15
»Du hast dich geschickt aus allen Schwierigkeiten herausgehalten, Schwachkopf. Nun, ich will dir was sagen. Wir haben eine Krise zu bewältigen.«
»Und das soll neu sein?«
»Ach, du!«
Als der Tod der Königin in Orphasmot allgemein bekannt wurde, kam es, wie vorausgesagt, zu einem Massenexodus. Mein einfacher Plan hatte funktioniert, und ich hatte mich Rodders und Kirsty angeschlossen. Jetzt wollte ich es bei San Chandro riskieren, aber ich ging zuerst zur Mishuro-Villa, um Mevancy zu finden. Sie war wohlauf. Sie verlor keine Zeit, um mich auf den neuesten Stand der dramatischen Ereignisse zu bringen, die sich während meiner Abwesenheit in Makilorn abgespielt hatten.
Irgendwie war es Lunky gelungen, seinen Seher-Kollegen Yoshi dazu zu überreden, sein Verbündeter zu werden. Vielleicht hatte eine gefühlsmäßige Auseinandersetzung Yoshi dazu gebracht, sich mit Vasama zu überwerfen. Was dem für eine Bedeutung zukam, erwies sich, als nicht nur ein, sondern zwei Neugeborene entdeckt wurden, die den Anspruch erhoben, den Geist der Königin zu beherbergen.
Vasama, die laut Mevancy ›wie Pudding zitterte‹, hatte behauptet, das Baby des ehrwürdigen Lords Pling-Fe-Hwang sei dazu auserwählt worden, den Geist der wiedergeborenen Königin zu empfangen. Sie hatte stolz den Säugling aus Hwangs Villa gebracht, um ihn der Menge zu präsentierten.
Zur gleichen Zeit hatte Lunky auf der anderen Flußseite den Geist der Königin im Kind von Tsun und Hosifi Shiang aufgespürt. Sie waren Töpfer, und die Wiege ihrer Kleinen bestand aus der Hälfte eines zerbrochenen Topfes. Lunky holte das Neugeborene aus dem Tonöfenviertel und brachte es über den Fluß zum königlichen Palast, um dann der erzürnten Vasama gegenüberzustehen, die auf ihrem Fund bestand.
Zwei Faktoren bestimmten den Ausgang.
Erstens hatte sich Yoshi mit Vasama zerstritten und war aus Gehässigkeit dazu bereit, sich auf Lunkys Seite zu schlagen, was jedoch für das Kollegium der geringere Grund zu sein schien.
Wichtig war ganz einfach, daß man Lunky bereits als Seher von großer Macht anerkannt hatte. Wie gewöhnlich gärten im Hintergrund politische Machenschaften, bei Krun! Am Ende wurde entschieden, daß Lunkys Wahl, das Shiang-Kind, den Geist der Königin in sich barg.
»Vermutlich wünschten die Everoinye deshalb, daß wir Lunky retten sollen, Schwachkopf.«
»So scheint es.«
»Alles wäre so gelaufen, wie die Everoinye es gewünscht haben, aber ...«
»Was?«
»Erinnerst du dich, daß ich dir von Kaopan erzählt habe?«
»O nein.« Es versetzte mir einen Stich – wegen des Kindes, wegen der Königin und wegen Lunky.
»Ja. Jemand hat das Kind gemäß den Riten von Kaopan töten lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Königin ist nun wirklich tot. Sie wird nicht in einem neuen Körper nach Tsungfaril zurückkehren. Sie wird nicht ruhmreich in den Gilium einfahren. Sie wird in die Todesdschungel von Sichaz niederfahren.«
Ich schwieg. Ich vermochte wirklich nicht zu sagen, ob ich dem ganzen Hokuspokus um die Verfluchten, die Paol-ur-bliem, glaubte, die zur Strafe Leben um Leben nach Kregen zurückkehrten. Bei Opaz, dem Ewig Verschleierten, es gibt auf Kregen genügend seltsame und wunderbare Dinge, daß es für viele Lebensspannen ausreicht! Die ganze Geschichte, der religiöse Glaube, die Reinkarnationen, all das konnte der Wahrheit entsprechen.
»Dieser verdammte Haufen, der von Shang-Li-Po angeführt wird«, sagte ich. Ich hörte meine eigene Stimme. Ich hörte das Knurren. Knurren! Wäre ich ein unabhängiger Agent gewesen und hätte die von San Chandro aufgestellten Einschränkungen beiseitefegen können, so hätte ich mehr getan als nur zu knurren. Ich konnte spüren, wie das Blut in meinem Kopf hämmerte, und ich mußte mich an den neuen Dray Prescot klammern, dessen Reputation ich so beharrlich aufgebaut hatte. Es hätte niemandem genutzt, loszustürmen und mit Shang-Li-Po und seinen Komplizen im Andenken an die Königin abzurechnen. Ich mußte kühl, ruhig und beherrscht bleiben. Das verlangte sogar dem erfahrenen Dray Prescot eine Menge ab, bei Krun.
