6

Danny und Joe hielten gegenüber von dem Haus, in dem Clare Oberly wohnte, und parkten den Wagen vor einer Reinigung. Der Besitzer, ein älterer Mann, stand draußen vor dem Fenster. Er rauchte eine Zigarette und beobachtete die Detectives neugierig.

An einem Umzugs-Lkw vorbei gingen sie zum Haus und betraten einen hell erleuchteten Eingangsflur mit schmutzigem Steinfußboden. Ein Paar in Shorts und T-Shirts schleppte eine Kommode an ihnen vorbei. Der Mann zog eine Schweißwolke hinter sich her.

»Meine Güte«, sagte Danny zu Joe. »Hat der Typ kein Deo?«

Das Paar, das offenbar aus dem Haus auszog, hatte einen der Aufzüge blockiert. Joe und Danny nahmen den anderen Lift und fuhren in den zehnten Stock hinauf. An der Tür zur Wohnung 10B klingelten sie.

Eine attraktive Blondine Mitte dreißig in einem lindgrünen Chiffon-Top, weißer Jeans und rot-grünen Schuhen mit Plateausohlen öffnete. Um ihren Hals hing eine wertvolle mehrreihige Kette aus bunten Perlen.

»Guten Tag«, sagte Joe. »Sind Sie Clare Oberly?«

»Ja.«

»Ich bin Detective Joe Lucchesi. Das ist mein Partner Danny Markey. Wir ermitteln in einem Mordfall. Sie haben gestern Abend gegen elf Uhr einen Anruf erhalten, nicht wahr?«

»Ja, warum?«, antwortete sie nach kurzem Zögern.

»Wer hat Sie angerufen?«, fragte Joe.

»Ethan Lowry.« Ihr Blick glitt von einem zum anderen. »Warum fragen Sie?«

»In welcher Beziehung stehen Sie zu Mr Lowry?«, fragte Joe.

»Wir waren zusammen, als wir zum College gingen. Ist was mit ihm?«

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Oh … entschuldigen Sie. Ja, sicher. Ich bin unhöflich. Kommen Sie bitte herein.« Clare Oberly führte die Detectives in ein offenes Wohnzimmer, wo ein großes Gemälde von Miró an einer Wand hing. Clare setzte sich und wies auf das Sofa gegenüber. »Bitte, setzen Sie sich.«

Die Detectives nahmen Platz.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Clare.

Joe sagte ohne Umschweife: »Es tut uns sehr leid, Mrs Oberly, aber Mr Lowry wurde ermordet.«

»Was sagen Sie da?«, rief Clare. »Ethan?« Sie schüttelte den Kopf. »O Gott. Er ist so … Was ist denn passiert? Er ist gar nicht der Typ, der … Ich begreife das nicht.«

»Er wurde in seiner Wohnung ermordet. Wir vermuten, dass er Sie angerufen hat, kurz bevor die Tat verübt wurde. Und wir müssen herausfinden, warum.«

»Mein Gott. Ich weiß es nicht. Ich meine … Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mit seiner Ermordung zu tun hat. Wir haben uns gar nicht mehr so gut gekannt. Ich gehöre bestimmt nicht zu den Leuten, die er angerufen hätte, falls er in irgendwelchen Schwierigkeiten gesteckt hat. Wir standen uns nicht mehr sehr nahe.«

»Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen?«

»Vor anderthalb Jahren. Bei der Beerdigung meines Bruders. Es war nett, dass er damals gekommen war. Ethan war immer sehr liebenswürdig.« Sie senkte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass er tot ist.«

»Was hat er gesagt, als er Sie angerufen hat?«

»Nicht viel. Er wollte bloß Hallo sagen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wie lange waren Sie beide zusammen?«

»Sechs Jahre.«

»Und was ist dann passiert?«

»Nun ja, das Übliche. Wir waren zu jung. Und zu verschieden. Ich war ehrgeizig, Ethan nicht. Er wünschte sich ruhige Abende, und ich wollte feiern gehen. Wir haben uns auseinanderentwickelt. Es wurde langweilig, wissen Sie.«

»Sie haben beide Ihr eigenes Leben gelebt.«

»Ich wohl in stärkerem Maße als er. Aber dann hat er seine spätere Frau kennengelernt, und sie haben ziemlich schnell geheiratet.«

