Der Leichnam von Ethan Lowry lag auf der perforierten Oberfläche eines Stahltisches im Untergeschoss der gerichtsmedizinischen Abteilung. Unter seinem Rücken lag ein Klotz, um den Rumpf zu stabilisieren, dem bereits die Organe entnommen worden waren. Eine handgeschriebene, blutverschmierte Liste mit den Gewichten der einzelnen Organe lag neben der Waage.
Joe und Danny trugen Einwegoveralls, Gummischürzen und Handschuhe. Den Mundschutz hatten sie inzwischen abgenommen. Joes Digitalkamera und sein Notizblock lagen auf dem Tisch neben ihm. Während der einzelnen Schritte der dreistündigen Autopsie hatte er sich Notizen gemacht, zahlreiche Fotos geschossen und Fragen gestellt.
Dr. Malcolm Hyland war noch sehr jung für einen Gerichtsmediziner. Die Detectives mochten ihn, weil er nicht von ihnen erwartete, dass sie über medizinische Vorkenntnisse verfügten, ohne dass er dabei arrogant auftrat. Er sprach leise, wie aus Respekt vor den Toten, doch wenn er das Mikrofon benutzte, um seine Befunde hineinzusprechen, redete er mit lauter, monotoner Stimme. Danny nannte ihn deshalb »Robodoc«.
»Ich bin bereit, Doc.« Joe griff nach seinem Notizblock und schlug ihn wieder auf.
»Okay«, sagte Hyland. »Geschätzter Todeszeitpunkt zwischen dreiundzwanzig Uhr abends und drei Uhr morgens. Die Todesursache war ein aufgesetzter Kopfschuss. Sie haben ja das kleine Einschussloch neben seiner Augenhöhle und die Kugel vom Kaliber zweiundzwanzig gesehen, die wir aus der Schädelhöhle entfernt haben. Die Schussbahn des Projektils verlief von links nach rechts, die Kugel blieb im Schläfenlappen stecken. Abschürfungen an den Wundrändern, die durch die Drehung der Kugel beim Eintritt entstanden. Da sie direkt über dem Knochen eindrang, haben wir sternförmige Risse in der Haut. Der Tod trat durch Hirnblutung ein.« Hyland hielt inne und ging auf die andere Seite des Obduktionstisches.
»Außerdem haben wir Hinweise auf eine durch physische Einwirkung ausgelöste Atemnot«, fuhr er fort. »Das Zwerchfell konnte sich nicht ausdehnen. Ich würde sagen, der Mörder saß auf der Brust des Mannes oder presste ein Knie darauf, sodass sein gesamtes Körpergewicht auf das Opfer einwirkte. Da es sich in dieser Position nicht zur Wehr setzen konnte, war es für den Mörder ein Leichtes, ihm mit einem vermutlich mittelgroßen Hammer das Gesicht zu zertrümmern.«
»Als ihm die Gesichtsverletzungen beigebracht wurden, hat er noch gelebt?«, fragte Danny.
Hyland nickte. »Er hat Blut und Zahnsplitter eingeatmet.«
»Und der Tod trat durch Erschießen ein?«
»Ja«, bestätigte Hyland. »Ein schrecklicher Tod. Stellen Sie sich vor, der Mann ringt verzweifelt um jeden Atemzug, bietet seine ganze Kraft auf, nur um Luft zu bekommen – dann wird ihm ein Hammer ins Gesicht geschlagen. Sein Körper reagiert reflexhaft auf die Schmerzen, und der Mann ringt dabei immer noch verzweifelt nach Luft, und dann wieder die Schmerzen … es wird immer schlimmer, bis zum Todesschuss.«
»Grauenhaft«, sagte Danny und schauderte. »Aber es ist seltsam … irgendetwas kommt mir hier bekannt vor. Erinnerst du dich an William Aneto, Joe?«
Joe schüttelte den Kopf.
