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In einer stinkenden Gasse in einem unerfreulichen Teil der Stadt benutzte Naghan der Chik sein Messer, um die Fesseln an meinen Handgelenken zu durchtrennen. In ihrem Versteck hatte es keine Alternative gegeben. Man hatte mir die Augen verbunden, mich gefesselt und durch verwinkelte Gassen und über schmale Treppen geführt, bis ich jede Orientierung verloren hatte. Es würde mir schwerfallen, den Weg zurück zu finden.
Naghan zeigte mir sein Messer. Er hielt es mir unter die Nase.
»Das ist für deine Augen, eines nach dem anderen. Dann deine Kehle, Shint. Am besten, du enttäuscht Kei-Wo den Dipensis nicht.«
»Das Messer des Chik ist sehr tödlich«, sagte ein anderer Dieb, ein Zwerg mit gelb vernarbtem Kiefer und schlechten Zähnen, der Ping genannt wurde.
Das Messer war kein Terchick, das Wurfmesser meiner Klansleute der großen Ebenen von Segesthes. Es war schwerer, und wenn mich mein Auge nicht trog, schlechter ausgewogen. Doch ich zweifelte nicht an der Drohung Naghan des Chiks. Um die dicken Hüften trug er einen vollen Gürtel dieser Messer.
Ich mußte mich von dieser unangenehmen Gesellschaft befreien. Da wurden außer ihrem Wunsch, die Halskette der Königin zu stehlen, Intrigen gesponnen.
Darüber dachte ich nach, während ich mich im Licht der Monde umsah und mir die Handgelenke rieb. Obwohl die Gegend um den Basar und das Labyrinth der Gassen hier in Makilorn kaum für die Aracloins, diese lärmende, brausende und gewöhnlich durch nichts aufzuhaltende Lebensart vieler mir vertrauter Städte typisch war, hatte sie ihre eigenen niederen Lebensformen. Schurkerei war hier eine Lebensweise. Hier wurden dunkle Begierden befriedigt. Hier versteckten sich Schurken in dem unübersichtlichen Labyrinth vor dem Gesetz. Hier galt ein Leben wenig.
Ich war in der Stimmung, ein bißchen auszuteilen. »Schafft es Naghan der Chik, das schmale Ziel jedesmal zu treffen? Immerzu? Und nie zu verfehlen?«
»Fordere mich heraus, Shint!« knurrte Naghan.
»Jederzeit, Sonnenschein, jederzeit.«
Er hätte gern etwas angefangen, aber Sindi-Wang, eine üppig entwickelte Frau, die ihre Massen gleichgültig zwischen den Falten ihres Kleides zur Schau stellte, zischte: »Wenn du ihn verletzt, bevor er seine Arbeit getan hat, Nag, verlierst du auch.«
Keiner war taktlos genug zu fragen, was genau Naghan verlieren würde.
»Gebt ihm einen Tritt!« brüllte der Chik. »Bringt ihn fort von mir!«
»Geh, Drajak!« befahl Sindi-Wang. Sie winkte mit dem Arm und bebte dabei wie ein Pudding. »Denk daran: Jede Mur deines Lebens wird von uns beobachtet.«
Das glaubte ich ernsthaft. Diese Schurken kannten die Stadt. Sie waren mit ihrem Gebiet so vertraut, daß man sie nie fangen würde, und sie kannten die Reviere anderer Banden gut genug, um fähig zu sein, mich ständig unter Beobachtung zu halten. Ich mußte mich von ihnen befreien. Das würde ein schwieriges Problem werden.
»Ich gehe«, sagte ich in einem gespielt wilden Tonfall, einem Tonfall, der vor unechter, gespielter Tapferkeit lächerlich klang. Sie kicherten auf eine Weise, die sie für berechtigt hielten. Sie hatten sich ihre Meinung über mich gebildet, einen Unbeteiligten von außerhalb, der zwar schnell dazu bereit war, einen Dieb am Raub einer Halskette zu hindern, doch in dem Moment zusammenbrach, da sein eigenes Leben in Gefahr geriet. Ich schüttelte die Schultern, streifte die Reste des Seils von den Handgelenken und starrte Naghan den Chik an.