»Warum hat er Sie in der Nacht, als er starb, angerufen? Was meinen Sie?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Sie haben keine Ahnung?«, sagte Joe. »Wirklich nicht?«

Sie lächelte traurig. »Ich bin eine schlechte Lügnerin, nicht wahr? Eine miserable Lügnerin. Ich glaube, es beunruhigt mich …« Sie seufzte. »Okay. Was soll ich Ihnen sagen? Wird seine Frau von dem Gespräch erfahren?«

»Nicht unbedingt.«

»Ich möchte nicht, dass es für sie noch schlimmer wird. Obwohl ich nichts getan habe … Aber es war schon seltsam, denn in dieser Nacht hat Ethan mir gesagt, dass er mich liebt.«

Joe runzelte die Stirn. »Was? Und wie lange hatten Sie ihn nicht mehr gesehen? Anderthalb Jahre, sagten Sie?«

»Ja. Er hat gesagt, er habe nur angerufen, um mir zu sagen, dass er mich liebt.«

»Was haben Sie geantwortet?«

»Ich war schockiert. Ich meine, er hörte sich ganz normal an. Aber was er da gesagt hatte, war seltsam. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Schließlich ist er verheiratet. Ich habe gehört, dass er eine reizende Frau und eine Tochter hat und … Ich weiß nicht. Ich liebe ihn nicht … nicht mehr, jedenfalls. Das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe von seiner Frau gesprochen und gesagt, dass ich jetzt mein eigenes Leben führe.« Sie zuckte die Schultern. »Jetzt fühle ich mich entsetzlich. Er tut mir furchtbar leid … seine Frau natürlich auch.«

»Hat er über seine Gefühle gesprochen, als Sie ihn auf der Beerdigung Ihres Bruders gesehen haben?«

»Nein. Er war sehr nett zu mir. Aber so war Ethan nun mal. Wir haben keine intensiven Gespräche geführt und uns nicht verabredet. Ich habe ihn zu nichts ermuntert.«

»Wüssten Sie jemanden, der Probleme mit Ethan gehabt haben könnte? Hat er je in Schwierigkeiten gesteckt?«

»Wir sind seit acht Jahren nicht mehr zusammen. Aber früher war Ethan ein ganz normaler und sehr netter Kerl. Ich habe nie erlebt, dass er sich mit jemandem gestritten hat. Er war ein eher unauffälliger Mensch, wenn Sie wissen, was ich meine. Bei ihm hätte ich am allerwenigsten damit gerechnet, dass er ermordet wird … mein Gott!«

Rufo saß hinter seinem Schreibtisch und drückte auf die Tasten seines Handys, als Danny und Joe sein Büro betraten. Rufo hob die linke Hand, um ihnen zu bedeuten, dass sie still sein sollten. Joe und Danny wechselten einen Blick. Joe zuckte mit den Schultern. Rufo konzentrierte sich noch ein paar Minuten auf sein Handy. Nachdem er noch eine Taste gedrückt hatte, legte er das Handy zur Seite und wandte sich den Detectives zu.

»Simsen. Was für eine großartige Möglichkeit zu kommunizieren. Sollten Sie auch mal versuchen.«

»Ich habe in Irland gelebt, schon vergessen?«, erwiderte Joe. »Da ist das Simsen eine schlimmere Seuche als das Saufen.«

»Wem haben Sie denn eine SMS geschickt, Chef?«, fragte Danny.

Rufo hob den Blick. »Das geht Sie gar nichts an. Sagen Sie mir lieber, welchem Umstand ich das Vergnügen Ihres Besuchs verdanke.«

»Ich habe überlegt, ein Treffen mit Reuben Maller vom FBI zu arrangieren, damit er uns ein Profil des Täters erstellt …«, begann Joe zögernd.

»Gut. Tun Sie das. Solange wir alle uns einig sind, dass Sie ihn nur um seine freundliche Unterstützung bitten.«

Joe nickte. »Ich warte erst mal ab, was bei dem Profil herauskommt. Wenn wir zu der Ansicht gelangen, er sollte sich aus irgendeinem Grunde länger bei uns aufhalten, oder wenn er jemanden verhören will, sehen wir weiter. Aber Sie kennen ja Maller. Er ist in Ordnung. Er macht seinen Job und verschwindet dann wieder.«

»In der Versenkung.« Danny gab wie immer seinen Senf dazu.