Ich sah immer noch die Königin, wie sie am Beckenrand stand. Voller Leben, überlegen, zitternd in der Begierde eines Mädchens, das das Leben voll ausschöpfen will. Sie hatte sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingeprägt. Wie das parfümierte Wasser in üppigen Bächen ihren Körper herabrann und sich die schwarzmaskierten Meuchelmörder ihr näherten, die blanken Schwerter bereit, ihren nackten Körper zu küssen: also hob sie das runde Kinn mit einem stolzen Blick absoluter Verachtung. Wenn ...! Aber das, was als nächstes geschah, war mir paradoxerweise durch den blauen Schleier verborgen geblieben, eben durch das blaue Fragment des Skorpions, der mich dort fortgeholt hatte.
»Dein Gesicht sieht wieder so komisch aus, Schwachkopf.«
»Ich habe an die Königin gedacht.«
Sie schüttelte den Kopf, ihre Wangen hatten sich gerötet. »Und was würde deine ...?«
Ihr Mund schloß sich mit einem Ruck, der Satz blieb unvollendet, da sie mein Gesicht gesehen hatte, und zu meiner Schande weiß ich, daß dort der alte Teufelsblick aufgeblitzt war. Was sie hatte sagen wollen, machte mich betroffen, denn ich war der Meinung gewesen, daß sie den Unsinn aufgegeben hätte. Etwas atemlos sagte sie: »Nun, so sieht es also aus. Die Königin ist wirklich tot. Jetzt müssen sie eine Nachfolgerin finden.«
»Das ist Sache des Kollegiums und des Rates. Ich nehme an, daß die Herren der Sterne nicht darauf verzichten werden, sich einzumischen.«
»Schwachkopf! Muß ich es dir immer wieder sagen? Nimm dich in acht.«
»Die Everoinye wollten, daß Lunkys Wahl Königin wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre sie auf unserer Seite gewesen. Vorausgesetzt, daß San Chandra unsere Seite repräsentiert, und Shang-Li-Po die Gegenseite.«
»Die Everoinye werden eine Abfuhr nicht so ohne weiteres akzeptieren.«
»Natürlich nicht, Gimpel! Für dich und mich wird es eine Menge Arbeit geben, keine Angst!«
Sie biß sich auf die Lippe und wandte sich ab. Ich war so aufgebracht, daß ich für sie nicht das richtige Mitleid empfinden konnte, bis wir uns getrennt hatten, um unseren verschiedenen Aufgaben nachzugehen. Als ich mich auf dem Weg zu San Chandra befand, hatte ich den Eindruck, daß ich ihr gegenüber einfühlsamer hätte sein sollen, was ihre Gefühle den Herren der Sterne gegenüber betraf.
Was Königin Leone betraf – was für eine Tragödie, was für eine Verschwendung!
Hinzu kam – und das war sehr düster, tatsächlich gar schrecklich düster –, daß Königin Leone getötet worden war, weil die Herren der Sterne mich fortgerissen hatten.
Konnte – und ich wagte diese Erwägung aus Wut und Mitleid – konnte es sein, daß die Herren der Sterne die Ermordung der Königin gewollt hatten, um ihre eigenen, unbegreiflichen Ziele weiter zu verfolgen? Und waren diese Ziele jetzt durch die hinterhältige Hand Shang-Li-Pos vernichtet? Sollte noch mehr Schrecken folgen? Nun, das hier war Kregen, und wie herrlich und schön diese Welt auch ist, der Schrecken gehörte viel zu sehr zu ihrer Natur.
Nachdem ich die Mishuro-Villa verlassen hatte, nahm ich den langen Weg zum Palast, machte große Schritte, atmete tief durch und versuchte, mich wieder zu beherrschen. Viele Gedanken drängten sich in meinem Schädel. Da war die Angelegenheit der königlichen Halskette, die noch zu regeln war, ein verdammter Zauberer, mit dem man sich befassen mußte, und eine Bande von Halsabschneidern, die zurechtgestutzt werden mußten. Da war die stets gegenwärtige Dringlichkeit, das ganze Durcheinander schnell hinter mich zu bringen, damit ich nach Vallia und Valka zurückkehren konnte. Da war das Geheimnis um Carazaar und seinen Günstling Arzuriel. Und das häßliche Problem der räuberischen Shanks von der anderen Seite der Welt lauerte hinter allem wie ein Monster in der Tiefe. Sie würden nicht aufgeben, bevor sich jeder auf Paz verbündet hatte, um sie zu vertreiben.