»Auf daß du dich nicht einsam fühlst«, sagte er und kicherte über seinen Witz. »Du wirst nie allein in Makilorn sein, bis du Kei-Wo die Halskette gebracht hast.«
Ich starrte ihm ins Gesicht.
»Ich werde sowieso immer wissen, wo du bist, Naghan. Durch den Geruch.«
Er wollte mich schlagen, aber ich lief weg.
Wenn Sie der Meinung sind, daß dieses Betragen für Dray Prescot höchst ungewöhnlich ist, haben Sie recht. Ich wollte den Eindruck eines kühnen Mannes erwecken, der unter dem ersten echten Druck nachgibt. Es sollte aufs genaueste zu Kei-Wos Meinung über mich passen.
Es würde mir auch helfen, wenn ich sie hinters Licht führen mußte.
Die Frau der Schleier, unter den Sternen dort oben rosig und strahlend, hatte von den Zwillingen Gesellschaft bekommen. Sie sind die zweiten Monde Kregens, die auf ewig umeinander kreisen. Sie werden von vielen Leuten auf dieser faszinierenden und verwirrenden Welt für die Geburt von Zwillingen verehrt. Auf Kregen werden viele Zwillinge geboren. Ganze Kulte widmen sich der Feststellung, was die Zwillinge für das Individuum an jedem Tag des Jahres bedeuten. Hier unten in Loh werden die Zwillinge, die auf Kregen bei vielen Namen gerufen werden, oft die Dahemin genannt, was ein außerordentlich alter Name ist. Meistens werden die Zwillinge in Loh Holi und Hola genannt.
Als ich zu dem Tempo eines flotten Spazierganges zurückgefunden hatte und in eine abzweigende Straße eingebogen war, in der die mit Klampen befestigten Fackeln nahe genug beieinander hingen, um für eine fast gleichmäßige Beleuchtung zu sorgen, dachte ich über Namen nach. Auf allen Teilen Kregens rufen die Diebe Paz an, fluchen beim langfingrigen Diproo. Bei seinem Namen schwören die Leichtgläubigen, daß er über elf Finger verfügt und auf diese Weise mit vollkommener Mühelosigkeit aus jeder Börse oder jedem Beutel stehlen kann. Zieht man in Betracht, daß viele Rassen auf Kregen mehr als vier Finger und einen Daumen an jeder Hand haben, verleiht die Asymmetrie des Roo – elf – diesem Glauben eine faszinierende Dimension. Mich beschäftigte folgendes: Wie konnte ich das erledigen, was ich hier zu tun hatte, und dabei am Leben bleiben? Dieben, ob sie flinke Finger hatten oder nicht, ob sie meisterhafte Messerwerfer waren oder nicht, konnte nicht erlaubt werden, sich einzumischen.
Ziemlich bald entdeckte ich den Schatten, den sie auf mich angesetzt hatten. Eine Anzahl verschiedener Reaktionen wäre zweckmäßig gewesen. Ich hätte ungehalten über die Verletzung meiner Würde sein können. Ich hätte verächtlich reagieren können. Ich hätte mich vom rotwogenden Zorn übermannen lassen können, um nach ein paar rückwärtigen Schritten den Kopf des Burschen einzuschlagen. Die Reaktion, die ich jedoch der Gelegenheit für angemessen hielt, war es, abzuschätzen, ob sie schlau waren. Ließen sie mich die Schatten absichtlich bemerken? Damit andere Verfolger mich ungesehen verfolgen konnten?
So traf ich dann die Entscheidung, die ich für angemessen hielt.