»Ach ja, stimmt. Du warst zu der Zeit in Irland. Ich habe damals mit Martinez ermittelt. William Aneto war ein Homosexueller aus der Upper West Side. Wenn ich jetzt an diesen Fall denke, schrillen bei mir die Alarmglocken.«
»Tja, ich wäre dann hier fertig, bevor Sie sich weiter unterhalten«, sagte Hyland. Er zeigte auf Joes Notizblock. »Sie haben alles aufgeschrieben?«
»Ja. Danke, Doc.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie noch etwas wissen müssen.«
Joe nickte. »Wird gemacht.«
»Viel Glück«, sagte Hyland. »Wissen Sie, wenn ich das Hirn eines Mordopfers seziere, wünsche ich mir manchmal, es gäbe eine Hirnregion, in der die letzten Stunden des Individuums so gespeichert wären, dass man sie optisch abrufen könnte, sodass wir es uns ansehen könnten und wüssten, was passiert ist und wie es geschah. Dann würden wir die Umstände des Todes kennen – und den Mörder.« Er blickte auf die Leiche. »Aber ich glaube, bei diesem Mann hier war es so entsetzlich, dass bei ihm vorher die Sicherung durchgebrannt wäre.«
Anna Lucchesi lag unter einer leichten Fleecedecke im Pyjama auf der Couch. Sie schaute sich die vierte Folge von Grand Designs an, eine Sendung, in der architektonisch ungewöhnliche Projekte von Privatleuten verwirklicht wurden. Ein Paar hatte ein Landhaus in England restauriert, und Anna schaute sich neidvoll das Ergebnis an.
Als Anna sich diese Sendung zum ersten Mal in Irland angesehen hatte, hatte auch sie in einem solch idyllischen alten Haus gewohnt. Damals hatte sie für Vogue Living den Auftrag zur Restaurierung eines Leuchtturms und des angrenzenden Leuchtturmwärterhauses in der Nähe eines kleinen Dorfes unweit von Waterford übernommen. Dieser Job hatte ihr nicht nur unglaublich viel Freude bereitet, sie hatte überdies in einer wunderschönen Umgebung arbeiten können, und Joe und Shaun hatten sie zu Höchstleistungen angespornt.
Als Anna sich nun Grand Designs anschaute, kam sie sich wie eine Ausgestoßene vor. Sie war nicht mehr in Irland, sondern in Bay Ridge, Brooklyn, in einem düsteren zweistöckigen Backsteinhaus. Man konnte sich hier sicher fühlen, und die Nachbarn waren nett, doch für Anna bot das alles keinen Ersatz für die verlorene Idylle in Irland.
Sie schaute zum Fenster. Sie vermisste den Blick auf den weiten Himmel, auf das Meer und auf die Wellen, die mitunter so laut gegen die Klippen tosten, dass man das Fenster schließen musste, um sich unterhalten zu können. Das Haus an den Klippen war friedlich gewesen, behaglich, voller Wärme …
Und plötzlich hatte es das alles nicht mehr gegeben. Duke Rawlins hatte diese Idylle zerstört. Er hatte Joe vernichten wollen, hatte aber nicht mit dessen Verbissenheit gerechnet.
Doch wenn Anna jetzt daran dachte, bewunderte sie Joe nicht etwa – sie verübelte ihm, was er getan hatte: Joe hatte Donald Riggs getötet, aber sie, Anna, hatte den Preis dafür gezahlt. Joe war ohne Schaden an Körper und Seele in seinen Job zurückgekehrt. Sie aber lief noch am Nachmittag im Pyjama herum.
Die ersten beiden Monate, nachdem sie Irland verlassen hatten, verbrachte Anna bei ihren Eltern in Paris. In den ersten Wochen hatten Joe und Shaun sie besucht, doch in dem kleinen Haus war es ihnen bald schon zu eng geworden. Anna hatte das Gefühl gehabt, als hätte Joe ihre Genesung beschleunigen und eine Art Normalität herstellen wollen, die es jedoch nie mehr geben würde.
Schließlich hatte Anna ihn überredet, mit Shaun nach New York zurückzukehren. Als sie ihnen später gefolgt war, wusste sie, dass es ihr schwerfallen würde, sich an das neue Haus und das neue Viertel zu gewöhnen. Sie hatte es bis heute nicht geschafft. Jeden Morgen wachte sie deprimiert und mutlos auf und wollte mit der Außenwelt gar nicht erst in Kontakt kommen. Und das bedeutete, wieder einmal die Enge und Monotonie der eigenen vier Wände ertragen zu müssen.