Ich hatte mich beruhigt, nachdem ich eine Zeitlang darauf gewartet hatte, daß San Chandro mein Name übermittelt und seine Erlaubnis zum Eintreten erteilt worden war. Ich hatte den Passierschein zusammen mit meinen Kleidern zurückgelassen, als man mich hier weggerissen hatte. Ich würde mit der gleichen Geschichte wie zuvor zu San Chandro gehen, und eigentlich mußte er von dem Zwischenfall in dem Bad bei den Quellen von Benga Annorpha und der Gefahr durch den Chasserfic gehört haben.
Er hatte davon gehört. Er begrüßte mich freundlich, wenn auch offensichtlich aufgrund von Staatsgeschäften zerstreut, doch als ich erklärte, was geschehen war, wurde er lebendig und verlangte begierig, mehr zu hören. Er war davon überzeugt, daß der Chasserfic Teil einer größeren Verschwörung war. Im Augenblick konnte ich es nicht glauben, aber ich sagte nichts. Ich erwähnte beiläufig Lord Nanji und Lady Floria; er bekundete für sie nicht das geringste Interesse. Seine Spione hatten über ihre Anwesenheit und ihre Bewegungen in der Stadt berichtet, das war alles.
»Nein, mein Junge, es ist der von Tsung-Tan verlassene Shang-Li-Po! Er und seine bösen Machenschaften stecken hinter allem.«
»Ich hatte geglaubt, daß San Lunky gut gehandelt hat ...«
»Ja, ja! Natürlich. Aber die Ereignisse haben uns überrollt. Wir müssen uns um den Erben kümmern. Wer auch zur Königin ernannt wird, wird die Bewahrer brauchen, um auf eine Art geführt zu werden, die sich von der bisher angewandten erheblich unterscheidet.«
Ich fragte – und war mir dabei der Wichtigkeit der Antwort bewußt, die sich in seinem Blick abzeichnete –: »Wer ist die Nachfolgerin?«
Er spitzte die Lippen. Auf seinem schmalen Gesicht lag ein gerissener Ausdruck. »In den Aufzeichnungen herrscht ein Durcheinander. Der Stammbaum war zu seiner besten Zeit verworren, und das ist schon lange her. So wie es das Kollegium sieht, gibt es drei Leute, die einen legitimen Anspruch haben, die nächsten Verwandten zu sein.«
Ich wartete, während er seufzte. Er konnte die Schwierigkeiten voraussehen, die aus den Streitigkeiten und Konfrontationen entstehen würden.
»Die drei sind: Erstens Lady Kirsty, zweitens Lady Thalna und drittens Lady Leone.«
»Ist das unsere Leone?«
»Ja. Und ihre Kusine Kirsty. Du hast sie natürlich kennengelernt.«
»Natürlich.«
»Meines Erachtens wird Thalna als erste aus dem Rennen ausscheiden. Ihr Anspruch ist der schwächste der drei.«
»Und der aussichtsreichste?«
»Da muß man die Zusprechung abwarten.«
Er sah mich scharf an. »Du fragst dich vielleicht, warum ich so offen mit dir spreche, Drajak. Ich fürchte, es kommen düstere Zeiten auf uns zu. Die alte Ordnung zerbröckelt. Ich brauche einen Mann wie dich an meiner Seite.«
Wieder wartete ich ab. Ich wollte nicht die Frage stellen, die mir auf der Zunge brannte und die er möglicherweise für unverschämt halten konnte. Schließlich war er hier unten in Tsungfaril eine sehr hochrangige Persönlichkeit.
Er sah mich fragend an. »Ja, Drajak, ich sehe, daß dein Kopf deine Zunge beherrscht. Du würdest gern wissen, wem meine Unterstützung gilt?«
»Ja.«
Er erhob sich und ging durch den Raum, drehte sich um und ging zurück. Er musterte mich wie ein Spatz einen Brotkrümel.
»Deine Zurückhaltung ist so wichtig wie deine Hilfe. Du weißt, wie sehr ich Leone mag. Sie ist wie der Frühling, warmherzig und jung, grün und blühend. Sie ist nicht aus dem gleichen Holz wie Königin Leone geschnitzt.« Er blieb am Tisch stehen, nahm ein Jikaidafigur auf und drehte sie in den dünnen Fingern. Es war der gelbe Pallan. Dann stellte er sie energisch neben die gelbe Prinzessin. Er warf mir einen verbissenen, berechnenden Blick zu.
Ich holte tief Luft.
»Dann wirst du Kirsty unterstützen.«
Er nickte. »Aye.«
»Ich verstehe.«
»Wäre ich nicht davon überzeugt, hätte ich es dir weder gesagt noch versucht, dich einzustellen. Kannst du mir folgen, Drajak?«
Jetzt lag es bei mir, zu nicken. »Ich kann dir folgen.«