26

Kaum hatte Joe die Haustür geöffnet, stürmte Anna auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.

»Oh, Joe! Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht!«

»Du brauchst dir niemals Sorgen um mich zu machen, mein Schatz. Unkraut vergeht nicht. Pass lieber auf dich auf. Auf euch beide. Und auf den großen Jungen da oben. Das allein ist wichtig.«

Sie küsste ihn.

Joe schaute ihr in die Augen. »Es tut mir leid, Anna. Alles. Wie konnte ich nur so ein Idiot sein?«

»Ist schon okay.«

»Nein, ist es nicht. Ich war ein verdammter Trottel. Ich hoffe, du verzeihst mir. Ich war nicht genug für dich da.«

Sie schmiegte sich an ihn. »Und ich nicht für dich.«

»Lass uns noch einmal neu beginnen. Du und ich, Shaun und der kleine Giulio.«

Als Danny das Haus betrat, fiel ihm sofort die Stille auf. Das Spielzeug der Kinder lag ordentlich im Wohnzimmer, in Plastikboxen verstaut. Alles war aufgeräumt. Danny ging in die Küche, drückte die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters und hörte sich an, was er selbst mit verhaltener Stimme aufgesprochen hatte: »Liebling, wenn du dir das hier anhörst, bin ich es. Wir waren in einen Unfall verwickelt, Joe und ich, und wir hatten verdammtes Glück … ein Feuer …« Ihm stockte der Atem. »Bitte überleg es dir noch einmal. Die Kinder brauchen mich … sie brauchen uns …«

Es war ihm egal, wie verzweifelt seine Stimme klang. Im Augenblick interessierte ihn nur, dass Gina diese Nachricht gehört hatte und offenbar dennoch gegangen war. Er hörte sich den Schluss an: »Ich brauche dich. Ich liebe dich … Wir sind ein Team.«

Danny öffnete die Hausbar und nahm eine Flasche Whiskey heraus.

»Du Dummkopf«, sagte Gina und lief durch die Tür auf ihn zu. Sie schlug ihm auf die Schulter. »Du Blödmann! Ich hab mir schreckliche Sorgen gemacht.« Sie schlug ihn noch einmal und umarmte ihn dann. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie küsste ihn auf den Mund. Er erwiderte den Kuss.

»Wo sind die Kinder?« Danny schaute an ihr vorbei in die Diele.

»Bei meiner Mutter.«

»Aber du verlässt mich nicht?«, fragte Danny.

»Natürlich nicht. Gib mir auch ein Glas Whiskey, du Dummkopf.«

Am nächsten Morgen waren Joe und Danny um acht Uhr wieder im Büro. Joe zog sein Notizbuch aus der Tasche und suchte die Telefonnummer von Sonja Ruehling heraus.

»Mrs Ruehling, hier Detective Joe Lucchesi. Wir würden gerne noch mal mit Ihnen sprechen. So schnell wie möglich.«

Er nickte Danny zu.

»Ja … Wir hätten da noch ein paar Fragen«, sagte Joe. »Ja, sicher. Okay. Dann treffen wir uns dort.«

Sie fuhren zu einem Café in der Dreiundvierzigsten Straße, das nicht weit von dem Büro entfernt war, in dem Sonja Ruehling arbeitete. Sie saß in einer Ecke und wartete auf die Detectives. Vor ihr standen drei große Tassen Kaffee.

»Danke, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben«, sagte Joe. »Wir müssen mehr über Alan Moder erfahren. Wir können ihn nirgends aufspüren.«

»Okay. Jetzt wollen Sie bestimmt wissen, wie er aussieht?«

»Alles, was Sie uns über ihn sagen können, ist wichtig«, erklärte Danny.

»Also gut. Dunkelbraunes Haar, braune Augen, ein langes, schmales Gesicht … und er war ziemlich groß. Sportliche Figur, durchtrainiert. Er ist früher mal Rad gefahren. Er müsste jetzt dreiunddreißig sein …«

Joe schaute auf seine Notizen. »Nein, er ist fünfunddreißig.«

»Mann!« Sonja schlug mit der Hand auf den Tisch. »Dieser Typ ist einfach unglaublich.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Joe.

