17
Die schmale Tür, die in einem schrägen Winkel in die dicken Mauern eingesetzt war, erzitterte dumpf, als ich dagegenschlug. Sie mußten mich gesehen haben, als ich im letzten Licht der Sonnen gekommen war. Sie hielten aufmerksam durch die Schießscharten Wache. Nichts geschah. Gerade als ich die Faust hob, um ein weiteres Mal gegen die Tür zu schlagen, öffnete sie sich. Sie quietschte nicht. Sie schwang auf gut geölten Scharnieren nach innen. Ich zweifelte nicht daran, daß Diebe manchmal schnell rein- oder rausgehen mußten. Eine Masse Haar, die im Gesicht eines kahlen Schädels wuchs, stand im Licht einer Laterne vor mir, die von einem zerlumpten Arm hochgehalten wurde. In dem Haar öffnete sich ein Mund. Ich ließ dem Türwächter keine Gelegenheit, etwas zu sagen.
»Bring mich sofort zu Kei-Wo dem Dipensis, Sonnenschein, oder du wirst die Peitsche zu schmecken kriegen.«
»Bei den vorstehenden Zähnen des alten Snorribunder, Dom! Ruhig! Kei-Wo erwartet dich ...«
»Warum stehst du dann noch dumm hier herum?« Er rülpste geräuschvoll, raffte sein Gewand hoch und ging den gemauerten Korridor entlang. Überall stiegen stinkende Ausdünstungen empor.
»Bei Lohrhiang mit den Fünf Händen«, murmelte er vor sich hin, während er vor mir herschlurfte und das Laternenlicht seltsame Schatten auf die schmierigen Wände warf. »Ich hoff bloß, der olle Fing-Na un' Naghan der Chik krieg'n dich inne Finger!«
Er zog laut einen Schleimklumpen in der Kehle hoch, spuckte ihn aus und traf zielsicher klatschend ein dahereilendes kleines Ding mit acht spindeldürren Beinen.
Er führte mich in den Raum, in dem ich aufgewacht war, gefesselt im Sessel mit der stählernen Zwinge um den Kopf. Die Gerüche waren die gleichen. Ein Bursche saß in dem Stuhl, den Kopf fest gefesselt, und verging vor Selbstmitleid. Kei-Wo lümmelte sich in seinem Stuhl und stocherte in den Zähnen herum. Der Großteil seiner Bande schien anwesend zu sein. Ich erkannte Sooey, Sindi-Wang, Naghan den Chik, Fing-Na und noch ein paar andere vertraute Gesichter.
Ich wollte Kei-Wo keine Chance geben, die Initiative an sich zu reißen. Ich wies mit dem Kopf auf den auf den Stuhl gefesselten Mann und sagte: »Wenn seine Verbrechen nicht zu schlimm sind, befreist du ihn lieber. Für die Arbeit dieser Nacht wirst du jeden Mann brauchen, den du hast.«
Er schaukelte weiter, indem er sich mit dem Fuß vom Boden abstieß. Er war nicht im mindesten aus der Fassung gebracht. »Willst du unbedingt sterben?«
Ich blickte ihn fest an. »Wenn du nicht genau tust, was ich dir sage, wirst du dir sicherlich wünschen zu sterben, wenn Na-Si-Fantong sich mit dir beschäftigt.«
Er hörte auf zu schaukeln. Keiner rührte sich. Es herrschte absolute Stille.
O ja, damit keine falschen Vorstellungen aufkommen. Wie ein Onker spielte ich ein riskantes Spiel. Das erste Ergebnis war absolut zu meinen Gunsten. Die ganze Bande war versteinert.