Rufo verdrehte die Augen.

Anna stand vor der U-Bahn-Station Bay Ridge und wühlte in ihrer großen blauen Handtasche. Schließlich fand sie die weißen Kopfhörer und setzte sie auf, stellte jedoch fest, dass sie ihr iPod nicht dabeihatte.

»Merde.« Jetzt erinnerte sie sich, es in der Küche auf dem Verstärker gesehen zu haben. »Merde!«

Anna schaute auf die Uhr und überlegte, ob sie zurück nach Hause laufen sollte; stattdessen zwang sie sich, die U-Bahn-Station zu betreten, und stieg die Treppe hinunter. Laute Stimmen hallten aus der Tiefe zu ihr hinauf. Als sie unten ankam, sah sie eine große, gut gekleidete Frau, die einen schmuddeligen Jugendlichen an den Schultern packte und gegen den Fahrscheinautomaten stieß. Der Junge spuckte ihr ins Gesicht. Die Frau warf ihm Geld an den Kopf und ging davon. Anna hatte kein Interesse, über diesen Vorfall nachzudenken. Sie senkte den Kopf und lief schnell an dem Jugendlichen vorbei. Es ärgerte sie, dass ihr Herz plötzlich heftiger schlug. Es geschah zu schnell, und es genügte schon eine kleine Auseinandersetzung, eine abrupte Bewegung, ein lautes Geräusch, um sie aus der Fassung zu bringen. Doch wenn sie ihren MP3-Player eingeschaltet hatte, vermittelte Mozart ihr das Gefühl, sie könne sich überall aufhalten, ohne von ihrer Umgebung behelligt zu werden.

Anna entwertete ihre U-Bahn-Karte und wartete am Bahnsteig. Sie spähte zu der Frau in dem Kostüm hinüber und versuchte, sie im Auge zu behalten. Wie es aussah, kam die Frau gerade von einem Drogentrip runter. Anna hörte den jungen Mann hinter ihr schreien: »Blöde Schlampe! Sie hat mein Geld genommen!« Dann: »Nein! Ich hab’s hier! Das verdammte Miststück hat es mir an den Kopf geworfen.«

In der Menge entstand Unruhe. Die Frau ging hoch erhobenen Hauptes davon, schwang ihre Handtasche und lauschte der Melodie in ihrem Kopf. Der Zug fuhr ein, und die Menge geriet in Bewegung. Es war Rushhour, und Anna, eine kleine, zarte Person, wurde in eine Lücke neben einem Studenten gepresst, der sie entschuldigend anlächelte. Anna erwiderte das Lächeln.

Zu Beginn der Fahrt konzentrierten sich alle auf ihre Bücher und Zeitungen, oder sie unterhielten sich. Anna starrte durchs Fenster. Dann öffneten sich die Türen der U-Bahn an der Cortlandt Street und blieben geöffnet. In Anna stieg Panik auf. Aus den Lautsprechern auf den Gleisen dröhnten Durchsagen. Niemand verstand ein Wort. Die Menschen hoben die Blicke und musterten stirnrunzelnd die anderen Fahrgäste im Abteil.

Anna hatte das übermächtige Verlangen, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen und auf den Bahnsteig zu flüchten. Doch die Gewissheit, dass alle Leute sie anstarren würden, wenn sie in Panik geriet, nur weil ein Zug zwei Minuten länger als gewöhnlich stehen blieb, hielt sie zurück. Der Schweiß auf ihrem Rücken sickerte in ihr Top. Sie spürte die Hitze der Menschen ringsherum, ihren heißen Atem, roch ihre Ausdünstungen.

Dann endlich schlossen sich die Türen, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Anna atmete auf und führte während der gesamten Fahrt Selbstgespräche, um sich abzulenken und Ruhe zu bewahren. Am Union Square stieg sie die Stufen hinauf und war erleichtert, endlich wieder frische Luft zu atmen und nicht mehr das Gefühl zu haben, ersticken zu müssen. Sie zog ihr Top ein Stück von der Haut ab und genoss die Kühle der leichten Brise.

Du schaffst es, sagte sie sich. Du musst es schaffen, nicht in Panik zu verfallen.