»Er lügt wie gedruckt. Er ist fünfunddreißig. Also wirklich, irgendwie bringt er mich noch heute mit dem Stuss, den er mir immer erzählt hat, auf die Palme.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Danny.

»Er war ein notorischer Lügner. Ich weiß, das sagt man so, aber auf ihn traf es wirklich zu. Er konnte nicht anders.«

»Könnten Sie uns das genauer erklären? In welcher Situation hat er gelogen?«

»In jeder. Es fing schon damit an, wenn er mir erzählt hat, wann er morgens aufgestanden war und was er zum Frühstück gegessen hatte. Wenn ich morgens herunterkam und da stand eine Pfanne mit den Resten von einem Rührei, hat er gesagt: ›Ich hab nur schnell ein Brötchen gegessen.‹ Oder ich habe ihn gefragt: ›Wo hast du das Hemd gekauft?‹, und er hat mir ein Geschäft genannt, und dann habe ich an dem Label gesehen, dass er es in einem ganz anderen Laden gekauft hatte. Ich wusste nicht, woran ich mit ihm war. Aber ich habe es ihm immer wieder durchgehen lassen. Wenn in seinen Geschichten irgendetwas nicht stimmte, habe ich es auf sein schlechtes Gedächtnis geschoben. Viele Männer haben ein schlechtes Gedächtnis, nicht wahr?«

»Ich schon«, gab Danny zu. »Meine Frau macht das verrückt.«

Sonja lächelte. »Können Sie sich vorstellen, was für ein guter Lügner man werden kann, wenn man ständig in kleinen Dingen lügt? Und wie viel einfacher es dann ist, auch in großen Dingen zu lügen?« Sie schüttelte den Kopf. »Es hat mich wahnsinnig gemacht. Und am Ende hat man das Gefühl, man sei verrückt. Das war das Schlimmste.«

»Sie haben bei unserem ersten Gespräch gesagt, dass die Beziehung im Bösen endete«, sagte Joe.

»Als ich herausbekommen hatte, dass er mich betrogen hat, bin ich gegangen.«

»Haben Sie es ihm ins Gesicht gesagt?«

»Nein. Das ist nicht meine Art. Ich bin einfach gegangen. Ich habe ihm nur ein paar Zeilen geschrieben, dann war ich verschwunden.«

»Hat er anschließend versucht, Verbindung zu Ihnen aufzunehmen?«

»Ja, ein oder zwei Mal in den Wochen darauf, aber er war nicht allzu hartnäckig.«

»War er jemals gewalttätig?«

»Nein.« Sonja schaute die Detectives an. »Sie glauben doch nicht … o Gott, Sie glauben doch nicht etwa, er könnte etwas mit Deans Tod zu tun haben?«

»Wir wollen nur mit Ihnen reden«, sagte Joe. »Und ein paar neue Erkenntnisse gewinnen.«

»Nein, er war niemals gewalttätig. Nur damals in dem Restaurant, als er durchgedreht war, aber das war keine körperliche Gewalt …« Sonja verstummte. Sie erkannte, dass sie vermutlich etwas gesagt hatte, das die Detectives schon häufig von Unschuldigen gehört hatten, die in Mordermittlungen verwickelt waren.

»Nur weiter«, sagte Joe. »Was wollten Sie sagen?«

»Nachdem unsere Beziehung zerbrochen war, wollte ich eine Zeit lang unbedingt herausfinden, warum Alan so gewesen ist.«

»Warum?«, fragte Joe.

»Vor allem, um mich davon zu überzeugen, dass es nicht verrückt von mir gewesen war, eine Beziehung mit ihm einzugehen, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Ja.« Joe nickte.