Schließlich schaffte es Kei-Wo, ein paar Worte hervorzubringen. »Der Zauberer? Du hast mit ihm geredet – er war sehr erzürnt über den Trick ...«
»Er und ich sind jetzt zusammen, Kei-Wo. Du gehorchst dem Zauberer, oder ...« Ich winkte mit der Hand. »Er fordert die königliche Halskette. Wir werden sie ihm heute nacht beschaffen.«
Die Gerüche in dem Zimmer wurden noch schärfer. Die junge Valli hockte auf dem Boden, fasziniert von dem Geschehen. Im Inneren hegte ich die merkwürdige Überzeugung, daß Na-Si-Fantong, wenn er durch einen bösen Zufall diese wohlriechende Versammlung belauschte, meine List amüsieren würde. Er begehrte lediglich die Halskette. Was mich betraf, so hatte sie keinerlei Bedeutung. Bei Vox, Sie werden sehen, daß ich weit entfernt von der Realität dessen umhertrieb, was sich tatsächlich abspielte.
Kei-Wo war zweifellos ein hartgesottener Hulu. Er schaukelte nach hinten. »Wir haben nach dir gesucht, Drajak der Schnelle, damit Naghan der Chik sein Messer nach dir werfen kann. Der Zauberer hatte Schwierigkeiten, sich davon abzuhalten, uns alle in kleine grüne Kröten zu verwandeln.«
Hier in Loh, als Fremder, sprach ich mit aller Pseudoautorität des Neulings. »Manche Magier bringen dies zustande, andere wiederum etwas anderes.«
Ich wußte Bescheid. Zauberer verbringen viel Zeit damit, ihre Kunst zu erlernen. Sie neigten dazu, sich zu spezialisieren. Wenn ein Magier unschlagbar darin war, Leute in kleine grüne Kröten zu verwandeln – was ich bezweifelte –, dann würde er weniger Erfolg haben, wenn er ins Lupu ging, um andere Leute aus der Entfernung auszuspionieren. Das bedeutete, daß jeder Zauberer, der mit seinen Fähigkeiten prahlte und sie zur Schau stellte, in den restlichen zauberischen Disziplinen vermutlich ziemlich erfolglos war. Natürlich konnte das kleine Wort ›restliche‹ andere Details des zauberischen Handwerks einschließen, die gewöhnlichen Sterblichen unbekannt waren. Das war einer der Gründe, warum ich es als ehemaliger Herrscher von Vallia willkommen geheißen hatte, daß drei Magier aktiv für Vallia arbeiteten. Wahrscheinlich würden es in wenigen Jahren noch mehr werden. Khe-Hi und Ling-Li waren nach Wonban gereist, um sich darum zu kümmern, daß ihre Kinder die richtigen Rituale und Zeremonien bei der Geburt empfingen.
Als harte Anführer einer Stadtbande blieb Kei-Wo nichts anderes übrig, als zu sagen: »Das ist wahr. Aber wenn ein Zauberer befiehlt, tut man gut daran zu gehorchen.«
Ich nickte. »Ganz genau. Bereitet euch vor. Heute nacht brechen wir in eine Villa ein. Es sind Wachen da. Wir müssen die Gewalt anwenden, die nötig ist. Na-Si-Fantong erwartet unseren Erfolg.«
Für das Summen der angeregten Unterhaltung in dem Zimmer mußte man Verständnis aufbringen. Ich war zuversichtlich, daß sich keiner der Leute hier gegen einen Zauberer stellen würden. Es bestand nur eine Gefahr – und trotz meiner Gefühle war sie real –, nämlich daß Na-Si-Fantong, einmal angenommen, er beobachtete uns, etwas gegen meinen Plan hatte.
Ich fragte mich, auf welche Entfernung er Magie wahrnehmen konnte. Ich hatte keine Zeit gehabt, Leone zu treffen – jetzt Königin Leone – und den Hofzauberer Chang-So eine andere falsche Kette magisch behandeln zu lassen. Das hätte sich als nützliche List erweisen können; jetzt würden die Schurken in Shang-Li-Pos Villa einbrechen müssen, um meine Pläne voranzutreiben und die ihren und die Na-Si-Fantongs völlig durcheinanderzubringen.
