Jemand hatte Stanley Frayte eine Dose Cola und einen Riegel Schokolade gebracht. Er biss gerade von der Schokolade ab, als Joe und Danny den Verhörraum betraten.
»Also gut, Stanley«, sagte Joe. »Wir haben mit Mary gesprochen. Sie hat bestätigt, was Sie ausgesagt haben. Damit sind wir hier vorerst fertig. Sie können gehen.«
»Danke«, sagte Stan.
»Wir könnten Sie nach Hause bringen«, bot Joe an.
»Wirklich?«
»Kein Problem. Zurück nach Tuckahoe?«
»Nein, zur Reha-Klinik. Mein Van steht da.«
»Okay.«
Als sie das Polizeirevier verlassen hatten und den Wagen erreichten, starrte Stanley auf die Milchshakeflecken auf der Motorhaube.
»Sagen Sie nichts«, sagte Joe und warf Danny die Schlüssel zu.
Sie setzten sich in den Chevy Impala und fuhren die kurze Strecke bis zur Einundzwanzigsten Straße. Joe drehte sich im Sitz zu Stan um.
»Wie lange sind Sie schon Elektriker?«
»Seit acht Jahren.«
»Gefällt Ihnen der Job?«
»Ja«, sagte Stan. »Ja, der Job gefällt mir.«
»Was haben Sie vorher gemacht?«
»Ich war Lkw-Fahrer.«
»Tatsache? Mein Vater war auch Lkw-Fahrer«, sagte Joe. »Welche Strecke sind Sie gefahren?«
»Ich habe auf Riker’s Island ausgeliefert.«
»Bei welchem Unternehmen?«
»Barbizan Trucking.«
»Warum haben Sie den Job aufgegeben?«
»Ich war zu viel unterwegs«, erwiderte Stanley.
Sie hielten vor der Klinik.
»Okay«, sagte Joe. »Hier ist meine Karte. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte oder wenn Sie uns brauchen, rufen Sie mich an.«
»In Ordnung«, sagte Stan. »Danke, dass Sie mich hergebracht haben.«
»Kein Problem«, erwiderte Joe. »Danke für Ihre Hilfe.«
Stan ging zum seinem Van. Im Rückspiegel sah Joe, dass Julia Embry im Eingang stand und Stan zu sich winkte.
»Dein Vater ist also Lkw-Fahrer, hm?«, sagte Danny und bog an der Klinik rechts ab. »Wie viele Jobs hast du Giulio im Laufe der Jahre eigentlich schon verpasst?«
»Nur so gelingt es mir, ihn als einigermaßen normalen Menschen zu betrachten«, erwiderte Joe. »Was machen wir jetzt mit Miss Mary?«
»Diese Augen …«, sagte Danny.
»Marys Augen?«
»Ja. Wie bei diesen Hunden … wie heißen sie gleich? Diese Schlittenhunde.«
»Huskys.«
»Ja, genau. Du musst zugeben, dass sie ganz besondere Augen hat.«
»Stimmt.«
»Das ist aber auch schon alles.«
»Das finde ich nicht, Danny. Das Mädchen sieht aus, als müsste es in Watte gepackt werden und … ich weiß nicht, als dürfte man niemanden in ihre Nähe lassen.«
David Burig saß auf einer kleinen Holzbank auf dem Grundstück des Colt-Embry-Heimes. Mary saß neben ihm und schaute ihn an. Ihre Augen waren rot und müde.
»Mary, Mary, Mary«, sagte David. »Was soll ich bloß mit dir machen?«
»Ins Kino gehen?«, schlug sie vor.
David lächelte und nahm sie in die Arme. »Wie kannst du nur Briefe an die Cops schicken? Hast du wirklich gedacht, du könntest ihnen helfen?«
Er spürte ihr Nicken, als sie den Kopf an seine Brust drückte.
