22

Bobby Nicotero betrat das Büro der Mordkommission Manhattan Nord und steuerte geradewegs Joes Schreibtisch an.

»Könnte ich mal kurz mit dir sprechen, Joe?«, fragte er.

»Klar. Schieß los.«

»Auf dem Flur, ja?«

»Wieso? Du kannst hier mit mir reden.«

Mit zornig funkelnden Augen zeigte Bobby mit dem Finger auf Joe. »Nein, auf dem Flur. Nun komm schon.« Er drehte sich um und ging hinaus.

Joe stand langsam auf und folgte ihm.

»Würdest du mir bitte sagen, was zwischen dir und meinem Vater abgeht?«, zischte Bobby.

»Wie meinst du das?« Joe schloss die Tür hinter sich.

»Ich weiß, dass du irgendwas im Schilde führst. Er macht etwas für dich, so viel steht fest. Und …«

»Was redest du denn da?«

»Er tut so geheimnisvoll. Ich glaube, ich hab mit meinem Verdacht falsch gelegen, dass er meine Mutter betrügt.«

»Natürlich hast du damit falsch gelegen. Das hätte ich dir gleich sagen können.«

»Klar, der allsehende, allwissende Joe Lucchesi hat es gewusst. So ein Schwachsinn.«

»Wirst du eigentlich nie erwachsen?«

»Ach, halt doch die Schnauze.«

Joe seufzte laut. »Bobby, ich mag deinen Vater sehr, ob es dir nun gefällt oder nicht. Er langweilt sich und vermisst die Arbeit …«

»Mein Vater ist mir ziemlich schnuppe. Mir liegt das Wohlergehen meiner Mutter am Herzen. Sie macht sich schreckliche Sorgen um ihn. Sie ist heilfroh, dass er seinen Ruhestand unversehrt antreten konnte, und will nicht, dass du ihn in deinen Mist hineinziehst.«

»Was sich zwischen deinem Vater und mir abspielt, geht dich gar nichts an.«

»Ihr steckt mal wieder unter einer Decke, was? Aber mein Vater hat ’ne Frau. Schon vergessen?«

»Meine Güte, du müsstest mal hören, was du da redest, du armer Irrer. Ich helfe deinem Vater bei seinem Buch, okay? Das ist alles. Weißt du jetzt endlich Bescheid?«

»Du bist ein Arsch, Lucchesi.«

»Das ist wirklich alles, Bobby. Frag deinen Vater.«

»Ich frag ihn doch nicht so einen Blödsinn.«

»Das ist kein Blödsinn.«

»Was soll das heißen?«

»Du hast selbst gesagt, du interessierst dich nicht für ihn. Er will etwas Sinnvolles mit seiner Zeit anfangen. Ich helfe ihm dabei.«

»Was weißt denn du schon, was mein Vater will, Lucchesi? Nichts!«

»Red keinen Unsinn, ich kenne ihn seit Ewigkeiten. Wir …«

»Hör zu, Joe, wir arbeiten in diesem Fall zusammen. Das ist okay. Ich gehe jetzt wieder ins Büro, und alles ist in Butter. Aber halte dich von meiner Familie fern.«

»Was soll das heißen?« In Joe stieg Wut auf. »Jetzt reicht’s mir aber, Bobby. Geh mir aus den Augen.«

Mit diesen Worten kehrte Joe ins Büro zurück.

Rufo stand neben seinem Schreibtisch und hielt einen großen Becher Banana Coconut Frappuccino mit Schlagsahne in der Hand. Joes Blick schweifte von dem alkoholfreien Cocktail zu seinem Chef, doch er sagte nichts.

»Alles in Ordnung?«, fragte Rufo.

»Ja, klar. Ich staune nur über Ihre knallharte Diät.« Joe strich über die Jacke und setzte sich an seinen Schreibtisch.

»Wie ist der Plan?«, fragte Rufo.