Wenn Fantong mitten in diesen ganzen Vorgängen sein Interesse zeigte, konnte ich mir vorstellen, daß seine Reaktion durchaus etwas mit kleinen grünen Kröten zu tun haben konnte.
Die Bande bereitete sich in einer Stimmung vor, die man nicht unbedingt als mürrisch bezeichnen konnte, aber auch nicht als eifrig.
Da ich zu meiner Zeit auch so etwas wie ein Räuber gewesen war, ein Herumtreiber, ein Bursche, der sich ständig seiner Haut erwehren mußte, ließ mich das Gefühl, immer noch Dray Prescot zu sein, vermutlich zögern, diese Leichtgläubigen zu sehr zu benutzen. Deshalb sagte ich: »Ihr werdet alle aufmerksam nach der Halskette suchen. Was ihr sonst noch Interessantes findet ...«
Kei-Wo unterbrach mich mit einem bitteren Lachen. »Oh, wir verstehen. Wir müssen die Halskette holen, sonst nichts ...«
»Nein.« Ich hob die Stimme. »Alles, was ihr sonst an Beute findet, gehört euch, und ihr könnt mitnehmen, was ihr tragen könnt.«
Daraufhin war ihr Verhalten wie ausgewechselt. Sie scherzten voller gespannter Erwartung, während sie sich vorbereiteten.
Ich ertappte sogar Fing-Na dabei, wie er ein Stück des alten lohischen Liedes ›Ihr Haar war so rot wie des Rotkehlchens Brust‹ pfiff, während er mit seinem gewaltigen gewichsten Schnurrbart spielte.
Es gibt doch nichts Besseres als die Aussicht auf ein bißchen Beute, um einen wahren Räuber aufzumuntern, jawohl, bei Peetir, dem Sequester!
Es war nicht nötig, daß ich die Schurken über die Methode aufklären mußte, wie man in eine Villa eindringt und sie ausraubt. Sicher, sie würden normalerweise nicht einmal daran denken, eine Villa in den vornehmeren Stadtteilen auszurauben; was Raubzüge und Angriffe auf andere Banden anging, waren sie wahre Meister. Sie besaßen die ganze Ausrüstung: Leitern, Seile, Steigeisen, Äxte. Zuerst fingen sie mit raffinierten Methoden an, und wenn das keinen Erfolg zeigte, endete es mit einem direkten Angriff, bei dem man Köpfe einschlug.
Wenn ich sage, daß sie normalerweise nicht daran gedacht hätten, eine respektable Villa auszurauben, beziehe ich mich auf dieses nächtliche Unternehmen. Natürlich war es für ein paar geschickte Diebe eine Selbstverständlichkeit, einzubrechen und das zu stehlen, was herumlag. In Wahrheit hatte ich keinen Anlaß, mit dieser Bande flinkfingriger Herrschaften Mitleid zu haben – oder mit den Damen, was das betraf.
Als die Zwillingssonnen von Scorpio schließlich untergegangen waren, der Himmel die letzten roten und grünen Strahlen verloren hatte und die Sterne hervorstachen, brachen wir auf.
Die Frau der Schleier würde erst später auf unser Unternehmen herabstrahlen; ich fühlte, daß sie ihren rosafarbenen Blick von unseren Handlungen abwenden würde. So tappten wir still durch die frühabendlichen Straßen, gingen allein oder zu zweit, bis wir die am Fluß liegende geheime Villa Shang-Li-Pos erreicht hatten. Hier hielt er seine Frauen.
Kei-Wo blieb ruckartig stehen, seine Hand lag auf meinem Arm. »Wir werden beobachtet!«
Zwei mit dunklen Umhängen bekleidete Gestalten traten aus dem Schatten der Mauer.