Sonja fuhr fort: »Es stellte sich heraus, dass er mir größtenteils Unsinn erzählt hatte. Er hatte behauptet, sein Vater sei Multimillionär, und ihnen gehörten Häuser in der ganzen Welt, und seine Mutter würde bei den Vereinten Nationen als Dolmetscherin arbeiten. Es war unglaublich, wie detailliert er alles geschildert hat. Aber einiges stimmte auch. Seine Familie wohnte in einem riesigen Haus in einem hübschen Viertel von Maplewood, aber sie hatten nicht viel Geld. Sein Vater hatte das Haus gebaut. Ihm gehörte eine Baufirma, die dann aber pleite ging. Er hatte zwar das Haus, aber kein Geld, obwohl es so aussah, als wären sie reiche Leute. Und seine Eltern schienen ihre Kinder dazu anzuhalten, genau das zu erzählen und sich auch so zu verhalten. Ich glaube, Alan hat schon als Kind das Lügen gelernt. Er hatte sechs Geschwister, stand aber nur einer Schwester nahe, die später ums Leben kam. Er trug nicht die geringste Schuld daran, fühlte sich aber schuldig, weil er in der Nacht, als es passierte, seinen Eltern nicht verraten hatte, wohin die Schwester gegangen war. Sie hatte sich mit ein paar Freunden in einem Steinbruch getroffen. Wenn ihr Vater es gewusst hätte, hätte er es ihr verboten, denn es war gefährlich, weil es in der Woche heftig geregnet hatte. Der Untergrund in dem Steinbruch gab nach, und sie stürzte in die Tiefe und starb kurz darauf.«

»Woher wissen Sie, dass das alles stimmt?«

»Für seine Eltern war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach dem Unfall haben sie gänzlich mit Alan gebrochen. Es muss sehr schwer für sie gewesen sein. Dean Valtry kannte Leute, die bei dem Unfall dabei waren; deshalb wusste ich, dass die Geschichte stimmte. Ich habe auch mit Alans Mutter gesprochen. Mir tat es schrecklich leid für ihn. Man hätte meinen sollen, dass das für ihn ein Grund gewesen wäre, mit dem Lügen aufzuhören, nicht wahr? Aber er war wie besessen.«

»Glauben Sie, er könnte sich geändert haben? Dass er jetzt vielleicht die Wahrheit sagt?«, fragte Danny.

Sonja lächelte. »Ich glaube, es dürfte jetzt sogar noch schwieriger festzustellen sein, ob er lügt oder nicht. Ich bin nicht dumm, aber er hat mich immer wieder zum Narren gehalten. Und das ist Jahre her. Er müsste jetzt ein sehr geübter Lügner sein.« Sie verstummte kurz. »Manchmal erzählte er die Wahrheit, manchmal veränderte er sie, und dann wieder stimmte kein Wort von dem, was er sagte.« Sonja schaute die beiden Detectives an. »Es braucht Ihnen nicht peinlich zu sein, dass er Sie hereingelegt hat. Für Alan macht es keinen Unterschied, ob er lügt oder die Wahrheit sagt. Er könnte vor Ihnen sitzen, und Sie würden nicht das kleinste Zucken in seinem Gesicht sehen – nichts, was man bei einem normalen Menschen beobachten würde. Alan verzieht keine Miene, errötet nicht, kommt nicht ins Stottern. Er sitzt ganz ruhig vor Ihnen und lügt Ihnen dreist ins Gesicht.«

Als Joe ins Büro zurückkehrte, klingelte sein Telefon.

Er nahm den Hörer ab. »Ja?«

»Detective Lucchesi? Hier ist Taye Harris von der Feuerwehr.«

»Hallo, Taye. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich wollte Sie nur informieren. Wir haben drei Propangasflaschen und einige Fetzen Klebeband in den Trümmern gefunden. Ich würde sagen, Ihr Täter hatte die Gasflaschen, aus denen das Gas entwichen ist, in einem provisorisch versiegelten Raum deponiert. Deshalb hätten Sie keinen Gasgeruch bemerkt, auch wenn Sie oben gewesen wären. In dem Hinterzimmer explodierten die Gasflaschen dann. Das Zimmer wurde als Fitnessraum benutzt. Sie hatten Glück, dass Sie nicht von den herabfallenden Trümmern getroffen wurden.«