»Wir wissen, welcher Anschluss von Dean Valtrys Haus aus zuletzt angewählt wurde. Es handelt sich um eine gewisse Marjorie Ruehling. Sie wohnt in der Bronx. Danny und ich fahren gleich zu ihr. Valtrys Autopsiebericht müsste heute Nachmittag vorliegen.«

»Dieses Schätzchen hier hat fünfhundertfünfzig Kalorien«, sagte Rufo traurig und betrachtete den Banana-Becher. »Das kann ich mir eigentlich nicht erlauben.«

Danny ging zu ihm und nahm ihm den Becher aus der Hand. »Soll ich Sie von Ihrem Elend erlösen, Chef?«

Rufo nickte betrübt.

Danny leerte den Becher und ließ ihn in den Papierkorb fallen. »Aaah. Lecker. Als würde man Urlaub trinken.«

Joe schüttelte den Kopf. »Klopf keine Reklamesprüche. Komm jetzt. Bis später, Chef.«

Rufo starrte traurig auf den leeren Becher.

Marjorie Ruehling wohnte in einer Nebenstraße des Southern Boulevard in der Bronx – in dem einzigen Wohnhaus in der Straße, das nicht restauriert worden war, zum Verkauf stand oder abgerissen werden sollte. Joe klingelte an der Wohnungstür. Die Stimme einer älteren Dame meldete sich durch die statisch knisternde Gegensprechanlage.

»Sie wünschen?«

»Marjorie Ruehling?«, fragte Joe.

»Ja. Wer ist da?«

»Detectives Lucchesi und Markey von der New Yorker Polizei. Wir würden gerne raufkommen und mit Ihnen sprechen.«

»Worüber?«

Joe schaute Danny kopfschüttelnd an. »Kennen Sie einen Dean Valtry?«

»Ich komme herunter«, sagte sie. »Dann können Sie mir Ihre hübschen Dienstmarken zeigen.«

»In Ordnung, Ma’am.«

Fünf Minuten später öffnete eine etwa sechzigjährige dünne Frau mit karamellfarbenem aufgebauschtem Haar und in einem pfirsichfarbenen Trainingsanzug aus Velours die Tür einen Spalt und betrachtete eingehend die Dienstmarken der Detectives. Schließlich öffnete sie die Tür ganz und führte Joe und Danny in eine kleine Eingangshalle mit grau angestrichenen Wänden, an denen Briefkästen hingen, von denen die meisten von Reklamesendungen überquollen.

»Der Mann, den Sie erwähnt haben«, sagte Mrs Ruehling. »Dieser Dean Valtry. Er hat gestern Abend hier angerufen.«

»Sie kannten ihn?«

»Eigentlich nicht. Meine Tochter Sonja war mal mit ihm befreundet. Da müssen Sie schon mit ihr sprechen. Sie kann Ihnen bestimmt mehr sagen. Er hat angerufen, um mit Sonja zu reden.«

»Haben Sie es ihr ausgerichtet?«

»Das ging nicht«, sagte Mrs Ruehling. »Ich wusste, dass sie mit ihrem Mann ausgegangen war. Und Valtry wollte keine Nummer hinterlassen.«

»Also gut«, sagte Danny. »Würden Sie uns bitte Sonjas Adresse geben?«

»Ich habe eine bessere Idee. Trinken Sie einen Kaffee mit mir. Sonja kommt gleich vorbei.«

»Danke«, sagte Joe. »Gern.«

Die Teppiche, Sofas und Kissen in Marjorie Ruehlings Wohnung waren in gedeckten, beinahe tristen Creme-, Beige- und Brauntönen gehalten. Joe und Danny nahmen in schweren alten Sesseln Platz.

»Welchen Eindruck hat Mr Valtry gestern Abend am Telefon auf Sie gemacht?«, fragte Joe.

Mrs Ruehling stülpte die Lippen vor und zog die Jacke straff um ihre Schultern. »Wie ich bereits sagte, ich kenne den Mann nicht, aber ich glaube … nun, er sprach sehr schnell. Das ist mir besonders aufgefallen. Das Gespräch war rasch zu Ende, nachdem er mich gebeten hatte, Sonja um einen Rückruf zu bitten.«

»Hat er deutlich gesprochen?«, fragte Joe.

»Ja, wieso?«

»Klang er so, als hätte er eine Erkältung? Ist Ihnen an seiner Stimme irgendetwas aufgefallen?«

»Nun ja … er wirkte ungeduldig.«

»Könnten Sie das genauer erklären?«

Als sie einen Schlüssel im Schloss hörten, verstummten alle.