»Du hast doch nicht geglaubt, Schwachkopf, daß wir dich allein losmarschieren lassen?«
Und Kuong sagte entschlossen: »Wenn es getan werden muß, dann aber richtig.«
Gewandt erklärte ich Kei-Wo: »Das sind Freunde, die mich nicht im Fluß sehen wollen.«
An seinen Herzenswunsch denkend, zischte Kei-Wo: »Ich nehme an, sie wollen ihren Anteil haben!«
»Es ist genug da, um auch noch das Herz des letzten Mannes von Makilorn zu erfreuen.«
Daraufhin schritten wir zur Tat. Der Schlosser der Bande begab sich an die Arbeit, während die anderen sich an die Mauer schmiegten. Kuong sagte heftig: »Ich kann kaum glauben, was hier geschieht! Aber wenn wir es tun müssen, dann ...«
»Kuong, du hast schon gesagt, daß Shang-Li-Po durch seine Taten jedes Anrecht auf seine Position als Dikaster verspielt hat.«
»Daran glaube ich auch. Ah!« Er machte eine Handbewegung. »Sie öffnen die Tür.«
»Lunky«, sagte Mevancy, »hat sich Sorgen wegen der Wachen des Kaours gemacht. Anscheinend sind sie schrecklich ... Er sagte, es wären Vankaris.«
Ich hatte von den Vankaris gehört. Es war eine Diffrasse von mächtigem Wuchs. Sie hatten praktisch keine Stirn, eine spatelförmige Nase, einen weiten, klaffenden Mund und eine gebückte Körperhaltung, die ihr brütendes, gekrümmtes, bedrohliches Erscheinungsbild unterstützte. Wie viele Mitglieder der ärmeren Bevölkerungsschichten kauten sie unablässig Cham. Angeblich hatten sie eine Vorliebe für Fristles, was bei den Fristles nicht auf Gegenliebe stieß; außer den Fristles erheiterte das jeden.
»Harte Burschen«, sagte ich so gleichgültig wie möglich. »Kei-Wos Schläger sind es auch. Sie werden schon mit ihnen fertig.«
»Wenn wir nur das Heer benutzen könnten«, sagte Kuong, und seine Stimme war nicht ganz fest. »Das hier ist alles so, so ...«
»So hinterhältig und schrecklich«, sagte ich für ihn. »Brassud! Wir gehen rein!«
»Wartet!« ertönte eine keuchende Stimme aus den Schatten hinter uns. »Wartet auf mich. Ich bin im Moment nicht so schnell, mit meiner Verwundung und so.«
Mevancy drehte sich sofort herum. »Wer hat dir erlaubt aufzustehen?«
»Nun, meine Lady.« Llodi die Stimme kam heran, und ich schwöre, daß seine große Nase noch gewachsen war, was Größe und Furchen betraf. Er war bei der gleichen Angelegenheit in die Seite gestochen worden, bei der mir ein Stück aus dem Arm gerissen worden war. Weil Llodi nicht in dem heiligen Taufteich im fernen Aphrasöe gebadet hatte, heilte die Wunde bei ihm nicht mit der gleichen magischen Schnelligkeit wie bei mir. Ich wußte nicht, ob ich froh sein sollte, ihn hier zu sehen.
Kuong lief bereits schnell auf die sich öffnende Tür zu. Llodi hob seine Strangdja an, schlängelte sich an Mevancy vorbei und lief hinter Kuong her. Sie starrte ihm nach und wandte sich dann mir zu.
»Er ist noch nicht gesund. Wußtest du davon?« Sie war willens, mich zu beschuldigen und das Urteil zu verkünden.
»Nein. Wir müssen ihn nur im Auge behalten, das ist alles.«
»Nun komm schon, Schwachkopf. Hör auf, die Angelegenheit herunterzuspielen wie ein Movong, der auf ein Offoce wartet!« Damit drehte sie sich um und lief zur Tür hinüber.
Kei-Wos Schurken verstanden ihr Geschäft. Direkt in der Tür lag zusammengesunken der Körper des Wachtpostens an der Wand. Lampenlicht erhellte den Korridor. Die Angreifer huschten wie Schatten hindurch. Ich lief mit ihnen und wünschte mir, Lunky hätte mehr Informationen über den Grundriß der Villa gehabt. San Nalgre Hien-Mi konnte überall gefangengehalten werden. Ich tippte auf die Kellergewölbe.
