Stanley Frayte musste noch eine Stunde totschlagen, ehe er auf seiner Baustelle erwartet wurde. Er fuhr in seinem weißen Ford Econoline Van, auf dem in großen blauen Lettern sein Firmenname stand – Frayte-Elektrik –, die Holt Avenue hinunter. Am südlichen Rand des Astoria-Parks bog er auf den Parkplatz ein, genoss die Stille und die Aussicht und trank einen Becher Kaffee aus der Thermoskanne. Um halb neun war es hier ruhiger als eine Stunde zuvor, wenn die Sportler, die am Morgen zum Walken, Joggen und Schwimmen aufgebrochen waren, nach Hause fuhren, um vor der Arbeit noch schnell zu duschen.
Stanley beendete seine Pause, fuhr die Neunzehnte Straße hinunter und bog auf den kleinen Parkplatz des Wohnhauses ein, in dem er seit zwei Wochen arbeitete. Er nahm sein Werkzeug aus dem Wagen und ging den mit Steinplatten ausgelegten Weg hinauf. Auf halber Strecke blieb er stehen, legte sein Werkzeug auf die Erde, zog ein Taschenmesser vom Gürtel und klappte es auf. Dann kratzte er das Unkraut heraus, das aus einem Spalt im Beton spross. June, die Empfangsdame, die hinter der Rezeption saß, winkte ihm zu, als er auf das Haus zuging. Stanley öffnete die Tür und betrat die Eingangshalle. Es roch nach Essigreiniger, mit dem die Bodenfliesen gewischt worden waren.
Junes Rezeption stand linker Hand und war wie eine Mondsichel geformt, deren Bogen zur Tür hin geschwungen war. Die blassgoldenen Wände waren mit einer cremefarbenen Leiste abgesetzt und erstreckten sich bis zu den Aufzügen. Frei stehende Plastik-Absperrungen hinter der Rezeption machten den Korridor für alle Personen unpassierbar – mit Ausnahme der Arbeiter, die diesen Bereich des Gebäudes bis in den dritten Stock hinauf renovierten.
»Hi, Stanley«, sagte June lächelnd.
»Guten Morgen, June.« Stanley rückte seinen Werkzeuggürtel zurecht, der immer unter seinen Schmerbauch rutschte, egal in welcher Höhe er ihn befestigte. »Gibt’s etwas, das ich wissen muss?«
»Eigentlich nicht, nur dass Mary Burig aus dem ersten Stock das kleine Blumenbeet bepflanzen will, das Sie ihr netterweise überlassen haben.«
»Mary?« Sein Gesicht hellte sich auf. »Heute?«
June nickte. »Ja. Ich glaube, da hat Sie jemand um den kleinen Finger gewickelt, was?«
Stanley grinste. »Sie mag Blumen, das ist alles.«
Mary Burig überprüfte ihr Smartphone, auf dem alles gespeichert war, was sie nicht vergessen durfte: Telefonnummern, Adressen, Kontonummern, Termine, Geburtstage, Jubiläen, Stadtpläne und Routenplaner. Sie brauchte eine Viertelstunde, bis sie das Wohnzimmer aufgeräumt hatte. Sie begann an der Eingangstür und arbeitete sich im Uhrzeigersinn durch alle Ecken. Dann ging sie in die Küche und wischte sämtliche Flächen ab. Mary wollte gerade die Geschirrspülmaschine ausräumen, als es klingelte. Sie ging zur Wohnungstür und öffnete.
»Hallo, Magda«, sagte sie. »Komm rein. Tee?«
»Lieber Kaffee.« Magda umarmte sie.
Magda Oleszak war Anfang fünfzig, schlank und fit und mit frischem Teint, weil sie auf ihre Ernährung achtete und bei jeder Gelegenheit zu Fuß ging. Sie stammte aus Polen und war mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern vor zehn Jahren in die USA eingewandert. Sie sprach perfekt Englisch, hatte ihren Akzent jedoch beibehalten.
»Bei dir sieht es großartig aus.« Magda schaute sich um und zog ihre leichte Regenjacke aus. Neben Marys Bett lag Rebecca von Daphne du Maurier. »Liest du den Roman etwa schon wieder?«
»Ja«, erwiderte Mary. »Ich weiß, es ist verrückt, weil ich das Buch fast auswendig kenne.«
»Da wir gerade über Bücher sprechen«, fuhr Magda fort. »Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Stan Frayte verschönert die Bücherei für dich. Kostenlos.«
Mary klatschte in die Hände. »Das ist ja großartig! Vielleicht wird sie dann endlich wie eine richtige Bücherei und nicht mehr wie ein Laden aussehen.«
Magda ging in die Küche. »Es ist kein Kaffee mehr da, Mary!«
»Oh, tut mir leid.« Mary drückte auf dem Menü ihres Smartphones auf »Aufgaben« und schrieb Kaffee auf die Einkaufsliste.