»Mom?«, rief Sonja aus der Diele.

»Wir sind im Wohnzimmer«, rief Mrs Ruehling ihrer Tochter zu.

Sonja Ruehling kam ins Zimmer. »Guten Tag … oh, was ist los?«

Ihre Mutter lächelte. »Keine Bange, es ist alles in Ordnung. Die Herren sind von der Polizei. Kein Grund zur Besorgnis. Es geht nur um gestern Abend.«

Sonja runzelte die Stirn.

»Jemand hat gestern Abend bei Ihrer Mutter angerufen und wollte Sie sprechen«, sagte Joe. »Dean Valtry.«

»Dean Valtry?« Sonja drehte sich zu ihrer Mutter um. »Was wollte er?«

»Das hat er nicht gesagt. Er wollte nur, dass du ihn anrufst.«

»Hat er eine Nummer hinterlassen?«, fragte Sonja.

»Nein. Sagen Sie mal, warum fragen Sie nicht ihn, Detective?« Mrs Ruehling blickte Joe an.

»Woher kennen Sie Mr Valtry?«, fragte Joe Sonja.

»Es macht dir doch nichts aus, wenn ich allein mit den Herren spreche, Mom?«, sagte Sonja. »Du musst nicht dabei sein.«

»Na gut. Aber nur, wenn du mir hinterher alles erzählst.« Marjorie nahm einen Apfel aus der Obstschale und ging hinaus.

»Wissen Sie«, sagte Sonja, »es ist wirklich seltsam. Ich kenne Dean Valtry, weil ich mit seinem Freund zusammen war. Aber das ist Jahre her. Damals war ich einundzwanzig oder zweiundzwanzig.«

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Mr Valtry gestern Nacht ermordet wurde«, sagte Joe.

Sonja schlug die Hand vor den Mund. »Mein Gott!«

»Und er hat gestern mehrere Male versucht, bei Ihrer Mutter anzurufen. Er wollte mit Ihnen sprechen. Ihre Mutter wollte ihm Ihre Nummer aber nicht geben. Wir würden gerne wissen, warum Valtry mit Ihnen reden wollte. Können Sie uns das sagen?«

»Tut mir leid, ich habe keine Ahnung.« Sonja zuckte die Schultern. »Wir standen uns nicht besonders nahe, wissen Sie. Um ehrlich zu sein, kamen wir nicht allzu gut miteinander aus. Der arme Kerl. Gott hab ihn selig.«

»Erzählen Sie uns bitte, wie Sie ihn kennengelernt haben.«

»Damals habe ich bei Feelers gearbeitet, der Kneipe in East Village. Zwischen einem meiner Kollegen, Alan Moder, und mir hatte es gefunkt. Dean Valtry war Alans Freund. So habe ich ihn kennengelernt.«

»Was war Valtry für ein Mensch?«

»Ach, er war ganz in Ordnung«, sagte Sonja. »Allerdings ziemlich langweilig. Er hatte sich viel angelesen, war aber dumm. Eine gefährliche Kombination. Er war einer von den Typen, die in allen Dingen intelligenter sein wollen als andere, es aber nicht sind.«

»War er jemals gewalttätig?«

»Dean?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Warum fragen Sie?«

»Nun, wir haben jetzt die Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen, und da möchten wir so viele Informationen wie möglich sammeln«, erklärte Danny.

Joe fragte: »Wann haben Sie Valtry das letzte Mal gesehen?«

»Das ist Jahre her. Sagen Sie, gehörte ihm noch immer dieses Dentallabor?«

Joe nickte.

»Aber er soll nicht besonders talentiert gewesen sein, stimmt’s?«, sagte Sonja.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich weiß es von Alan. Sie waren zusammen auf dem College. Schon komisch. Alan hat die Schule abgebrochen, und dabei war er von den beiden derjenige, der wirklich Talent hatte.«

»Aber Valtry hatte das Labor eröffnet«, sagte Joe.

»Ja. Doch Alan hat entscheidend dazu beigetragen, dass das Labor einen so guten Ruf erlangt hat. Alan hat für Dean gearbeitet.«

»Hat Alan jetzt ein eigenes Labor?«

»Ich habe keine Ahnung, wo Alan jetzt ist oder was er treibt.«

»Es ging zwischen Ihnen nicht gut aus?«, fragte Danny.

