Von der Diele in Lowrys Wohnung gingen sechs Türen ab: Zur Linken lagen zwei Schlafzimmer und ein Bad, zur Rechten die Küche sowie das Wohn-und Arbeitszimmer. In der zitronengelb gestrichenen Küche standen glänzende grüne Schränke mit cremefarbenen Arbeitsflächen; alles war sauber und ordentlich. Im Wohnzimmer standen ein dunkelrotes Sofa und ein Breitbildfernseher. In einer Ecke war ein Berg Kinderspielzeug zu sehen. Unter dem Fenster lagen eine Yogamatte und zwei rosa Hanteln.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ein guter Grafikdesigner bei dieser Einrichtung seine Hand im Spiel hatte«, sagte Joe.
»Vielleicht war er ein schlechter Grafikdesigner«, meinte Danny. »Du neigst dazu, Opfer talentierter darzustellen, als Beweise es belegen.«
»Tue ich nicht.«
»Wenn sie in einem schicken Haus wohnen, tust du’s.«
»Aber sie wohnen selten in schicken Häusern, Danny. Stattdessen verwesen sie auf den nackten Sprungfedern eines Bettes in einer heruntergekommenen Opiumhöhle oder an einem Ort, der seit Ewigkeiten kein Putzmittel mehr gesehen hat.«
Sie betraten Ethan Lowrys Arbeitszimmer.
»Das passt schon eher«, sagte Joe. »Verstehst du, was ich meine?«
»Du vermischst Krimis und diese Renovierungssendungen. Einsatz in vier Wänden. Tatort: Villa.«
»Detective Joe Lucchesi ermittelt in Ihrem Mordfall, liebe Zuschauer«, fuhr Danny fort. »Er will dem Täter und Ihrem Geschmack auf die Spur kommen. Wo waren Sie in der Nacht des Mordes? Und warum haben Sie diese Stoffe zu diesem Teppich ausgewählt? Die Auflösung sehen Sie nach der Pause. In dieser Saison sind grüne Küchen der Renner, und für Ihre Morde empfehlen wir Ihnen Küchenmesser der Marke …«
»Okay, okay«, unterbrach Joe. »Lass mich nachdenken.«
Ethan Lowrys Büro war aufgeräumt und zweckmäßig eingerichtet. An einer weißen Wand stand ein langer grauer Computertisch auf Stahlbeinen. Ein 20-Zoll-Flachbildmonitor stand in der Mitte. Der Bildschirmschoner lief und zeigte eine Diashow von Lowrys Schnappschüssen. Vor dieser Fotoserie aus dem Leben eines toten Mannes blieb Joe stehen. Die Fotos ließen erkennen, dass Ethan Lowry sich alle Mühe gegeben hatte, Gewicht zu verlieren. Der straffere, leichtere Körper, für den er sich geschunden hatte, lag nun entstellt und geschunden in einer Blutlache hinter der Eingangstür. Eine professionelle SLR-Digitalkamera lag auf einem kleinen Tisch rechter Hand, neben zwei Schubladenelementen aus durchsichtigem Plastik. Joe zog ein paar Schubfächer auf: Quittungen, Büroklammern, Gummibänder, Briefmarken. In der untersten Schublade lagen zahlreiche Auszeichnungen, die allmählich verstaubten.
Die Kabel des Computers, Druckers, Zip-Laufwerks und der Lampe, die unter dem Tisch lagen, waren säuberlich mit Kabelbindern verlegt worden und endeten mit Steckern, die mit Symbolen versehen waren. Auf dem Boden neben einem ordentlich gemachten Bett in der Ecke lagen eine marineblaue Jogginghose, ein weißes T-Shirt und eine weiße Boxershorts aus Jersey. Daneben lag ein mit Gummiband umwickelter Packen Briefe, die mit mädchenhafter Schrift geschrieben und an Ethan Lowry gerichtet waren. Auf dem Bett lag ein 17-Zoll-PowerBook, an dem ein winziges weißes Licht blinkte. Daneben lagen ein Vibrator mit Fernbedienung und eine kurze, harte Lederpeitsche.