Bis jetzt waren wir fast lautlos vorgegangen. Gerade als ich die ersten Kellerstufen erreichte, verriet uns das Geräusch von Metall auf Metall, dem ein angsterfüllter Schrei folgte, daß man uns entdeckt hatte. Jetzt würde es mit dem Angriff richtig losgehen.
Als ich die Backsteinstufen hinunterrannte, fragte ich mich, wie lange jedes Bandenmitglied nach der Halskette suchen würde, bevor Habgier Kei-Wos Befehle und die Furcht vor dem Zauberer übertrumpfte. Hier unten gab es nur wenig Licht. Der erschrockenen Reaktion auf den Namen Na-Si-Fantong nach zu urteilen, nahm ich an, daß die Bande geduldig eine beträchtliche Zeitlang suchen würde.
Mein erster Eindruck von der Finsternis unten im Keller wurde schnell dadurch erweitert, daß ich mir dem Rand jeder Stufe unter mir, der schmutzigen und glitschigen Wände, und des mit Abfall bedeckten Backsteinbodens bewußt wurde. Ich konzentrierte mich und lauschte nach feindlichen Vankaris oder nach einem möglichen Hilfeschrei, deshalb huschte ich lautlos die Stufen hinunter und wagte mich vorsichtig über den Boden zur gegenüberliegenden Tür. Sie bestand aus dünnem Schilf; Schilf war ein weit verbreitetes Baumaterial, wenn man die Seltenheit und den Preis von Holz in Betracht zog. Ich gab ihr einen sanften Stoß und war darauf vorbereitet, daß mir eine riesige Wache brüllend entgegensprang.
Nichts geschah, außer daß Staub aus den Schilfritzen wehte. Der dahinter befindliche Keller war bis auf noch mehr Abfall und Flußschlamm mit durchdringendem Geruch völlig leer.
Gleichmütig durchsuchte ich lautlos sämtliche Keller und entdeckte, daß sie alle gleich waren. Je länger ich suchte, um so deutlicher konnte ich sehen. Schließlich schritt ich die Stufen in der Hoffnung wieder hoch, daß die anderen mehr Glück gehabt hatten.
Vom Kopf der Stufen aus konnte ich oben gewaltigen Lärm hören; klirrender Stahl vermischte sich mit Aufschreien, Gebrüll und Frauenkreischen. Das Licht der Laternen schmerzte in meinen Augen. Ich blinzelte.
Nalgre mußte hier irgendwo sein, hatte Lunky gesagt. Der größte Lärm kam aus dem nächsten Stockwerk, und die Stufen waren hier mit Teppich bedeckt. Ich stürmte nach oben und platzte in einen großen Saal. Hier hatten sich die Vankaris verteidigt. Kei-Wos Bande mußte wie die Leems gekämpft haben, da es mehr tote und sterbende Wachen gab als Schurken.
Nun, ich bin zur Genüge behutsam über die menschlichen Trümmer eines Schlachtfeldes gestiegen. Einige Bandenmitglieder krochen davon und hinterließen Blutspuren, und ich konnte nur hoffen, daß sie es sicher nach draußen schafften. Unsere Zeit lief ab. Schnell rannte ich durch den Saal und schaute durch offenstehende Türen in die dahinter befindlichen Räume. Kei-Wos Leute durchstöberten fleißig alles, was aussah, als könne es etwas Wertvolles beinhalten.
Die nächste Treppe führte an einem Haufen Leichen beider Gruppen vorbei.