»Ich will es mal so ausdrücken: Als ich Alan Moder zum letzten Mal gesehen habe, hat er mir in einem französischen Bistro in der Neunundzwanzigsten Straße vor meinen Kollegen Obszönitäten an den Kopf geworfen – sieben Jahre, nachdem ich ihn auf eine zugegeben miese Art abserviert hatte, damit er mich ein für alle Mal in Ruhe lässt.«

»Verstehe«, sagte Joe.

»Inzwischen bin ich natürlich darüber hinweg. Aber damals war ich zweiundzwanzig und wahnsinnig verliebt. Ich dachte, bei ihm wäre es genauso, bis ich ihn mit einer Frau erwischt habe, die doppelt so alt war wie er … eine fette, reiche Schlampe. Ich wusste, dass sie Alan nicht das Geringste bedeutete. Später tauchte er öfters in dem Restaurant auf und versuchte mich zurückzugewinnen, nachdem die Schlampe, wegen der er mich verlassen hatte, gestorben war. Aber das Kapitel ist längst abgeschlossen. Ich bin jetzt verheiratet.« Sie hob den Blick. »Tja, ich hoffe, jetzt sind Sie im Bilde.«

»Lassen Sie uns noch einmal auf Dean Valtry zurückkommen«, sagte Danny. »Haben Sie eine Ahnung, warum er Sie sprechen wollte?«

Sonja blickte die Detectives ratlos an. »Nein. Wir drei waren damals oft zusammen, Dean, Alan und ich, aber eigentlich nur, weil Dean der einzige Freund von Alan war, und darum hockte er uns ständig auf der Pelle. Er war … wir verstanden uns nicht besonders gut.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist seltsam, dass er jetzt versucht hat, mich anzurufen. Was er wohl von mir wollte?«

»Alan Moder scheint die einzige Verbindung zu Dean Valtry zu sein, an die Sie sich erinnern«, sagte Joe. »Sie haben wirklich keine Ahnung, wo wir Alan finden könnten, falls wir mit ihm reden müssen?«

»Er stammte aus Maplewood in New Jersey, aber ich glaube, er war nie mehr dort. Er hatte sich mit seiner Familie überworfen. Aber Sie könnten es ja trotzdem versuchen. Sein Vater hieß Tony mit Vornamen, so viel weiß ich noch.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Okay«, sagte Joe. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Shaun kam in die Küche und ging an seiner Mutter vorbei zum Kühlschrank. Er nahm den Orangensaft heraus, trank einen Schluck und stellte den Saft wieder zurück.

»Du bist sicher froh, wenn ich dir sage, dass ich nicht mehr mit Tara zusammen bin«, murmelte er.

»Was?«, sagte Anna erstaunt. »Warum sollte ich mich darüber freuen?«

Shaun starrte sie an. »Ist das dein Ernst?«

»Sie war doch süß.«

»Süß? Seit wann findest du klapperdürre Bräute süß?«

»Sie hatte ein hübsches Gesicht.«

»Unter dem ganzen Make-up sah sie aus wie Frankensteins Braut.«

»Shaun!«, sagte Anna mit gespielter Empörung.

»Soll ich dir was Lustiges erzählen?«, fragte Shaun.

»Das wäre zur Abwechslung mal nicht schlecht«, sagte Anna.

»Ich habe ihr eine gebundene Ausgabe von Romeo und Julia gekauft, weil sie mir gesagt hatte, dass sie die Geschichte so geil findet. Als ich ihr das Buch geschenkt habe, hat sie gesagt: ›Wer liest denn so einen Schinken? Ich meinte den Film. Leonardo di Caprio ist ein so heißer Typ.‹«

Anna lachte. »Oh, là là.«

»Ich weiß.« Bobby Nicotero saß an seinem Schreibtisch im zwanzigsten Revier. Er arbeitete gerne dort und wollte die Mordkommission Manhattan Nord möglichst schnell wieder verlassen. Seine Schicht war schon seit drei Stunden zu Ende, aber er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Stattdessen las er Kopien der Aussagen, machte sich Notizen, unterstrich einige Stellen mit einem Marker und überprüfte alles noch einmal, doch er konnte nichts Neues entdecken. Dann fiel ihm ein Textabschnitt ins Auge, den er mit einem blauen Marker hervorgehoben hatte. Bobby nickte. Er musste nur noch eine Sache überprüfen.