Zum Glück hatte Annas Chefin, Chloe da Silva, es ihr ermöglicht, zu Hause zu arbeiten – allerdings nur vorübergehend. Doch Anna war eine zu gute Innenarchitektin, um bei großen Aufträgen auf Dauer auf ihre Mitarbeit zu verzichten. Anfangs hatte Anna sich keine Gedanken gemacht. Es gefiel ihr, zu Hause Fotos zu bearbeiten und Produkte aus Katalogen, Bilddateien oder Paketen auszuwählen, die ihr fast täglich nach Hause geschickt wurden. Es war eine unkonventionelle Arbeitsweise, aber es funktionierte.
Doch als die Monate ins Land zogen, spürte sie eine wachsende Unsicherheit und die Angst, von heute auf morgen gefeuert zu werden und den Job zu verlieren, der sie davor bewahrte, den Verstand zu verlieren.
Anna erhob sich mühsam von der Couch und wollte in ihr provisorisches Arbeitszimmer gehen, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und hörte am Klang, dass Chloe in ihrem Büro den Lautsprecher eingeschaltet hatte.
»Hallo, Anna«, sagte Chloe.
Anna hielt den Atem an.
»Tut mir leid, wenn ich dich überfalle, aber ich stehe mächtig unter Druck und brauche deine Hilfe. Morgen früh stehen wichtige Aufnahmen im W Hotel am Union Square an, und Leah hat mich im Stich gelassen. Viele unserer größten Werbeträger sind an der Sache beteiligt. Der Fotograf ist Marc Lunel. Du kannst also mit einem echten Profi arbeiten. Das geht doch klar? Bitte, bitte!«
Anna dachte darüber nach, während sie das Paar im Fernsehen beobachtete, das den Zuschauern stolz das Innere ihres Landhauses zeigte. »Nur wenn ich namentlich erwähnt werde«, sagte sie schließlich.
»Du bist also dabei?«, fragte Chloe.
Annas Herz schlug schneller, doch nicht etwa, weil sie aufgeregt war. »Ja.«
»Puh, wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach ist, hätte ich Marc schon vor Monaten angerufen«, sagte Chloe erleichtert.
Anna schwieg.
Chloe überbrückte die peinliche Stille. »Entschuldige bitte, dass ich so unsensibel bin, Anna. Natürlich brauchtest du diese Zeit, um wieder zu dir zu finden …«
»Kein Problem«, sagte Anna. »Die Einzelheiten kannst du mir per Mail mitteilen.«
»Klar. Schon geschehen. Danke, mein Schatz. Tausend Dank.«
Joe saß an seinem Schreibtisch und sah seine E-Mails durch, als Danny zu ihm kam.
»Ich hab hier die Akte«, sagte er. »Die, von der ich dir erzählt habe … von diesem Schauspieler, William Aneto.«
Joe machte Platz auf seinem Schreibtisch und legte einen Stapel Papiere auf den Boden. Danny schlug die Akte William Anetos auf. Aneto war einunddreißig, schlank, gut aussehend, mit kinnlangem schwarzem Haar. Joe schaute auf das Porträt und sah das Gesicht eines TV-Schauspielers. Einen Nebendarsteller, der nur ein paar Zeilen sprach und immer zwei, drei Schritte vom Hauptgeschehen entfernt war.
William Aneto hatte in einer Seifenoper in spanischer Sprache den Freund des Bruders vom Hauptdarsteller gespielt. Er war vor nunmehr fast einem Jahr ermordet worden. Eine Freundin hatte seine Leiche in seiner Wohnung in der Upper West Side gefunden. Die Ermittlungen führten rasch in eine Sackgasse. William Aneto zählte zu einer Kategorie von Opfern mit hohem Risikopotenzial – wechselnde Geschlechtspartner aus der Schwulenszene –, und es war bekannt, dass er nachts gerne mit einem Fremden verschwand. Danny und Martinez hatten Hunderte von Freunden, Bekannten und Liebhabern William Anetos befragt, ohne einen Schritt weiterzukommen. Am Ende mussten die Ermittler davon ausgehen, dass es sich bei dem Mord um einen aus dem Ruder gelaufenen One-Night-Stand handelte.