Sie spähte zu Barnes & Nobles hinüber und spürte plötzlich den Wunsch, den heutigen Morgen damit zu verbringen, Kaffee zu trinken, in Bildbänden zu blättern und sich Fotos von einsamen Stränden oder idyllischen Berglandschaften anzuschauen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie atmete tief ein und ging auf das W Hotel zu. Dann stand sie vor dem Fenster und beobachtete die Menschen, die sich an der Bar versammelt hatten. Sie erkannte den Hinterkopf des Fotografen Marc Lunel, sein langes, glänzendes schwarzes Haar und die rote Schnalle auf seinen Prada-Schuhen. Sie sah vier Models, zwei Visagisten, zwei Hairstylisten, die Praktikantin von Vogue Living … Alle warteten darauf, dass sie die Leitung der Aufnahmen übernahm.

Anna betrachtete ihr Spiegelbild auf der Glasscheibe, ihre müden Augen, die heruntergezogenen Mundwinkel, die Schweißperlen auf der Stirn.

Dann drehte sie sich um und winkte das erste Taxi heran, das vorbeikam, bevor die Panikattacke sie mit aller Macht überfallen konnte.

Als Joe an seinen Schreibtisch zurückkehrte, lag dort ein weißer Briefumschlag, der abgestempelt und mit seiner Adresse versehen war. Was Joe an Post bekam, behandelte zumeist interne Angelegenheiten, wie die gelben Briefumschläge erkennen ließen. Nun nahm er das Kuvert in die Hand. Es war leicht, aber dick – billiges Papier ohne Absender. Joe nahm ein Lineal aus der Schreibtischschublade und schlitzte den Briefumschlag auf. Die dünnen weißen Blätter waren in der Mitte gefaltet. Als Joe sie herauszog, sah er, dass beide Seiten mit kurzen Sätzen in krakeliger Schrift beschrieben waren:

Lieber Detective Lucchesi. Dieser Lärm heute Morgen war fast unerträglich. Ich könnte versuchen, ihn mit Buchstaben und Worten zu beschreiben. Ich bin aufgestanden. Ich weiß nicht wie. Zwei Richtungen. Und es ist eine Höllenqual. Manchmal bekomme ich Angst, wenn ich es tue. Und dabei brauche ich Frieden, um überhaupt zurechtzukommen. Ich konnte nicht einfach dort liegen bleiben. Einen Schritt vor, einen zurück. Ich habe Kaffee gekocht und mir Rühreier gemacht. Ich weiß noch, wie das geht. Ich weiß nicht, was schwerer ist. Aber es war laut. Nicht alle anderen tun es. Ich glaube nicht, dass ich alles herausfinde, wenn ich keine Ruhe habe. Bässe und Trommeln. Es gibt Zeiten, da ich fast …

Joe hielt inne und rieb sich die Schläfen. Was für ein Kauderwelsch. Er blätterte um und las die nächste Seite. In diesem Stil ging es weiter – eine offenbar wahllose Aneinanderreihung von Gedanken. Joe überkam das unbestimmte Gefühl, dass der Brief eine Geschichte enthielt, die nur der Schreiber selbst kannte. Es handelte sich um eine Aufzählung von Fakten, Beobachtungen, Gedanken und Beschreibungen. Doch was Joe auf Seite sechs las, hatte endlich eine greifbare, wenn auch schreckliche Bedeutung. Auf dem rechten Rand stand senkrecht:

Er lag da, brutal zusammengeschlagen. Lowry ist das Resultat. Ich weiß nicht, ob ich irgendetwas anders hätte machen können.

Joe lief es eiskalt über den Rücken. Er überflog die nächsten Seiten und las wirre Ergüsse über Zimmer, Geschichten, Taschenrechner und Theater. Nach sechzehn Seiten endete der Brief, der nicht unterschrieben war: Es kommt noch mehr. Sobald mir wieder etwas einfällt.

»Meine Güte«, murmelte Joe. »Was ist denn das?«

Er rief die anderen zu sich. »Leute, ich habe gerade einen Brief bekommen, in dem es um Ethan Lowry geht.«

»Einen Brief?«, fragte Danny. »Von wem?«

»Von einem Unbekannten.«

»Und was schreibt dieser Unbekannte?«, fragte Rencher.

»Ziemlich wirres Zeug. Er schreibt darüber, wo genau das Salz in der Küche steht und wann er die Eier morgens in die Mikrowelle stellt … und eine Menge weitere Dinge, die er gern tut und die noch detaillierter geschildert werden.«

»Hat er den Brief unterschrieben?«, fragte Rencher.