Die Idee, schnurstracks zum Palast zu gehen, wurde sofort verworfen. Ich würde dort am hellen und frühen Morgen vorbeischlendern. Ich würde mit dem Gesicht Drajaks eintreten und ihn mit dem Gesicht Chaadurs wieder verlassen, indem ich die Techniken benutzte, die mir mein Kamerad Deb-Lu-Quienyin, der Zauberer aus Loh, beigebracht hatte. Ich mochte auch nicht wieder zu Mishuros Villa zurückkehren.
Das ließ nur eine Möglichkeit offen.
An der nächsten Ecke trat ich beiseite und wartete leise. Mein Schatten folgte mir pflichtbewußt, und als er neben mir um die Ecke kam, ergriff ich ihn an Arm und Kehle. Ich stauchte ihn etwas zusammen; nicht sehr viel, ich wollte schließlich die Ware nicht beschädigen.
»He, he!« keuchte er. »Du solltest nicht ...«
»Es ist mir egal, daß du mich verfolgst, Dom. Auch wenn ich einige Leute kenne, die deine Eingeweide mittlerweile über die Straße verteilt hätten.« Seine Antwort bestand aus einem Gurgeln, da ich meinen Griff verstärkte. »Ich werde für den Rest der Nacht ein Bett aufsuchen.«
Mit einer geschmeidigen Drehung stellte ich ihn auf den Kopf. Ich schüttelte ihn. Mannigfaltige Objekte fielen herunter; seine Beine schwangen wild über dem Kopf. »Ich brauche nur das Übernachtungsgeld, Dom. Dies wird schon reichen.«
Ich hob drei Silber-Khans auf, biß hinein und steckte sie weg.
Er drehte sich wieder und landete mit einem Plumps auf den Beinen. Sein Gesicht war durch das gestaute Blut im Licht der Monde rot angelaufen.
»Was ...?« fing er an.
»Sag Kei-Wo einfach, er soll mir die kleine Summe anschreiben.«
Er glotzte ungläubig, aber ich drehte ihn um, gab ihm einen ordentlichen Tritt in die Kehrseite und ließ ihn forttaumeln. Ich wünschte ihm noch eine angenehme Nacht und schlenderte dann auf der Suche nach einer vernünftigen Unterkunft in die andere Richtung weiter.
Auf jeden Fall fand ich bald eine annehmbare Bleibe und feilschte um ein Bett für die Nacht. Ich hatte keine Lust, die teureren Gasthöfe aufzusuchen, die für die Besucher der Stadt etwas bieten. Die Schlafstelle war sauber, für eine Mahlzeit wurde gesorgt, und ich wurde nicht von Strauchdieben gestört, die tragbare Besitztümer suchten, die sie als ihre eigenen beanspruchen konnten. Als ich das ausgiebige Frühstück beendet hatte, fühlte ich mich wirklich wie ein neuer Mensch oder – zumindest nach den Ereignissen des vorangegangenen Abends – wie ein etwas weniger beschädigter.
Die Zwillingssonnen von Scorpio, Luz und Walig, badeten die Stadt in ihrem vermischten buntschillernden Licht, als ich, noch an der letzten Paline kauend, die Straße betrat. Mein Beschatter war deutlich sichtbar; ein Bursche, der gegenüber auf der anderen Seite herumlungerte und sich mit einem Hölzchen in den Zähnen herumstocherte. Ich winkte ihm nicht zu. Ich ging einfach in Richtung Palast los.
Die Annahme, daß dieser Mann der sichtbare Verfolger war und die Schatten mit anderen Dieben angefüllt waren, die jede meiner Bewegungen beobachteten, war vermutlich richtig. Sie hatten offenbar völliges Vertrauen in ihre Fähigkeiten und ließen mich gehen. Ohne mein Wissen über Verkleidungen wäre es enorm schwierig geworden, einer Entdeckung zu entgehen.
Einfach zum Haupttor des Palastes gehen? Nun, ja. Diese Methode wäre wahrscheinlich die beste.
Also tat ich es.
