

»Sie erdrücken Ihren Kumpel, wenn Sie nicht von ihm runtergehen«, sagte Danny. »Auf jeden Fall steigt mein Freund jetzt auf meiner Seite aus und erschießt Sie beide. Gehen Sie da weg, los!«

Der übergewichtige Mann zog seinen Freund von der Tür weg, worauf Joe ausstieg.

»Was ist hier los?«, fragte Joe. »Warum muss ich eine so intime Bekanntschaft mit Ihrem pickeligen Hintern machen?«

Der dürre Mann schaute sich um und zog hastig seine Hose hoch.

»Ich … ich …«, stammelte der Dicke, der allmählich begriff, dass er es mit zwei Polizisten zu tun hatte.

»Uns ist es egal, was Sie treiben«, sagte Danny. »Solange Sie Ihrem Freund nicht wehtun, wollen wir nur, dass Sie hier abhauen.«

»Geht klar«, sagte der Dicke.

Der Dünne hatte eine Plastiktüte von Gristedes auf die Erde gelegt. Nun beugte er sich hinunter, nahm eine Literflasche Poland Springs heraus und reichte Joe das Wasser.

»Für das Auto«, sagte er und zeigte auf die Milchshakeflecken.

»Oh, danke«, sagte Joe. »Vielen lieben Dank.«

»Sehr umsichtige Leute hier in der Gegend.« Danny grinste.

Joe goss das Wasser über die Windschutzscheibe und die Motorhaube und bemühte sich, möglichst viel von dem Milchshake zu entfernen. Dann stiegen sie wieder in den Wagen. Joe bemühte sich, den fettigen Schmierfilm auf dem Fahrerfenster zu übersehen.

Er schaltete die Scheibenwischer ein, worauf eine wässrige Mischung aus Milchshake und Seifenlauge über die Scheibe rann. Als sie wieder klare Sicht hatten, rutschte Danny plötzlich im Sitz nach vorn. »Schau dir den mal an«, sagte er.

Der Mann, der auf die Poststelle zuging, war Mitte vierzig und knapp einsachtzig groß. Er trug eine saubere, blaue Carhartt-Arbeitshose, schwere schwarze Stiefel und ein Jeanshemd mit aufgerollten Ärmeln. Die beiden oberen Hemdknöpfe waren geöffnet. Er hatte hellbraunes, lichtes Haar und ein Allerweltsgesicht.

Joe und Danny schauten auf das Foto, das sie vom Überwachungsvideo ausgedruckt hatten.

»Das ist unser Mann«, sagte Joe. »Los, komm!«

Sie sprangen aus dem Wagen und rannten los. »Polizei«, rief Joe und zückte seine Dienstmarke.

Der Mann, den Brief in der Hand, blieb wie angewurzelt stehen. Dann war Joe auch schon bei ihm, riss ihm die Arme auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.

»Sagen Sie uns Ihren Namen. Wie heißen Sie?«

»Stanley Frayte … was wollen Sie von mir? Was soll das? Was habe ich verbrochen?«

»Das wird sich zeigen«, sagte Joe.