»Ja, klar«, meinte Danny. »Und seine Adresse hat er auch angegeben. Darum sitzen wir ja alle jetzt hier und überlegen, wer den Wisch geschickt haben könnte.«

»Haltet jetzt alle mal das Maul. Ich lese euch den Brief vor.« Joe las laut vor. Als er verstummte, wartete er auf Reaktionen.

»Meint ihr, das sollten wir ernst nehmen?«, fragte Rencher.

»Ich glaube schon«, erwiderte Joe.

»Aber dieses ›Er lag da, brutal zusammengeschlagen‹ könnte jeder x-Beliebige den Zeitungen entnommen haben. Das ist keine Insiderinformation«, meinte Rencher.

Joe schaute wieder auf den Brief und zuckte die Schultern. »Ich glaube, dass da irgendwelche Informationen drinstecken. Gehen wir einfach mal davon aus.«

»›Es kommt noch mehr. Sobald mir wieder etwas einfällt‹, schreibt er«, sagte Danny. »Was meint er damit? Mehr Opfer?«

Joe zuckte wieder mit den Schultern. »Oder mehr Briefe.«

»Hoffentlich nicht.«

»Was bezweckt dieser Schrieb eigentlich?« Martinez schaute die Kollegen fragend an.

»Auf jeden Fall will jemand Kontakt zu uns herstellen. Warum auch immer«, meinte Rencher.

»Will er uns helfen?«, fragte Cullen. »Gibt er uns irgendwelche Informationen?«

Joe schaute wieder auf die Blätter. »Ja. Ich glaube, in dem Brief stecken tatsächlich Informationen. Ich bin sicher, der Schreiber dieser Zeilen versucht uns zu helfen.«

»Könnte der Brief vom Täter sein?«, fragte Rencher.

»Hört sich nicht nach einem Psychopathen an. Andererseits ist da diese Stelle: ›Lowry ist das Resultat. Ich weiß nicht, ob ich irgendetwas hätte anders machen können …‹«

»Ja«, sagte Joe. »Das könnte alles Mögliche bedeuten. Also gut. Ich mache für uns alle Kopien. Wenn jemandem etwas einfällt, sagt er mir Bescheid.«

»Meinst du, unsere Schriftexperten könnten uns mehr sagen?«, fragte Rencher.

»Bestimmt nicht viel, wenn überhaupt. Seht euch das Papier an, den Umschlag, den Stift – sieht mir eher nach Massenware aus. Falls wir noch einen Brief bekommen, können die Kollegen uns sagen, ob er von demselben Verfasser stammt. Und falls es Probleme gibt, wenn wir ihn zur Strecke bringen, können sie seine Schriftproben für einen Vergleich benutzen. Das ist alles. Als Erstes geben wir den Brief an die Kriminaltechnik weiter, damit sie ihn nach Fingerabdrücken untersuchen.« Joe zeigte auf seinen Notizblock. »Seltsam. Ist dem Schreiber denn nicht klar, dass seine Fährte leicht zurückzuverfolgen ist? Ich habe die Uhrzeit und den Ort, ab dem der Brief aufgegeben wurde, hier auf dem Stempel. Ich setze mich mit der Poststelle in Verbindung und erkundige mich, ob Filmmaterial aus Überwachungskameras zur Verfügung steht. – Könntest du mir die Ortis-Akte geben, Bobby?«

»Klar.« Bobby reichte sie ihm.

Die anderen diskutierten, während Joe langsam die Akte durchblätterte.

»Hast du das VICAP-Formular ausgefüllt?« In der FBI-Datenbank VICAP wurden die im gesamten Land verübten Gewaltverbrechen – vor allem Mordfälle – gesammelt, verglichen und analysiert.

»Für Ortis?«

»Ja.«

Bobby zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich hab’s nicht ausgefüllt.«

»Du hast das VICAP-Formular nicht ausgefüllt?« Joes laute Stimme klang durch das Büro.

»Füllt ihr die immer aus?« Bobbys Blick schweifte von einem zum anderen. »Es sind bloß hundert blöde Fragen, die keinem weiterhelfen. Das weiß doch jeder. Stundenlang sitzt man da, um den Quatsch zu beantworten. In der Zeit könnte man seine Ermittlungen vorantreiben, was viel sinnvoller wäre.«

»Begreifst du denn nicht, dass es Ethan Lowry hätte helfen können, wenn wir eine Verbindung hergestellt hätten?«, sagte Joe.