Reich geschmückte und allzu herausgeputzte Wachen standen hölzern vor den offenen Torflügeln. Viele Leute drängten sich hinein und heraus, und ich erfuhr aus den lauten Äußerungen ihrer Hoffnungen und Ängste, daß die Schiedsgerichte tagten. Der Königliche Palast diente als Ort der Rechtsprechung. Ich gewann den Eindruck, daß die Leute sich nicht einig darüber waren, ob es gut oder schlecht war, wenn die Königin persönlich über sie urteilte. Sie war gerecht, aber streng. Es gab keine Möglichkeit, sie zu bestechen, wie es bedauerlicherweise bei den niedrigeren Magistraten der Fall war. Der Lärm und der beißende Geruch des Staubs, das schweißnasse Glitzern auf Stirn und Wangen: diesen Anblick und diese Gerüche gab es schon so lange, wie Menschen Städte bauten und Zivilisationen gründeten.
Die äußeren Gänge und Gemächer waren dazu ausersehen, Eindruck zu machen. Hier wurden Leute von Lakaien in die Schiedssäle geführt, wohin ihre Anwesenheit befohlen worden war. Ich ging geradeaus los, und der erste Lakai, der mich anhielt, prächtig anzusehen in seinem gelben Gewand, das viel mit Silber durchwirktes Zwirn zeigte, beantwortete meine Frage.
»Lord Wink? Aber sicher, Walfger. Du findest ihn in den Gemächern der Schwelgerischen Ruhe – den alten Chemzitegemächern. Geh durch diesen Korridor zu den Stufen und durch den dahinterliegenden Hof.« Er gab mir Anweisungen, und ich suchte mir problemlos den Weg durch das Gewirr des Palastes. Ich erkannte die letzte Gruppe von Hallen und Korridoren wieder. Hier hatte ich Wink eilig entlanggetragen, während Leone und die beiden anderen besorgt hinterherflatterten. Die Richtung, aus der ich kam, war der Weg, auf dem Ching-Lee verschwunden war, um die Nadelstecherin zu holen.
Wo Leone letzte Nacht eine mit Bronzenägeln beschlagene Tür einfach aufgestoßen hatte, stand heute ein aufmerksamer und kräftiger Posten. Er hob eine Strangdja hoch; die bösartig glitzernde Waffe konnte mir den Kopf abtrennen.
»Llanitch!« sagte er – und er meinte es ernst. Llanitch bedeutete Halt!, aber es sagt noch mehr aus, da es klar den tieferen Sinn zum Ausdruck bringt, daß man, bleibt man nicht bewegungslos stehen, wahrscheinlich in den Eisgletschern von Sicce aufwacht, um über seinen Fehler nachzudenken.
Ich blieb bewegungslos stehen.
»Drajak möchte zu Lord Wink!«
Ich sprach wie ein Soldat, brüllte es heraus.
Er klopfte zweimal mit dem Ende seiner Strangdja gegen die Tür. Sie öffnete sich, und Ching-Lees Gesicht schaute heraus.
»Drajak möchte zu Lord Wink!« brüllte der Posten, wobei er mich nicht aus den Augen ließ.
Ching-Lee sah mich und klapperte mit den Wimpern. »Oh, du bist es! Nun, komm herein! Und sei leise!«
Der Posten ließ seine Strangdja aus dem Weg sausen, und ich trat ein.
Wir blieben nicht in dem hübschen Zimmer, das mit blauweißen Volailblumen tapeziert war, sondern gingen dort entlang weiter, wo Wink von Prang getragen worden war. Wir fanden ihn im Bett eines seiner Gemächer in diesem Flügel des Palastes, den Chemzitegemächern, die jetzt auf die blumige makilornsche Weise in Gemächer der Schwelgerischen Ruhe umbenannt worden waren. Er saß mit Hilfe einer Menge Kissen aufrecht und spielte Jikaida. Sein Gegner war ein hagerer schmalgesichtiger Mann, der offensichtlich bei allem, was er tat, Maß hielt, dabei aber meiner Einschätzung nach kein fanatischer Asket war. Er lächelte Wink zu, während er eine Figur auf dem Brett bewegte, und sagte: »Ich schreibe deine mangelnde Konzentration deiner Verwundung zu, Wink, mein Junge.«
»Dein Sarkasmus gereicht dir zur Ehre, San.«
Dieser Bursche war also ein San, und man wird auf Kregen nicht ohne guten Grund mit Meister, Herr oder Weiser angeredet. Sein Lächeln machte sein schmales Gesicht anziehender, und die Lachfältchen um Augen und Mund verrieten mir, daß er einen hintergründigen Witz oder drei zu schätzen wußte. Er trug ein leichtes Straßengewand aus gelber Seide, und seine Pantoffeln – und hierbei ertappte ich mich, wie ich seufzte – waren aus hellrotem Samt und hatten hochgebogene Spitzen.