Joe klappte den Laptop auf, worauf eine Bilderfolge von Softporno-DVD-Hüllen gezeigt wurde: Männer in Jeans und mit nackten, glänzenden Oberkörpern beugten sich über verloren wirkende Blondinen. Lesben mit riesigen Brüsten, die sich küssten, Cheerleader, Handwerker, junge Soldatinnen und Soldaten, Polizisten.
»Ein Fan der Village People. Wir sind zu schüchtern für so was«, sagte Danny.
»Zu zahm.«
»Ja, ein zweiter Marvin ist er nicht.« Marvin war eine der ersten Leichen gewesen, mit der Joe und Danny sich als Anfänger hatten beschäftigen müssen, ein krankhaft fetter Mann, der seinen eigenen Essgewohnheiten zum Opfer gefallen war. In seiner Wohnung hatten sie Berge von Lebensmitteln, einen großen Stapel Krispy-Kreme-Schachteln, einen Haufen zerknitterter Kleenextücher und die schmutzigste Sammlung von Amateurpornos gefunden, die ihnen je untergekommen war.
Sie betraten das Schlafzimmer. Es war ebenfalls aufgeräumt, und die untere Hälfte des Doppelbettes war mit einer blassgrünen Satindecke bedeckt.
Auf beiden Nachtschränken lagen neben Wasserflaschen Bücher. Auf der Seite der Frau lagen Kopfschmerztabletten und ein Armband, auf der Seite des Mannes eine Brieftasche und eine Uhr. In einer Ecke stand ein Stuhl, auf den eine Jeans und ein graues Sweatshirt gebettet waren. Über eine Stufe linker Hand erreichte man einen höher gelegenen Ankleidebereich, der Mrs Lowrys Reich zu sein schien und der durch den Überfall am stärksten betroffen war. Überall lagen Schminkutensilien und Schuhe, Gürtel und Taschen verstreut. In einer Ecke standen zwei Wäschekörbe, aus denen die schmutzigen Sachen quollen. Ein halb ausgepackter Koffer stand einsam vor dem Schrank. Die Frisierkommode war mit Haarpflegeprodukten, Hautcremes, Hauttönungsmitteln und weiteren Schminkutensilien übersät. Ein kleiner Hocker lag umgekippt auf dem Boden.
Joe schaute sich das Zimmer mehrere Minuten lang an, ehe er zu dem Schluss kam, dass der Täter das Schlafzimmer nicht betreten hatte. Es schien eher ein Beispiel dafür zu sein, dass Gegensätze sich anzogen.
Joe notierte sich, wo Fotos gemacht werden mussten, und sprach es mit Kendra ab, als er in die Diele zurückkehrte. Er fertigte eine Skizze der Wohnung an, wobei er auch die winzigsten Details berücksichtigte.
Nach drei Stunden machten sie sich erschöpft auf den Rückweg ins zwanzigste Polizeirevier.
»Was meinst du?«, fragte Danny, als sie in den Wagen stiegen.
»Auf jeden Fall war es kein Raubüberfall.«
»Stimmt. Dann hätte die Brieftasche nicht dagelegen.«
»Zwei Brieftaschen.«
»Was?«
»Der kleine Tisch in der Diele war umgeworfen. Da lag eine abgegriffene Brieftasche. Und dann die neue.«
»Beide vom Opfer?«
»In beiden steckten seine Karten. Und Geld.«
»Ja, und dann die teure Uhr auf dem Nachttisch …«, sagte Danny.