»Du hast ein gutes Herz«, sagte er und zerzauste ihr Haar. »Erinnerst du dich an den kleinen Jungen, der gleich um die Ecke wohnte und immerzu geweint hat? Ich habe immer zu ihm gesagt: ›Könnte ein Eis dir helfen?‹ Und er hat jedes Mal geantwortet: ›Ja.‹ Und ich hab dann jedes Mal gesagt: ›Dann hol dir eins und bring mir auch eins mit.‹ Du hast gelacht, aber gleichzeitig hat der Kleine dir leid getan.«
Mary lächelte. »Ich erinnere mich. Du warst ganz schön gemein!«
David rückte ein Stück von ihr ab und schaute sie an. »Möchtest du über diese Dinge sprechen? Oder regt es dich auf?«
»Nein. Ich will gerne darüber reden. Manche Erinnerungen zeigen mir, dass ich früher ein schönes Leben hatte. Die Leute mochten mich. Und damals konnte ich noch selbst etwas unternehmen.« Sie starrte auf die Erde. »Ich weiß, dass ich jetzt nicht mehr zurechnungsfähig bin.«
»Das ist Unsinn, Mary. Du bist klug und hübsch, und du heiterst mich auf. Du erinnerst mich daran, dass die Welt gut und rein ist …« Er verstummte, denn manchmal erinnerte Mary ihn im Gegenteil daran, dass die Welt ein schrecklicher Ort war.
»Schau auf deine Hände«, sagte Mary.
David senkte den Blick. »Was ist denn?«
»Nein«, sagte er lächelnd und hielt ihre Hand fest. »Das bildest du dir ein.«
Mary schaute ihn an. »Hast du keine Lust mehr, mich zu besuchen?«
»Doch, natürlich! Sag so etwas nicht. Du und ich gehören zusammen, Mary. Das war immer so, und es wird immer so bleiben. Okay?«
Mary nickte. »Okay. Und das mit den Briefen … es tut mir leid.«
Joe und Danny hielten an der Waschstraße in der Columbus Avenue, als Joes Handy klingelte. Er holte es hervor und klappte es auf.
»Ja?«, meldete er sich.
»Joe, hier Rencher. Diese Mary Burig wurde vor elf Monaten ins Downtown Hospital eingeliefert, nachdem ihr jemand eine Kugel in den Kopf geschossen hatte …« Eine kurze Pause; dann fügte Rancher hinzu: »Mit einer Automatik vom Kaliber zweiundzwanzig.«
Als Joe und Danny zur Klinik zurückkehrten, stand Julia Embry am Empfangsschalter und beugte sich über die Rezeption zur Empfangsdame vor. »Schicken Sie Magda bitte in die Cafeteria, wenn sie kommt«, sagte sie. »Danke.« Dann wandte sie sich erstaunt Joe und Danny zu. »Was kann ich für sie tun? Gibt es etwas Neues?«
»Allerdings«, sagte Joe. »Wir müssen uns unterhalten. Es geht um Mary.«
Sie suchten sich einen ruhigen Ecktisch.
»Sie wissen sicher«, begann Joe, »dass jede Schießerei von der Notaufnahme an die Polizei gemeldet wird. Daher haben wir den Fall in unserer Datenbank gefunden, als wir Marys Namen überprüft haben.«
Julia nickte. »Ich wusste nicht, dass es wichtig ist.«
»Haben Sie sich die Nachrichten angesehen? Oder Zeitung gelesen?«
»Wieso?«
»Der Besucher tötet seine Opfer mit einer ähnlichen Waffe.«
»Mein Gott!«
Joe nickte. »Sieht so aus, als wäre Mary Burig möglicherweise eines seiner Opfer.«
»Aber waren seine Opfer nicht ausschließlich Männer?«
»Bisher ja«, sagte Joe. »Aber es sind zu viele Zufälle im Spiel. Mary hat uns diese Briefe geschickt. Sie scheint irgendwelche Informationen über die Verbrechen zu haben. Und jetzt stellt sich auch noch heraus, dass ihr eine ähnliche Verletzung zugefügt wurde wie den anderen Opfern.«
»Ich nehme an, Sie müssen noch einmal mit ihr reden.«
»Ja. Wie ging es ihr, nachdem wir mit ihr gesprochen haben?«
»Sie war niedergeschlagen und enttäuscht, weil sie Ihnen nicht helfen konnte. Und sie hatte Angst. Sie ist jetzt wieder in ihrer Wohnung. Ich kann Sie dorthin bringen lassen.«
»Wir möchten Mary auf keinen Fall in Aufregung versetzen«, sagte Danny. »Wir hoffen lediglich, weitere nützliche Informationen zu erhalten. Wenn wir ihrer Erinnerung vielleicht ein wenig auf die Sprünge helfen könnten …«
»Einverstanden. Zuerst können Sie mit Magda sprechen. Ah, da kommt sie schon. Ich habe sie angerufen, als Sie Stanley heute Morgen aufs Revier gebracht haben. Sie hat gesagt, sie müsse herkommen.«
Magda näherte sich Julia und den beiden Detectives. Sie trug eine große blaue Leinentasche bei sich.