Wink bewegte sich und fiel in die Kissen zurück.
»Hast du Schmerzen?« Das schmale Gesicht hörte auf zu lächeln.
»Nein. Nein, San Chandra. Es juckt nur. Wenn ...«
»Natürlich.«
San Chandra stand auf und sah, daß Ching-Lee und ich eintraten. »Wink benötigt die Nadelstecherin. Ich werde ...«
»Ich gehe, San«, sagte Ching-Lee. »Das ist Drajak.« Und sie eilte in den Palast zurück.
»Drajak!« rief Wink. »Sie haben es mir erzählt, und ich erinnere mich. Ich schulde dir meinen Dank.«
»Oho!« sagte San Chandra. »Ich hatte dich so verstanden, daß du ungeschickterweise in dein Messer gefallen bist, Wink. Was hat es mit diesem Drajak hier auf sich?« Dann wandte er sich mir zu; sein Lächeln kehrte zurück, und er sagte: »Llahal und Lahal, Drajak. Ich fürchte, meine Manieren lassen zu wünschen übrig.«
»Llahal und Lahal, San. Lord Wink sagt die Wahrheit. Glaub es mir.«
Er musterte mich ziemlich listig. »Heißt du nur Drajak?«
»Man nennt mich auch Drajak den Schnellen.«
»Drajak der Schnelle. Würdest du gern Winks Spiel für ihn beenden?«
Jikaida, das bevorzugte Brettspiel auf Kregen, wird überall mit Besessenheit gespielt, ununterbrochen. Diesem San Chandra kam es überhaupt nicht in den Sinn, daß ich es nicht kannte. Es war selbstverständlich, daß jede gebildete Person Jikaida spielen konnte. Es gibt Leute, die die faszinierenden Feinheiten Jikaidas nicht ergründen können und deshalb mit Spielen wie Jikalla und dem Mondspiel vorliebnehmen müssen.
Ich nickte. »Ich stehe zu deiner Verfügung, San.«
Die Dame Lingli rauschte herein und schwang bereits ihre Schachtel mit den Nadeln, und nach wenigen Worten konnten San Chandra und ich uns in einen Nebenraum zurückziehen, wo Tisch und Stühle alles waren, was wir benötigten. Chandra korrigierte mich in diesem Punkt, indem er mit einer silbernen Glocke läutete. Eine wunderschön gewachsene Fristle-Fifi kam lächelnd herein, auf jeden Wunsch gefaßt.
»Parclear und Sazz, Miscils und Palines, Fansi.«
Fansi sagte: »Sofort«, und ging mit einem Schwung ihres Schwanzes hinaus, um den kunstvoll eine rote Schleife gebunden war.
Chandra hatte auf dem Brett keine Figur verrutschen lassen, und als ich mich mit der Spielsituation vertraut machte, erkannte ich, daß Wink nachlässig gewesen war. Chandra befand sich in einer beinahe unangreifbaren Situation. Es gab kaum noch eine Chance. Wie Sie wissen, habe ich Jikaida unter Meistern studiert. Mein Schwiegersohn Gafrad, der tot ist, war Jikaidast. Ich hatte Todes-Jikaida gespielt und Kazz-Jikaida. Winks Figuren aus der sorgfältig vorbereiteten Falle zu befreien und dann eine Siegerposition aufzubauen, stellte eine interessante Herausforderung dar. Und ich hatte keine Lust, für eine Diebesbande hinter der Halskette der Königin herzujagen.