»David kommt heute Morgen, nicht wahr?«, sagte Martha, kam ins Wohnzimmer zurück und setzte sich aufs Sofa.
»Ja, er müsste gleich hier sein.«
»Soll ich bleiben, bis er kommt?«
»Das wäre toll«, sagte Mary.
David Burig war vierunddreißig, sah aber jünger aus. Meistens trug er Anzüge, damit seine Mitarbeiter ihn ernst nahmen. Er führte ein erfolgreiches Catering-Unternehmen, das er gekauft hatte, nachdem er vor neun Jahren eine überbewertete Software-Firma abgestoßen hatte.
»Hallo zusammen«, sagte er, als er kurz darauf erschien. Er umarmte Mary und küsste sie auf die Wange.
»David«, rief sie. »Juhu!«
»Wenn nur alle Frauen so reagieren würden, wenn sie mich sehen.«
David lachte. »Ich fühle mich geehrt. Okay, dann wollen wir mal ans Werk gehen und die Blumen pflanzen. Ich ziehe mich rasch um.« Er musterte Mary. »Du siehst toll aus.«
Mary trug eine orangefarbene Baggyhose aus Baumwolle mit schmalen Bündchen an den Knöcheln, ein grünes Top und weiße Turnschuhe. »Findest du?«
»Umwerfend.« David verschwand mit seiner Sporttasche im Badezimmer.
»Hast du alles, was du für die Gartenarbeit brauchst?«, fragte Magda.
Mary zeigte auf die Geräte, die bereitlagen: »Zwei Schaufeln, eine Matte für die Knie, eine Gießkanne, eine Harke … Ist das alles?«
»Ja«, meinte Magda. »Hinter dem Haus ist ein Wasserhahn.«
Als David zurückkam, trug er eine zerschlissene Jeans, ein langärmeliges blaues Sweatshirt und grüne Pumas im Retrolook. »Okay«, sagte er. »Dann wollen wir mal. Komm, Lady in der scheußlichen Hose, lass uns runtergehen und die schmutzige braune Erde zum Leben erwecken.«
»Ich fahre mit euch im Aufzug runter«, sagte Magda.
Mary legte die Matte vor das Blumenbeet, das sich am Rande des Grundstücks entlangzog, etwa fünfzehn Meter von der Rückseite des Hauses entfernt. Blumentöpfe mit Chrysanthemen in leuchtendem Gelb, Orange und Magenta standen in einer Reihe vor der Wand.
»Sie sind sehr schön«, sagte Mary.
»Stimmt«, pflichtete David ihr bei. »Stan bleibt denselben Farben treu, nicht wahr? Im Herbst pflanzt er nur andere Blumen.« Er drehte sich zu dem kahlen Blumenbeet um. »Schau, er hat den Bereich markiert, auf dem wir pflanzen dürfen. Die schattigste Ecke.«
»Damit wir nichts falsch machen«, sagte Mary. »Wir müssen die Blumen aus den Töpfen nehmen, vorsichtig die Wurzeln abbrechen und sie hier in einem bestimmten Muster pflanzen.« Sie reichte David ein Blatt mit einer groben Skizze.
Er warf einen Blick darauf. »Das dürfte nicht allzu schwierig sein.«
Mary kniete sich auf die Matte und grub ein Loch. David wandte sich den Blumentöpfen zu, stach mit einer kleinen Schaufel in den ersten Topf, löste die Pflanze heraus und schüttelte die überschüssige Erde ab.
Mary lächelte. »Nett, dass du mir hilfst.«
»Ich helfe mir selbst«, erwiderte er. »Das ist eine Therapie. Dem Büro den Rücken kehren und raus an die frische Luft.«
Als David im Gras am Rande des Blumenbeetes Unkraut entdeckte, zupfte er es aus und hielt es hoch. »Ist es nicht seltsam? Wie schnell das Schöne so hässliche Dinge anziehen kann.«
»Wie im Garten von Manderley«, sagte Mary.
»Genau.«
Nachdem sie eine Stunde gearbeitet hatten, hielt David inne und beobachtete seine kleine Schwester, deren Konzentration nie zu erlahmen schien. Sie beugte sich über die farbenprächtigen Blüten, hielt sie vorsichtig in ihrer kleinen Hand und war mit Leib und Seele bei der Arbeit.
»Zum wievielten Mal liest du jetzt eigentlich Rebecca?«, fragte er.
Sie hob den Blick. »Keine Ahnung.«
»Du musst das Buch inzwischen auswendig können.«
Mary lächelte traurig und zitierte: »›Jeden von uns reitet ein Teufel, der uns peinigt. Und am Ende müssen wir uns dem Kampf stellen. Wir haben unsere Teufel bezwungen …‹«
David seufzte. »Oder glauben es zumindest.«