»Das Sexspielzeug und der nackte Leichnam könnten auf einen Sexualmord hindeuten.«
Danny nickte. »Meinst du, er hatte nebenbei was laufen? Blazkow hat gesagt, seine Frau sei über Nacht in Jersey bei ihrer Mutter gewesen. Er hatte also sturmfreie Bude.«
Joe nickte. »Ja, würde ich sagen.«
Er zog sein Handy aus der Tasche. Acht entgangene Anrufe. Sechs waren von Anna. Fünfmal hatte sie aufgelegt, einmal auf die Mailbox gesprochen, und zwar die kurze Mitteilung: »Du Arsch.«
Joe schaute auf die Uhr und erkannte den Grund für Annas wenig schmeichelhafte Wortwahl: Er hatte den Termin in Shauns Schule verpasst. Und er hatte Anna nicht angerufen.
»Verdammt«, stieß er hervor. »Ich hab vergessen, Anna anzurufen.«
»Du bist ein toter Mann«, sagte Danny und lenkte den Wagen in eine Parklücke vor dem zwanzigsten Revier.
»Geh schon mal vor«, sagte Joe. »Vielleicht kann ich meinen Hals ja noch retten.« Nachdem Danny ausgestiegen war, rief er Anna an. »Hallo, Liebling. Hör mal, es tut mir leid, aber ich hab’s nicht geschafft …«
»Ich weiß«, sagte Anna. »Weil ich schon in der Schule war und jetzt wieder zu Hause bin.«
»Sei nicht sauer. Wir haben hier einen Mordfall, und ich bin schwer beschäftigt. Wie ist es gelaufen?«
»Die Direktorin war da, und sie fing gleich an zu …«
Joe sah Cullen und Blazkow aus dem Wagen steigen und im Gebäude verschwinden. »Wir reden später darüber, ja?«, unterbrach er sie. »War es alles in allem denn okay?«
»Kommt darauf an«, erwiderte sie steif.
»Ich muss los. Ich ruf dich an, wenn ich wieder im Büro bin. Es wird wahrscheinlich spät. Ich liebe dich.«
Doch Anna hatte schon aufgelegt.
Joe fuhr in den ersten Stock hinauf, wo seine Kollegen sich unterhielten und Kaffee tranken.
»Was haben wir?«, fragte er.
»Einen Mord, keine Zeugen«, sagte Blazkow.
»Videoaufzeichnungen?«, fragte Joe.
»Bisher nichts«, sagte Martinez.
»Auch nicht von der anderen Straßenseite?«
»Nee.«
»In dem Wohnhaus waren nicht alle zu Hause«, sagte Blazkow. »Mal sehen, ob wir noch was erfahren, aber die beiden Nachbarn gleich nebenan haben nichts gehört, und der Portier hat nichts gesehen.«
»Was ist mit seiner Frau?«
»Ist mit ihrer Tochter bei ihrer Mutter«, sagte Martinez. »Sie war fix und fertig, hat aber versucht, sich wegen dem Mädchen zusammenzureißen. Viel war aus ihr nicht rauszubekommen. Sie hat keine Ahnung, warum das passiert ist. Sie haben nicht viele Bekannte und verbringen die meiste Zeit allein.«
»Okay. Rencher, könntest du Lowrys Telefonate überprüfen?«, fragte Joe. »Und du, Cullen, könntest die Kennzeichen sämtlicher Fahrzeuge checken, ja? Morgen liegen uns die Ergebnisse der Autopsie vor. Wenn wir den Todeszeitpunkt kennen, können wir uns das Haus noch mal vornehmen.« Er drehte sich zu Blazkow um. »Hat die Recherche beim BCI oder bei Triple I etwas ergeben?«
Jeder, der in New York verhaftet wurde, bekam eine sogenannte NYSID-Nummer, eine Identifikationsnummer des Staates New York. Die Daten wurden beim BCI gespeichert, dem Bureau of Criminal Investigation. Wenn Lowry vorbestraft war, konnten sie das Foto beim BCI abrufen. Und eine Überprüfung bei Triple I würde zeigen, ob Lowry außerhalb des Landes Verbrechen begangen hatte.
»Nichts.«
»Okay«, sagte Joe.