»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Magda Oleszak, Mary Burigs Therapeutin.«
Sie setzte sich Joe und Danny gegenüber und legte die Tasche auf ihren Schoß.
»Guten Tag«, sagte Joe. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke der Nachfrage. Hier.« Magda griff in die Tasche und zog einen großen braunen Umschlag heraus. »Das ist von Mary.«
»Hat Mary Sie gebeten, uns das zu geben?« Joe nahm den Umschlag entgegen.
Magda schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werfe manchmal Briefe für sie ein. Sie schreibt Unmengen an Briefen, wissen Sie. Manche kann ich allerdings unmöglich einwerfen. Wie den Brief, den sie geschrieben hat, um dem neuen Papst zu gratulieren. Oder die Briefe an Sie. Mary hatte sich die Pressekonferenz angeschaut. Als ich aus Polen zurückkam, habe ich gehört, dass Mary Ihnen angeblich fünfzehn Briefe geschickt haben will. Aber das stimmt nicht. Sie hat Probleme mit ihrem Gedächtnis. Aber sie hat andere Dinge geschrieben, die ich Ihnen jetzt geben kann. Sie schreibt manchmal, bevor sie einen Anfall hat. Stan kann das bestätigen. Eines Tages kam er zu Mary, nachdem sie einen Anfall hatte, und über den ganzen Fußboden lag Papier verstreut.«
Als Joe den Umschlag öffnete, entdeckte er darin Rezepte, Post-it-Zettel, abgerissene Zeitungsränder, Toilettenpapier, Zeitschriften, Briefkarten mit Blumenmuster, Seiten aus einem Rolodex, Grußkarten, die cremefarbenen Innenseiten von Müslischachteln. Jeder Fetzen Papier, der Platz zum Beschreiben bot, war von Mary vollgekritzelt und in Umschläge gesteckt worden.
»Es hat sie sehr traurig gemacht«, fuhr Magda fort. »Mary versucht zu verstehen, was sie geschrieben hat, aber sie begreift nicht alles. Dann ist sie oft so traurig und verzweifelt, dass ich ihr alles wegnehme, was sie geschrieben hat. Ich tue es für sie. Stanley weiß das nicht, darum hat er Marys Briefe an Sie eingeworfen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Jetzt wissen Sie nichts damit anzufangen.«
»Haben Sie das hier noch mal gelesen?«, fragte Joe und hielt die Umschläge in die Höhe.
»Ich lese nie, was Mary schreibt. Ich habe immer noch ziemlich Probleme, englische Texte zu lesen.«
»Hat jemand etwas dagegen, wenn ich mir diese Briefe anschaue?«, fragte Julia.
Joe reichte sie ihr.
»Hm«, murmelte Julia. »Ich sehe, wie schwierig es ist, das hier zu verstehen. Mary ist in ihren Gedankengängen sehr sprunghaft. Das erkennt man schon daran, wie sie das hier alles geschrieben hat. Während der Niederschrift erschien es ihr wahrscheinlich sinnvoll, aber es ist keine vernünftige Reihenfolge zu erkennen.«
»Vieles von dem, was sie schreibt, ist sehr schwer zu verstehen«, pflichtete Joe ihr bei.
»Vergessen Sie nicht, dass Marys Langzeitgedächtnis intakt ist«, erklärte Julia. »Es ist sehr belastend für sie, dass sie seit dem Überfall Schwierigkeiten hat, neue Erinnerungen zu speichern. Sie kann nicht mehr alles das tun, was sie früher tun konnte, und das weiß sie.« Julia seufzte. »Ich wäre gern eine größere Hilfe für Sie, aber letztendlich wissen nur Sie allein, was Sie suchen. Ich kann Ihnen lediglich raten, das alles hier genau unter die Lupe zu nehmen und zu überprüfen, ob irgendetwas für Ihre Ermittlungen von Bedeutung ist. Für mich ist es nicht besonders aufschlussreich, wenn Mary über ihren Schwimmunterricht im Astoria Park spricht, aber wenn Sie wissen, dass der Killer dort täglich fünfzig Bahnen schwimmt, könnte es wichtig sein.«
»Ich habe mir einige der Zeichnungen angesehen«, sagte Magda und zuckte mit den Schultern. »Sie sind äußerst seltsam.« Sie zeigte auf die Müslischachtel. »Das hier zum Beispiel.«
Joe drehte die Schachtel um und sah scheußliche schwarze Münder wie aus einem Albtraum, einige groß, andere klein, alle weit aufgerissen und mit abgebrochenen Zähnen.