Joe zog die nächsten Fotos aus der Hülle und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Danny stand neben ihm. Wie bei Ethan Lowry war Anetos Leichnam im Eingangsbereich seiner Wohnung gefunden worden. Hinter dem Toten schlängelten sich haarfeine rote Linien über den grau gefliesten Boden, als wäre ein trockener Pinsel durch rote Farbe gezogen worden.
»Ja. Jetzt erinnere ich mich wieder«, sagte Danny. »Der größte Teil des Massakers hatte sich in der Küche abgespielt. Dort wurde er getötet und dann zur Haustür geschleift, wo der Killer ihn fürchterlich verunstaltet hat. Allein schon die Küche! Abdrücke von Händen und Füßen auf dem ganzen Boden und an den Wänden, wie im Kunstunterricht im Kindergarten, wenn sie da mit roter Farbe gespielt und sich ausgetobt haben. Oder wie in Kevin allein zu Haus.«
Joe betrachtete die Fotos der Küche. Er zeigte auf die blutverschmierte Ecke einer Arbeitsplatte aus Granit. »Ich bin jetzt der Täter, stehe hier hinter dem Opfer und schlage es mit dem Gesicht hier drauf.« Die Wand, die Arbeitsplatte und der Boden waren mit Blut bespritzt. Selbst am hinteren Ende der Granitplatte waren noch Blutspritzer zu sehen.
Danny nickte. »Ja.«
Sie schauten sich ein Panoramafoto der Diele an – der Leichnam, die Blutspritzer, die eine Schusswunde hinterlassen hatte, und die Blutlache unter dem Kopf des Opfers.
William Aneto war noch übler zugerichtet als Ethan Lowry. Das Gesicht war nur noch eine geschwollene, blutige Masse. Seine rechte Augenhöhle war von einem der Schläge zertrümmert, sodass das Einschussloch der Kugel, die dem Autopsiebericht zufolge eine ähnliche Schussbahn aufwies wie bei Ethan Lowry, nicht mehr zu erkennen war.
»Schlimm, was?«, sagte Danny.
»So was Scheußliches hab ich noch nie gesehen«, sagte Joe.
»Ach ja, das Telefon.« Danny zeigte auf das silberfarbene Handy neben Anetos Leichnam. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Es sah so aus, als hätte William Aneto – genau wie Ethan Lowry – kurz vor seinem Tod noch telefoniert. Joe blätterte die Akte durch, bis er die Aussage von Mrs Aneto fand.
»Ja, hier ist es«, sagte Danny. »Seine Mutter hat ausgesagt, er habe sie angerufen, um ihr eine gute Nacht zu wünschen.«
»Vielleicht solltest du dir Mrs Aneto noch mal vorknöpfen.«
»Sie mag mich nicht.« Danny verzog das Gesicht. »Vielleicht kann Martinez ihrer Erinnerung ein bisschen auf die Sprünge helfen.«
»Kann sein. Aber ich begleite ihn nicht.«
»Warum nicht?«
»Das solltest du Martinez fragen«, sagte Joe.
»Was soll das heißen?«
»Hast du bemerkt, wie der mich anschaut? Ich bin so was wie ein Eindringling für ihn. Mit dir hatte er elf gute Monate. Dann tauche ich auf, tue mich wieder mit dir zusammen, und für Martinez ist das Leben zu Ende.«
Danny lachte.
»Seine Augen leuchten, wenn du in seiner Nähe bist«, sagte Joe.
»Ja, weil er meine kriminalistischen Fähigkeiten bewundert. Da kommen ihm glatt die Tränen.«
»Am besten, wir sprechen mit Rufo.«
»Was gibt’s, Männer?«, fragte Rufo, als sie sein Büro betraten.