Anna lag auf dem Sofa. Sie sah fern und blätterte in einem großformatigen Wälzer mit Stoffmustern, als Joe nach Hause kam.

»Hallo«, sagte sie.

»Hallo.«

Joe zog seine Jacke aus, nahm die Krawatte ab und zog das Hemd aus.

»Shaun hat mit Tara Schluss gemacht«, sagte Anna.

»Tatsächlich?«

Anna nickte. »Ja.«

»Tja, ich bin auch nie mit den Mädchen zusammengeblieben, die meine Mutter nicht mochte.«

»Du mochtest Tara auch nicht besonders«, protestierte Anna.

»Ja, aber du hast sie spüren lassen, dass du sie nicht magst.«

»Bist du jetzt unter die Psychologen gegangen?«, sagte Anna. »Stell dir vor, wir bekommen noch einen Jungen und müssen das alles noch einmal durchmachen. Oder ein Mädchen, auf das wir ständig aufpassen müssen, damit es sich nicht so entwickelt wie Tara.«

Joe erwiderte nichts.

»Was ist los?«, fragte Anna.

»Nichts.«

»Du hast doch irgendwas. Wir haben die ganze Woche kaum ein Wort gewechselt.«

»Ich hab viel um die Ohren, Anna.«

»Ich auch.«

»Tut mir leid«, sagte Joe. »Ich habe ganz vergessen, wie stressig es ist, auf dem Sofa zu liegen und in Mustermappen zu blättern. Da komme ich mit meinen paar Leichen natürlich nicht mit.«

»Das ist nicht fair.«

»Das ganze Leben ist nicht fair. All der Schmutz, den ich zu sehen bekomme.« Er zeigte auf Annas Musterbuch. »Da ist es mir wirklich egal, ob gestreifte Tapeten ein Comeback erleben.«

Anna starrte ihn an. »Du hast immer das letzte Wort, du arroganter Schnösel.«

»Ich bin nicht arrogant«, widersprach Joe. »Ich bin nur realistisch und lebe nicht wie du in höheren Sphären.«

»In höheren Sphären?«

Ihre gereizte Stimme ließ seinen Zorn noch höher auflodern.

»Ja. Diese kleinen Scheinwelten, in denen alles perfekt ist, alle glücklich sind, die Sonne scheint und alle in schicken Designerklamotten und mit makellosen Körpern durch ihre chromblitzenden Küchen oder ihre plüschigen Schlafzimmer schweben, ein breites Grinsen auf den glatt gebügelten Gesichtern.«

Anna schüttelte den Kopf. »Sag mal, ist alles in Ordnung? Was ist los mit dir?«

»Willst du es wirklich wissen? Ich bin wütend! Ich habe versucht, cool zu bleiben, aber ich schaff’s nicht. In einem Jahr geht Shaun aufs College, und mir gefiel der Gedanke, dass wir beide dann unser Leben hier zu zweit gestalten, verstehst du? Und jetzt ist es so, als hätte jemand auf die Rückspultaste gedrückt, und wir beide sind wieder da, wo wir vor achtzehn Jahren gewesen sind. Ich komme mir vor, als hätten wir uns den Hintern für nichts aufgerissen. Außerdem könnte das Baby ein Vorwand für dich sein, dass du dich weiterhin hier einigelst, anstatt dich wieder dem Leben zu stellen.«

»Was soll das heißen?«

»Schau dir doch an, wie du lebst, Anna. Du gehst kaum vor die Tür, bist den ganzen Tag und jeden Abend hier.« Joe blickte sie an. »Ich liebe euch sehr, dich und Shaun. Ihr bedeutet mir alles. Aber wir sind nicht mehr dieselben. Vieles hat sich verändert.«

»Vielleicht bringt das Baby alles wieder ins Lot.«

Joe schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist ein verdammt harter Job für ein Baby.«