Bobby verzog das Gesicht.

»Und um deine Frage zu beantworten – ja, ich fülle die Formulare immer aus. Und das werde ich auch in Zukunft tun.«

William Anetos Mutter Carmen wohnte in der Hundertsechzehnten Straße in East Harlem über dem Lebensmittelgeschäft, das ihr gehörte. Die Tür, an der ein goldener Türklopfer hing, war in einem satten Grün frisch gestrichen.

Martinez klingelte, doch niemand öffnete.

»Das stinkt ganz schön.« Danny spähte in den Laden. Dann hob er die Hand, um noch einmal zu klingeln.

Martinez schlug seine Hand weg und klingelte selbst. »Das hier ist mein Auftritt.«

Mrs Aneto öffnete die Tür und warf ihnen einen müden Blick zu. Sie war eine kleine Frau Anfang fünfzig, die ein marineblaues Kostüm und Schuhe mit niedrigen Absätzen trug. Ihr Haar hatte sie ordentlich zu einem Knoten im Nacken frisiert. Sie hatte kein Make-up aufgelegt. Martinez begrüßte sie auf Spanisch und stellte sich und seinen Kollegen vor.

Die Frau starrte Martinez an. »Sie müssen der Alibi-Detective sein.«

Er runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Die Polizei schickt einen Detective, der dieselbe Hautfarbe hat wie das Opfer«, erklärte sie.

Martinez erwiderte etwas auf Spanisch, worauf Mrs Aneto sich lächelnd geschlagen gab und die beiden Detectives eine schmale Treppe hinauf und in eine kleine Wohnung führte.

Das Wohnzimmer war ziemlich verwohnt. Auf der Couch stapelten sich Frauenzeitschriften, und auf der Lehne lagen zwei Bücher. Auf einem Tablett standen eine Teekanne, eine Tasse und ein Teller mit Plätzchen. Mitten auf dem Couchtisch stand eine mit Kandiszucker gefüllte Schale. Hinter dem Breitbildfernseher waren hohe Regale mit DVDs zu sehen, und unten waren mehrere Reihen mit Kassetten gefüllt, die mit weißen, handgeschriebenen Etiketten versehen waren.

Mrs Aneto setzte sich in einen Lehnstuhl und stellte den Fußhocker zur Seite, der davorstand. Danny und Martinez setzten sich nebeneinander auf die Couch. Martinez beugte sich vor und stützte einen Unterarm aufs linke Knie. Er sprach Spanisch. »Mrs Aneto, Sie haben gesagt, dass Ihr Sohn Sie in der Nacht, als er starb, angerufen hat, um Ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Hat er sonst noch etwas gesagt?«

»Wir sollten unserem weißen Gast gegenüber nicht unhöflich sein«, sagte Mrs Aneto auf Englisch. »Warum stellen Sie mir diese Frage?«

»Weil es in unseren Ermittlungen neue Entwicklungen gibt …«

»Was für neue Entwicklungen?«

»Wir vermuten, es könnte ein weiteres Opfer gegeben haben.«

Mrs Aneto riss die Augen auf. »Ein Weißer?«

»Ja«, sagte Martinez. »Es könnten sogar zwei Opfer sein.«

»Beide weiß?«

»Ja. Wir haben mit einem anderen Angehörigen eines Opfers gesprochen, der in der Nacht, als der Mann starb, einen Anruf von ihm erhalten hat. In dem Gespräch ging es aber um etwas anderes als bei Ihnen. Und nun fragen wir uns, ob vielleicht Zusammenhänge bestehen …«

Mrs Aneto schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich in einem stillen Gebet. Dann atmete sie tief ein. »Weiße Detectives haben meinen Sohn als Latino-Opfer kennengelernt. Erster Minuspunkt. William ist homosexuell. Zweiter Minuspunkt. Ein dritter Minuspunkt wäre gewesen, wenn ich Ihnen gesagt hätte, um was es in dem Telefonat ging. Sie haben nichts getan, um Williams Mörder zu finden. Es war Ihnen völlig egal. Und jetzt sind Sie nur deshalb noch einmal hergekommen, weil auch weiße Männer ermordet wurden. Ich sage Ihnen jetzt etwas, das ich Ihnen damals nicht gesagt habe, und ich sage es Ihnen deshalb, weil zwischen den Morden vielleicht ein Zusammenhang besteht. Wenn Sie sich schon nicht für William ins Zeug gelegt haben, weil er die falsche Hautfarbe hatte, werden Sie es vielleicht für die neuen Opfer tun.«

»Mrs Aneto …«, sagte Danny.