Ein schneller Blick nach oben zeigte mir, daß Naghan der Chik ein Messer aus dem Gürtel riß und es sauber auf eine Vankari-Wache warf, die aufkreischte und mit der Klinge in der Kehle zur Seite fiel. Ein anderer Wachtposten schrie zusammenhanglos und umklammerte fest sein zerstörtes Gesicht. Unter dem roten Brei ragten viele kleine Nadeln heraus, wie die Stacheln eines Stachelschweines.
Mevancy wirbelte zu mir herum, die Unterarme ausgestreckt.
»Gimpel!«
»Ach, du!« schrie sie wütend. »Er ist nirgendwo zu finden!«
»Das nächste Stockwerk.«
»Richtig.«
Naghan polterte zu der Tür, die ihm am nächsten war. Bis jetzt hatte er noch nicht innegehalten, um zu plündern. Mevancy und ich eilten zur nächsten Treppe, als Fing-Na fürchterlich fluchend heruntergetrampelt kam; sein Schwert war ein rotes Stück Metall, und auf der einen Gesichtshälfte hatte er eine klaffende Wunde.
»Mein Schnurrbart!« kreischte er.
Und tatsächlich, jetzt hatte er nur noch ein großartiges einzelnes Schnurrbartteil, das auf der unverletzten Gesichtshälfte wuchs.
Mevancy und ich stießen ihn zur Seite, als er zurücktaumelte. Wir stürmten die Stufen hinauf. Die Decke hier war mit der Darstellung einer der düsteren kregischen Legenden bemalt; Mevancy nahm bewußt keine Notiz von den Szenen. Drei Wachen sprangen uns an. Mevancy überhäufte den ersten mit einem Strom aus ihren tödlichen Depots, und als er sich ans zerstörte Gesicht faßte, schlitzte ich den nächsten auf und wirbelte herum, um die Klinge des letzten mit meinem Schwert abzufangen. Ein schnelles Drehen des Handgelenks, ein Stoß, und er fiel zu Boden.
Der Kampfeslärm unter uns war erstorben. Keiner schrie mehr.
»Wenn wir ihn nicht bald finden«, keuchte Mevancy, »wird die ganze Stadt auf den Beinen sein.«
Diese Räume bildeten eine ausgesucht möblierte Suite, und wir eilten von Tür zu Tür. Im Lampenlicht saß ein Mann mit dem Rücken zur Wand und hielt sich den Bauch. Es war der Bursche, dessen Kopf mit der eisernen Zwinge auf dem Stuhl gefesselt gewesen war. Ein einziger Blick überzeugte mich, daß es ihm damals besser gegangen war als jetzt.
Direkt hinter ihm versuchte ein Vankari-Wachtposten aufzustehen, doch er schaffte es nicht, weil Blut aus seinem rechten Bein strömte. Mevancy versetzte ihm einen Tritt, als wir an ihm vorbei in das letzte Zimmer liefen.
Hier sah es aus wie im Schlachthaus. Überall waren Leichen verstreut. Ich sah dort die sehnige Gestalt von Sooey liegen, ihr dünnes Haar war blutig, ihr einziges strahlendes Auge für immer geschlossen. Kei-Wo erledigte gerade seinen Gegner. Llodi stand da und hieb mit seiner Strangdja um sich, und zwei Vankari-Wachen taumelten zurück. Kuong führte gewandt seine Klinge und erledigte seinen Mann. Der Lärm, der noch vor einem Augenblick zur Decke gedröhnt war, erstarb. Der rohe Blutgeruch dampfte in der drückenden Luft. Kei-Wo drehte sich um und starrte mich böse an.
Bevor er sagen konnte, was er dachte, schrie Kuong: »Zu spät! Zu spät!«
Mevancy stürmte zur Außenwand. Eine runde Öffnung mit zur Seite geschobener Verkleidung verriet die ganze scheußliche Geschichte.
»Sie haben ihn gerade durchgeschoben«, sagte Llodi, rammte seine Strangdja in den Boden und stütze sich schweratmend darauf. »Wie einen alten Sack Müll. Warfen ihn die Rutsche runter und in den Fluß, dabei war er ein Dikaster und so.«