»Wie kam es zu der Explosion?«

»Der Lichtschalter, auf den Ihr Partner gedrückt hat, war der Zünder. Es ist ein Kinderspiel, auf diese Weise eine Explosion auszulösen. Der Täter muss die Glühbirne benutzt haben. Man tränkt ein Stück Schnur in Benzin und wickelt es um die Fassung einer Glühbirne, genau über dem Gewinde. Sie schalten die Glühbirne an, lassen sie kurz brennen und tauchen sie dann in Wasser, sodass das Glas hauchfeine Risse bekommt. Sobald man die Glühbirne einschaltet, gibt es einen Zündfunken. Dieser Mistkerl hatte die Birne im Keller auf diese Weise manipuliert.«

»Ganz schön hinterhältig«, sagte Joe.

»Das wird gern in Gefängnissen praktiziert«, fuhr Harris fort. »Eine bewährte Methode, um jemanden auszuschalten. Zuerst wird die Glühbirne so bearbeitet, wie ich es eben beschrieben habe. Dann wird sie mit Klebstoff gefüllt, den die Sträflinge meist aus den Schuh-und Holzwerkstätten klauen. Wenn die Zellentüren während des Essens oder beim Sport unverschlossen sind, bleibt einer der Gefangenen zurück, schleicht sich in die Zelle des anderen und tauscht die normale Glühbirne gegen die präparierte Birne aus. Wenn der Gefangene in seine Zelle zurückkehrt und das Licht einschaltet, kommt es zur Explosion. Der Betreffende wird von brennendem Klebstoff getroffen, den er nicht von der Haut entfernen kann, und verbrennt jämmerlich. Manchmal machen sie sich gar nicht die Mühe, die Glühbirne zu manipulieren, sondern bewerfen den Häftling einfach mit dem brennbaren Material und schleudern ein Streichholz hinterher. Da gibt es kein Entrinnen.«

Heftiger Regen prasselte auf die grüne Markise des Bay Ridge Manor. Denis Cullen stand vor der Tür und lächelte, als er Joe und Danny erblickte, die sich ihre Jacketts über die Köpfe gezogen hatten und auf die Tür zuliefen.

»Danke, dass ihr gekommen seid.« Cullen begrüßte Joe und Danny herzlich. »Nach den Ereignissen gestern hatte ich eigentlich nicht damit gerechnet, euch hier zu sehen.«

»Mach dir keine Sorgen um uns«, erwiderte Joe und zog sein Jackett wieder an. »Wir sind gerne gekommen.«

»Das ist meine Tochter Maddy.« Cullen legte eine Hand auf Maddys Schulter. Sie hatte die Arme um ihren Dad geschlungen und lehnte sich gegen ihn – ein blasses, dünnes Mädchen mit strahlend blauen Augen.

»Du bist ein hübsches Mädchen«, sagte Danny. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen.«

Sie lächelte ihn an. »Danke. Ich freue mich auch. Was ist gestern passiert?«

»Jemand hat Detective Lucchesi einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Du hättest mal sehen sollen, wie er geheult hat. Wie ein Baby.«

Maddy kicherte.

»Dein Daddy ist ein ganz cooler Detective«, sagte Joe. »Ohne ihn wären wir bei der Ermittlung, an der wir gerade arbeiten, längst nicht so weit.«

Maddy lächelte und klammerte sich an Cullens Arm.

»Meine Frau hat das hier für dich gekauft.« Joe griff in die Tasche seines Jacketts und reichte ihr ein Armband aus rosafarbenen Perlen.

»Oh, ist das schön! Danke.« Maddy strahlte übers ganze Gesicht. »Woher wusste Ihre Frau, dass ich rosa mag?«

»Frauen sind die wahren Detectives«, sagte Cullen. »Das wissen wir doch von Mom, nicht wahr?« Er drückte zärtlich Maddys Schulter; dann wandte er sich wieder seinen Kollegen zu. »Geht rein und genehmigt euch ein paar Drinks.«