Da war Mevancy draußen bei den Quellen. Ich mußte ihr mitteilen, daß Mishuro tot war, das war mir klar, und ich riß mich nicht um diese Aufgabe.
»Bist du bereit, Drajak der Schnelle?«
»So bereit wie nur möglich, San.«
»Dann ist es dein Zug.«
Ich tat das Notwendige, um meinen fast verlorenen Paktun zu retten und die Situation auf meiner Seite des Brettes wiederherzustellen. Chandra summte fast lautlos eine kleine Melodie, berührte die Lippen, zögerte und tat seinen Zug. Ich wußte, daß er dazu gezwungen worden war, eine andere Figur als geplant zu bewegen. Er sah zu mir auf. »Hast du eine Taktik?«
»Eine alte, San. Aber sie könnte helfen.«
»Ich verstehe.«
Meiner Meinung nach war es unnötig zu erwähnen, daß die alte Taktik von Naghan Furtway, dem früheren Kov von Falinur, umfassend modifiziert worden war. Chandra spielte Blau, und Wink – und somit jetzt ich – spielte Gelb.
Die Lage der Gelben war wieder bereinigt, als Fansi mit einem beladenen Tablett zurückkam. Ich freute mich über eine kleine Kehlenbefeuchtung und trank mit Genuß ein Glas Parclear. Ich warf mir eine Paline in den Mund und tat den Zug, der einen Angriff einleiten und – wenn alles planmäßig ablief – den Gelben zum Sieg verhelfen würde.
San Chandra versäumte die richtige Erwiderung.
»Ich bitte dich, deine Kehle zu offenbaren, San«, sagte ich.
Er hob die Augenbrauen. »So schnell schon? Du bist sehr sicher. Ich sehe es noch nicht.«
Ich erklärte es ihm.
Er schob den Stuhl zurück. Seine Augenbrauen zogen sich tief zusammen. Dunkle Wolken formten sich auf seinem Antlitz. Dann klärte sich das dunkle Stirnrunzeln, er warf den Kopf zurück und lachte. Unter seinen Augenlidern drangen Tränen hervor.
»Bei Tsung-Tan dem Mächtigen! Ein echtes Bravourstück!«
Er sah mich immer noch lachend an und sprudelte hervor: »Aye! Aye, ich offenbare meine Kehle. Gut gemacht, Drajak der Schnelle. Ich werde mich an diese Taktik erinnern. Ich denke da einen bestimmten San Yango, der einmal Bescheidenheit vor Tsung-Tan lernen muß.«
Ich machte noch ein paar Bemerkungen über Furtways Taktik, eine sorgfältige Ausarbeitung, um den gegnerischen diagonalen Stoß abzuwehren. Er trank seinen Sazz, aß eine Paline und sah mich seltsam an.
»Warst du nicht mit San Tuong Mishuro zusammen?«
»Ja.«
»Ich habe heute morgen die schrecklichen Neuigkeiten gehört. Und Caran und Hargon ebenfalls.« Er leckte sich die Lippen. »Tuong erwähnte sein Unbehagen. Aber weder er noch ich glaubten, daß jemand einem Dikaster etwas antun werde.« Er schüttelte den Kopf, aber auf seinem schmalen Gesicht war nicht die Spur eines Lächelns zu sehen.
Ich mußte mich vorsichtig ausdrücken, da es immer eine riskante Angelegenheit ist, sich in den religiösen Glauben anderer Leute einzumischen.