Er reichte Danny die Zeichnung.
»Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«, fragte er.
Magda schüttelte den Kopf. »Das hat sie nach einem ihrer Anfälle gemalt. Grässlich, nicht wahr? Ich habe es auf ihrem Schreibtisch gefunden. Das kann ich ihr nicht zeigen. Es ist zu gruselig.«
Danny nickte. »Danke, dass Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben. Wir schauen uns das alles noch mal genau an. Vielleicht hat es keine Bedeutung, aber wir müssen alles überprüfen.«
»Ja. Vermutlich bedeuten die Zeichnungen nichts«, räumte Magda ein. »Aber da Sie gerade hier sind, könnten wir Mary fragen, ob sie uns helfen kann.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Julia, »begleite ich Sie nicht. Wir eröffnen gerade eine zweite Klinik in der Nähe von New York. Ich stehe sehr unter Druck, wie Sie sich vorstellen können.«
»Kein Problem«, sagte Joe.
Mary saß auf der Bettkante. Die Blätter lagen verstreut vor ihr. Magda saß neben ihr und hatte ihr eine Hand auf den Arm gelegt. Joe und Danny standen neben dem Bett. Mary hatte sich seit fünfzehn Minuten nicht gerührt. Niemand sagte ein Wort.
Schließlich hob Mary den Blick. »Es hat was mit Mündern zu tun … schlägt die Münder der Menschen. Ich glaube, er kann nicht anders.« Sie zeigte auf die Pappe mit ihrer Zeichnung und die Stelle, wo die Tinte so dick aufgetragen war, dass sie die Pappe durchdrungen hatte.
Das Licht im Wohnzimmer brannte, als Joe nach Hause kam. Anna kam in den Flur, als sie den Wagen hörte. Sie war schneeweiß im Gesicht.
»Was ist passiert?«, fragte Joe alarmiert.
»Ich habe gerade einen Anruf aus Paris erhalten. Die Polizei war da.«
»Ja, bei meinen Eltern. Drei Polizisten standen vor der Tür. Meine Mutter bekam es mit der Angst zu tun. Sie hat gedacht, wir hätten einen Unfall gehabt. Die Polizisten haben sie gefragt, ob sie das Haus betreten dürften, um sich dort umzusehen. Meine Mutter ist fünfundsiebzig. Sie wusste gar nicht, was sie tun sollte. Ich glaube, sie hat nicht mal nach den Dienstausweisen gefragt.«
Joe schüttelte den Kopf. »Ich habe deinen Eltern gesagt, sie sollen immer nach dem Ausweis fragen, wenn Fremde bei ihnen vor der Tür stehen.«
»Ach ja? Das hast du ihnen gesagt? Und hast du auch gesagt, dass die Polizei plötzlich vor der Tür stehen könnte? Warum waren diese drei Polizisten da?«
Joe zuckte die Achseln. »Nach allem, was letztes Jahr passiert ist, habe ich die Kollegen gebeten, ab und zu bei deinen Eltern vorbeizuschauen. Das ist alles.«
»Was haben denn meine Eltern damit zu tun?«
»Sie gehören zur Familie. Und Duke Rawlins hat meine ganze Familie ins Visier genommen. Du hattest auch nichts damit zu tun, was sich zwischen mir, Rawlins und Riggs abgespielt hat, aber das war Rawlins egal.«
»Ich verstehe nicht … Hast du gedacht, meine Eltern würden mir nichts erzählen?«
»Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Polizeibeamten bei deinen Eltern klingeln. Ich dachte, sie würden sich nur umsehen, ohne Aufsehen zu erregen.«
»Bekommen deine Eltern auch Besuch von der Polizei?«
»Um die kümmere ich mich selbst. Die wohnen schließlich hier in den Staaten und nicht auf der anderen Seite vom großen Teich.«
Anna schüttelte den Kopf. »Wir werden nie wieder ganz frei sein.«
»Wir sind frei«, sagte Joe und nahm Anna in die Arme. »Ich lasse nicht zu, dass jemand wie Rawlins unser Leben ruiniert. Er wird sich uns nicht wieder nähern. Das wird er nicht riskieren. Wir halten uns an dem schlimmsten Ort auf, den es für ihn gibt. New York.«
»Ich glaube nicht, dass dieser Mann sich von irgendetwas abhalten lässt, um zu bekommen, was er will.«
Joe drückte Anna an seine Brust. »Hör auf mich, Liebling. Er kommt nicht zurück.«