»Setz dich«, sagte Blazkow. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Ja, danke.« Joe zog seine Jacke aus und nahm Platz. Denis Cullen kam zu ihm.
»Joe? Könnte ich wohl die Überprüfung der Finanzen und vielleicht auch der Telefonate übernehmen?«
Joe lachte. »Das ist das erste Mal, dass mir jemand diese Frage stellt. Woher rührt denn dein Eifer?«
»Ich glaube, ich habe ein Auge für so was.«
»Okay, dann mach mal.«
Um ein Uhr nachts saß Joe erschöpft am Schreibtisch. Seine Finger waren vom vielen Tippen steif geworden. Er wusste, dass er sein Kaffeelimit überschritten hatte, denn inzwischen machte das Koffein ihn müde.
»Ich hau ab«, sagte er und stand auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Danny.
»Ja, ich bin nur müde. Kommst du mit?«
»Wohin? Fährst du nicht nach Hause?«
»Heute nicht. Ich will zuerst wissen, was bei der Autopsie herausgekommen ist.«
Im Schlafsaal der Mordkommission Manhattan Nord, der sich neben dem Umkleideraum mit den Spinden befand, standen vier Metallbetten mit dünnen Matratzen und Decken. Beim Schichtplan der Mordkommission folgten auf vier Arbeitstage zwei freie Tage. Die ersten beiden Arbeitstage begannen um vier Uhr nachmittags und endeten um ein Uhr nachts. Die letzten beiden begannen um acht Uhr morgens und endeten um vier Uhr nachmittags. Beim Wechsel zwischen der Spätschicht bis ein Uhr nachts und dem Tagesdienst ab acht Uhr schliefen die meisten Detectives im Schlafsaal. Anna jedoch war nachts nicht gern allein; daher fuhr Joe meistens nach Hause. Da sie in Bay Ridge wohnten, war es nicht weit. Doch in den ersten Nächten eines größeren Falles erwartete Anna ihn nicht zu Hause; sie wusste, dass Joe dann in Bereitschaft bleiben musste. Er rief sie dennoch an.
»Ich bin’s noch mal, Liebling. Ich bleibe heute Nacht im Büro.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Anna und seufzte. »Ist schon okay.«
»Kommst du klar? Ist Shaun zu Hause?«
»Nein, aber er wird bald kommen.«
»Wie war es in der Schule?«
»Die Direktorin war sehr nett. Ich glaube, sie mag Shaun, sieht aber auch, dass er sich … nun ja, verändert hat. Sie sagt, er benehme sich flegelhaft und sei unkooperativ.«
»Das sind deine französischen Gene.«
»Ha-ha«, machte Anna. »Und dass seine Noten schlechter geworden sind, liegt an seinen amerikanischen Genen.«
Joe lachte. »Das haben sie über seinen Charme und sein Aussehen gesagt.«
»Und seine mangelnde Selbstachtung.«
»Was war denn das Fazit?«
»Seine Lehrer wollen ihm die Chance geben, seine Noten zu verbessern. Sie sagen, das schafft er leicht, wenn er nicht immer so müde in die Schule kommt.«
»Haben sie dir hart zugesetzt?«
»Sie brauchten kein Wort zu sagen.«
»Kommst du heute Nacht wirklich allein zurecht? Möchtest du, dass ich Pam bitte, bei dir zu schlafen?«
Pam war die zweite Frau von Joes Vater Giulio.
»Pam?« Anna lachte. »Tolle Idee. Eine Frau, die genauso alt ist wie ich und jetzt meine Schwiegermutter ist, soll auf mich aufpassen.«
»Sie soll nicht auf dich aufpassen. Du könntest sie auf ein Glas Wein zu uns einladen, und ihr schaut euch einen Film an.«
»Vielleicht hast du’s vergessen, aber es ist ein Uhr nachts. Ich komme schon klar. Schlaf gut … falls du zum Schlafen kommst.«
»Danke. Wir sehen uns.«
»In ein paar Tagen. Ich weiß.«