»San Tuong hat mir erzählt, daß der alte Glaube viel verloren hat. Daß es Leute gibt, die dazu fähig sind, einen Seher oder einen Bewahrer zu töten, ist durch diese schrecklichen Geschehnisse offensichtlich.« Er musterte mich aufmerksam. Ich holte tief Luft. Es war ziemlich klar, daß er nicht alles erfahren hatte; dafür war keine Zeit gewesen. Dieser alte, dumme, schmalgesichtige Bursche war mir sympathisch. Und – so dachte Dray Prescot, der alte Leemjäger – er konnte meinen Plänen nutzen. Also machte ich weiter. »Hargon und Caran hatten geplant, Trylon Kuong und San Mishuro zu ermorden. In dem einen Fall sind sie gescheitert, und bei dem anderen hatten sie schlimmerweise Erfolg.«
»Ja? Sprich weiter!«
»Ich war dabei, als Kuong von Caran angegriffen wurde. Ich hielt ihn auf. Bei Mishuro kam ich zu spät. Aber nicht zu spät für Hargon.«
Er holte keuchend Luft. Er legte eine zitternde Hand an die Lippen.
»Du! Du hast zwei Bewahrer getötet!«
»Trylon Kuong hat die Situation deutlich dargestellt. Diese beiden mörderischen Cramphs haben ihren Rang als Dikaster verwirkt.«
»Ja, ja. Ich würde dem zustimmen ... Aber du hast zwei Bewahrer getötet!«
»Ich habe von dem Gesetz nichts zu befürchten. Dessen bin ich sicher.«
»Kuong genießt zur Zeit bei der Königin viel Ansehen. Sie hat einen starken Willen, manche würden sie als eigensinnig bezeichnen. Ich begrüße dies, da ich sie gelehrt und geführt habe und sie zur Frau heranreifen sah. Sie ist eine bemerkenswerte Frau.«
Während er redete, verriet mir seine Inbrunst, wie sehr er die Königin liebte.
Er nahm eine Paline, schob sie aber nicht in den Mund. »Wirst du mir die Wahrheit über den Tod Vad Leotes' im Elfenbeinernen Lorn sagen?«
»Ich habe bereits alles Wissenswertes erzählt, aber ich tue es gern noch einmal.« Ich sah, wie sich seine Augen plötzlich weiteten, und bemerkte, daß ich bei der Vorstellung, diese alten Geschichten noch einmal erzählen zu müssen, eine Art Stirnrunzeln aufgesetzt hatte. »Meine Kameradin Mevancy und Leotes wurden von Hargons und Strom Hangols Muskelmännern über den Dachrand eines hohen Hauses gestoßen. Leotes fiel. Außer Hangol haben alle diese Rasts dafür bezahlt.«
»Sie sind tot. Ja. Und Strom Hangol wurde durch eine Verwundung auf das Lager gestreckt und ist dem Tode nahe, wie man mir sagte.«
Er bedachte mich mit einem weiteren seiner aufmerksamen Blicke. »Da gibt es ein Geheimnis. Bist du der Mann, der Hangol verwundete?«
»Aye.«
Er stand auf und ging auf und ab. Ich kann dies bei Leuten dulden, die es tun, damit Blut durch das Gehirn fließt und sie nachdenken können, vorausgesetzt, sie stolpern nicht über meine Beine oder treten nicht auf meine Besitztümer. Er marschierte auf und ab, blickte nachdenklich drein, die Hände im Rücken verschränkt. Seine gebogenen roten Samtpantoffeln machten schabende Geräusche auf dem dicken, in Walfarg gewebten Teppich.
Schließlich sagte er immer noch gehend: »Du bist ein vielseitig begabter Mann, Wr. Drajak.«*
Ich schwieg und hörte zu.
»Tuong Mishuro hatte sich nicht in dir getäuscht. Der Name Drajak der Schnelle paßt. Ich bin davon überzeugt, daß ich dir vertrauen kann. Wirst du mir helfen? Wirst du meiner Sache und der Sache der Königin helfen?«
Er blieb direkt vor mir stehen und spreizte die Hände.
»Ich werde dich beleidigen, indem ich dir Gold anbiete. Du wirst mich nicht beleidigen und es annehmen. Ich brauche deine Hilfe. Ich würde deine besonderen Fähigkeiten in Anspruch nehmen. Wie lautet dein Beschluß?«