Sie hob einen Finger. »Ganz egal, was Sie sagen wollen, an meiner Überzeugung wird sich nichts ändern.«

»Ihre Überzeugung, Mrs Aneto?«

Sie starrte ihn an. »Seit einem Jahr steigere ich mich in meine Wut und Bitterkeit hinein. Und jetzt bekomme ich meine Chance. Ich werde nicht um diese weißen Männer weinen, weil sie mir vielleicht helfen werden, meinen William endlich in Frieden ruhen zu lassen. Auf meinen armen Sohn fällt kein gutes Licht, aber ich bin froh, dass Bewegung in Ihre Ermittlungen kommt.

Zwei meiner Söhne sind tot. Pepe, mein Jüngster, wurde vor drei Jahren aus einem fahrenden Auto heraus erschossen – ein Bandenkrieg in Alphabet City. Mir wurde gesagt, er hätte Drogen beschafft. Ich habe das nie geglaubt. Und Pepes Mörder wurden nie gefasst.

Wie Sie wissen, hat William mich in der Nacht angerufen, als er starb. Es stimmt nicht, dass er mich nur anrief, um mir eine gute Nacht zu wünschen.« Sie verstummte kurz. »Ich konnte ihn kaum verstehen. Er schien betrunken zu sein. Er schluchzte und atmete schwer. Er sagte zu mir: ›Mom? Ich habe Pepe getötet.‹ Ich fragte ihn: ›William, ist alles in Ordnung? Was ist denn los?‹ Daraufhin erzählte er mir, was geschehen war. Er sagte, er habe Pepe losgeschickt, Drogen für ihn zu beschaffen. Darum sei Pepe dort gewesen. Und darum sei er erschossen worden. William bat mich um Vergebung. Immer wieder. Ich war wütend auf ihn. Aber ich hatte auch Angst um ihn, denn er hörte sich verzweifelt an. Als die Polizei am nächsten Morgen kam und mir sagte, dass man ihn tot aufgefunden habe, dachte ich, er hätte Selbstmord begangen.«

»William hat Drogen genommen?«

»Ich wusste nichts davon. Aber er muss das Zeug wohl irgendwann genommen haben. Ich weiß, dass William clean war, als er starb. Das hat die Untersuchung seines Leichnams bewiesen. Doch wenn ich Ihnen erzählt hätte, was er am Telefon gesagt hat, hätten Sie sich nur darauf konzentriert, dass er mit Drogen zu tun hatte.«

»Mrs Aneto, uns ist jedes Opfer wichtig«, beteuerte Danny. »Niemand wird aufgrund seiner Hautfarbe, seines Glaubens, seines Lebensstils oder aus irgendeinem anderen Grund anders behandelt. Wir wollen den Mörder Ihres Sohnes finden. Und wir wollen alle Informationen, die wir brauchen, damit uns das gelingt. Diese Informationen werden von uns nicht nach einem bestimmten System bewertet. Für uns stellen sie nur Fakten dar, die uns entweder eine Spur zum Killer liefern oder nicht.«

Mrs Aneto nahm ein Foto von William, das in einem glänzenden schwarzen Holzrahmen steckte, vom Sideboard und betrachtete das Bild. »Ich rede erst heute mit Ihnen, weil ich Hoffnung habe. Ich bin noch immer verbittert und wütend, aber ich habe Hoffnung. Dass ich Ihnen das alles nicht schon vor einem Jahr gesagt habe, bedaure ich nicht. Ich stehe zu meiner Entscheidung, denn ich mag gar nicht daran denken, wie wenig Mühe Sie sich gegeben hätten, wenn Sie gewusst hätten, dass William mit Drogen zu tun hatte.«

Joe nahm seine Jacke von der Stuhllehne und schaute sich im Büro um.