»Wir haben Parallelen gefunden«, sagte Joe. »Zwischen Ethan Lowry und William Aneto.«
Rufo runzelte die Stirn. »Dem Burschen, dem ich diese vielen Anrufe diese Woche zu verdanken habe?«
Danny nickte. »Ja. Der ungelöste Mordfall von vor einem Jahr.«
»Interessantes Timing«, sagte Rufo. »Erzählen Sie mir mehr.«
»Beide Morde wurden in den Wohnungen der Mordopfer verübt. Keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens, ähnliche Gesichtsverletzungen, ähnliche Schusswunden einer Waffe vom Kaliber zweiundzwanzig. Neben beiden Leichen wurden Handys gefunden, und beide lagen in der Diele hinter der Eingangstür.«
Rufo nickte. »Das reicht mir.«
Shaun Lucchesi lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Es war fast ein Jahr her, dass seine Freundin, Katie Lawson, ermordet worden war. Sie hatten sich an seinem ersten Schultag in Irland kennengelernt und waren bis zu Katies gewaltsamem Tod unzertrennlich gewesen. Was die Sache noch schlimmer gemacht hatte: Shaun galt zunächst als Hauptverdächtiger und war von den meisten Bewohnern des Dorfes gleichsam vorverurteilt worden, bis endlich die Wahrheit ans Licht gekommen war.
Nach Katies Tod hatte Shaun monatelang mit seiner Verzweiflung, Trauer und inneren Leere leben müssen, die schmerzhafter gewesen waren als alles, was er zuvor gekannt hatte. An guten Tagen halfen ihm seine Erinnerungen. An schlechten Tagen jedoch war er in einer Endlosschleife unzähliger Bilder gefangen, die damit begann, als er Katie an jenem schicksalhaften Abend abgeholt hatte, und die endete, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Inzwischen war Shaun von Irland nach New York zurückgekehrt, hatte seine alten Freunde wiedergetroffen und hing mit ihnen an denselben Plätzen herum wie früher. Sein neues Leben unterschied sich so sehr von dem, das er mit Katie in Irland geführt hatte, dass es ihm beinahe unwirklich erschien. Die Zeit mit Katie war von den Gefühlen beherrscht gewesen, die sie füreinander gehegt hatten. Sie hatten einander zum Lachen gebracht, hatten sich stundenlang auf seinem Bett aneinandergeschmiegt, hatten einfach nur geredet oder sich Filme angeschaut. Es war nicht – so wie jetzt – immer nur darum gegangen, zu welcher Clique man gehörte, was man besaß, mit wem man schlief, wer das neueste Handy oder die hipsten Klamotten besaß. Damals, in dem Dorf in Irland, hatten Katie und Shaun nur einander gehabt, und mehr hatten sie auch nicht gebraucht zum Glücklichsein. Manchmal überwältigte Shaun der schreckliche Gedanke, nie mehr so glücklich zu sein wie damals, mit solcher Wucht, dass es ihm buchstäblich die Luft nahm.
Er ging zum Schrank. Aus dem obersten Fach nahm er eine kleine Blechdose heraus. Eine dünne Wachsschicht bedeckte den Boden, und ein winziger schwarzer Docht ragte aus der Mitte heraus. Es war Katies Lieblingskerze gewesen – Fresh Linen. Shaun nahm ein Feuerzeug aus einer Schublade und zündete die Kerze an. Er ließ sie immer nur ein paar Minuten brennen, denn der Gedanke, sie würde jemals vollständig abbrennen, war ihm unerträglich.
In drei Wochen jährte sich der Tag von Katies Beerdigung, doch daran dachte Shaun jetzt nicht. Heute vor einem Jahr hätte er beinahe zum ersten Mal mit Katie geschlafen. Dann aber war es zum Streit gekommen, und Katie war davongelaufen.
An diesem Abend war sie ermordet worden.
Shaun schloss die Augen und legte sich aufs Bett. Tränen rannen ihm über die Wangen und tropften aufs Kissen. Eine halbe Stunde blieb er so liegen. Dann richtete er sich auf, nahm sein Handy und schaute sich die Fotos an: Katie in der Schule. Katie am Strand. Katie in seinem Zimmer.
Gelöscht. Gelöscht. Gelöscht.