»Ich hab noch nichts gegessen und besorg mir was zum Frühstück, Leute. Möchte noch jemand etwas?«

Joe nahm drei Bestellungen entgegen. Als er aus dem Aufzug stieg, klingelte sein Handy. Es wurde eine Nummer angezeigt, die er seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen, aber nie gelöscht hatte: Anna (W).

Er runzelte die Stirn, als er das Handy ans Ohr setzte.

»Anna?«, fragte er.

»Wissen Sie, wo sie ist?« Es war die panische Stimme von Chloe, Annas Chefin.

Joe verschlug es die Sprache. Anna musste doch im W Hotel am Union Square sein! Die Nummer, die er heute Morgen in seinem Handy gespeichert hatte. Für den Fall der Fälle.

»Was ist denn los?«, fragte Joe. Von seinem Hunger spürte er nichts mehr; die Leere in seinem Magen war plötzlich mit Angst gefüllt.

»Anna ist heute Morgen nicht zu den Aufnahmen erschienen. Ich habe versucht, sie auf dem Handy und zu Hause zu erreichen. Nichts. Ihre Handynummer hat sie für Notfälle dagelassen. Tut mir leid, dass ich Sie störe …«

Joe seufzte. »Was hat das zu bedeuten? Als ich heute Morgen gegangen bin, wollte sie die U-Bahn zum Union Square nehmen, und es war alles in Ordnung …«

»Sie ist hier nicht aufgetaucht. Das passt gar nicht zu ihr.«

»Stimmt«, sagte Joe.

»Und nun?«, fragte Chloe. »Was sollen wir tun?«

»Überlassen Sie das mir.«

»Danke«, sagte Chloe. »Ich mache mir Sorgen.«

Ich auch, dachte Joe. Er stand auf der Straße, drückte mit zittrigen Fingern auf die Tasten seines Handys und suchte nach verpassten Nachrichten oder Anrufen, die er überhört hatte – nichts. Dann wählte er die Nummer von Annas Handy, anschließend die ihres Festanschlusses zu Hause. Beide Male erreichte er nur die Mailbox. Er schaute hinüber zu seinem Wagen auf der anderen Straßenseite und lief los.

Anna lag im Pyjama im Bett und schlief. Sie hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt und drückte sich ein Kissen an die Brust. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, bis sie plötzlich wie erstarrt auf dem Rücken liegen blieb und das Kissen zur Seite warf. Bilder zogen über sie hinweg und drückten sie gleichsam aufs Bett. Es war eine ungeheure psychische Belastung, die Anna am ganzen Körper spürte. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte schreien, konnte aber nicht. Gespenstische Augen und Münder, die sich immer wieder veränderten, schwebten über ihr, glitten ihre Brust hinauf, verharrten drohend vor ihrem Gesicht, schwebten davon und wurden von anderen ersetzt. Jede neue Fratze ließ panische Angst in ihr aufsteigen. Die Hände zu Fäusten geballt, die Augen fest zusammengekniffen, lag sie da. Ein verzweifelter Schrei erstarb in ihrer Kehle.

Anna hörte, dass jemand ihren Namen rief. Immer wieder. Doch es war eine freundliche, warme Stimme. Anna brachte sie mit einem lieben Menschen in Verbindung. Jemand, der sich um sie kümmerte. Sie entspannte sich ein wenig. Unwillkürlich stieß sie den aufgestauten Schrei aus, gefolgt von einem Stöhnen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie riss die Augen auf und sah Joe. Er saß neben ihr, zog sie auf seinen Schoß, streichelte ihr Haar und küsste sie auf den Kopf.

»Es ist alles gut, Liebling«, sagte er. »Alles ist gut. Ich bin bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben. Es war nur ein Albtraum. Es ist nichts passiert.«

Die Erleichterung in ihrem Blick brach ihm beinahe das Herz.

»Wieder die Schlafparalyse«, sagte sie. »Ich dachte, ich hätte es hinter mir. All diese schrecklichen Bilder …«

»Pssst«, flüsterte Joe. »Es ist vorbei. Wir gehen jetzt beide in die Küche. Ich koche dir einen Kräutertee und mir eine Kanne Kaffee. Ich kann einen starken Kaffee jetzt gut gebrauchen.«

»Warum bist du zu Hause?«, fragte Anna. »Wie spät ist es?«

»Ich bin zu Hause«, sagte Joe, »weil ich meine Frau vermisst habe.«