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Eines Nachmittags ließ der König mich erneut zu sich rufen. Ich fand ihn in einer nachdenklichen Stimmung. Mit zusammengezogenen Brauen und verschränkten Armen saß er vor dem Kamin und trank Rotwein, die Füße in einer Schüssel warmen Wassers. Nachdem ich das Zimmer betreten hatte, stand ich eine Weile stumm an der Tür, bis der König mich zu bemerken schien und mürrisch auf einen Schemel deutete.
»Es ist kalt heute, nicht wahr? Den Winter in Paris mochte ich nie. Bei uns daheim in Navarra ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern seufzte nur. Gedankenversunken starrte er ins Feuer und dann wieder zu mir. »Ihr habt Euch sicher schon gefragt, wieso ich Euch so oft zu mir bitte.«
Das hatte ich und bis jetzt war mir eine Antwort immer verschlossen geblieben.
»Vor vielen Jahren einmal kannte ich eine Frau. Sie war schön wie keine zweite. In ihrer Gegenwart konnte man die Zeit vergessen. Sie hatte blondes Haar und blaue Augen ...« Er verlor sich in Erinnerungen. Erst nach einer Weile fuhr er fort, sein Blick suchte meinen. »Ihr Name war Gabrielle d’Estrées und sie sah Euch sehr ähnlich.«
Das war es also. Die Erinnerung an eine alte Liebe.
»Ich weiß, was die Leute reden, Charlotte, ich kenne sie besser als Ihr. Ihre Herzen sind kalt und ihre Geister nehmen immer zuerst das Schlimmste an, so sind sie nun einmal.« Der König sah mich nicht an, er schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu mir. »Sie trauen sich nicht, es mir ins Gesicht zu sagen, aber ich weiß auch so, was sie denken. Sie lachen über mich, weil ich Eure Gesellschaft suche, da Ihr doch so jung seid. Aber wie könnte ich nicht?« Jetzt blickte er mich doch an, und in seinen Augen lag etwas wie Bedauern. »Ihr seid noch nicht so verdorben wie die Hunde hier im Louvre, Euch haben die Boshaftigkeit und der Stumpfsinn noch nicht erreicht. Was nützt es, sich mit den schönsten Dingen zu umgeben, wenn sich niemand mehr daran erfreuen kann? Ach, Gabrielle ...« Er seufzte.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, der König war tief in Erinnerungen versunken; so saßen wir schweigend am Feuer. Ob die Königin wusste, dass sie im Schatten einer Erinnerung an eine andere Frau lebte?
In ihrer üblichen Ecke räusperte sich die Herzogin von Guise, als wäre ihr die Geschichte unangenehm. Doch sie sagte nichts dazu. Sie schaute mich nur nachdenklich an, dabei hatte sie die Augenbrauen zusammengezogen.
Als ich den König an diesem Nachmittag verließ, hatte sich seine trübe Stimmung auf mich übertragen. Schwermütig trat ich den Weg zu unserem Appartement an. Mein Weg führte mich durch die große Eingangshalle am nördlichen Tor, in dem sich eine Gruppe Menschen angesammelt hatte, deren laute Stimmen ich schon auf der Treppe hörte. Ein Diener rannte nervös an mir vorbei, vor sich hatte er die Hände gefaltet, als würde er im Laufen beten. An der Tür hatten sich Männer der königlichen Garde postiert, Marschall de Vitry stand mit versteinertem Gesicht daneben. Etwas Ernsthaftes musste vor sich gehen.
Als ich am Fuß der Treppe ankam und die Eingangshalle einsehen konnte, erkannte ich die Stimme meines Bruders Henri.
»Ihr werdet Euch dafür rechtfertigen müssen, de Rohan! Diesmal könnt Ihr Euren Kopf nicht so leicht aus der Schlinge ziehen!«
Ich trat näher und sah, dass Henri mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Herzog Montbazon zeigte, Sophies Vater. Sophie stand nur wenige Schritte hinter ihrem Vater. Ihr Gesicht war ganz weiß und ihre Schultern zitterten. Nicht weit von Henri entfernt hatten sich der Herzog d’Épernon und Leonora Concini aufgestellt. Ihre Anwesenheit deutete mir nichts Gutes.
Ich drängte mich durch die Menge bis an Sophies Seite und fasste nach ihrer Hand, die eiskalt war.
»Was ist passiert?«, flüsterte ich ihr zu.
Mit ängstlichem Gesichtsausdruck blickte sie mich an. Als sie mir antwortete, war ihre Stimme leise und zittrig. »Dein Bruder behauptet, wir hätten vor drei Tagen an einem Gottesdienst in Charenton teilgenommen. Er behauptet, dass er uns dort gesehen hätte.«
Mein Herz begann wild zu schlagen. Wenn das wahr wäre, dann hätten die de Rohans gegen das Edikt von Nantes verstoßen, das ihnen zwar die Religionsausübung gestattete, jedoch auch verbot, protestantische Gottesdienste in Paris und einer Umgebung von fünf Meilen um die Stadt abzuhalten.
»Aber vor drei Tagen warst du mit mir bei der Schneiderin, Sophie. Wie willst du rechtzeitig nach Charenton gekommen sein?«
Sie nickte und sah wieder zu Henri und ihrem Vater, die sich auf Armeslänge gegenüberstanden. Warum log Henri? Meinte er wirklich, Sophies Familie dort gesehen zu haben?
»Wenn sie ihm glauben ...« Sophie sprach nicht zu Ende, doch die Angst vor den Konsequenzen war ihr anzusehen. Das war kein Kavaliersdelikt. Sollte der Hof Henris Anschuldigen glauben, half dem Herzog de Montbazon auch seine Gunst beim König nichts.
»Henri!«, rief ich, doch zuerst bemerkte mein Bruder mein Rufen nicht. Erst, als ich seinen Namen mehrfach wiederholt hatte, drehte er sich zu mir um.
»Was ist?«, schnappte er.
»Vermutlich irrst du dich. An diesem Tag war ich mit Sophie bei der Schneiderin, sie kann unmöglich zur Zeit der Gottesdienste vor Paris gewesen sein. Du musst sie verwechseln.«
Wütend sah er mich an und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, meinen eigenen Bruder nicht zu kennen. »Halt dich da raus, Charlotte!«, befahl er und wandte sich dann wieder de Rohan zu.
Ich musste etwas unternehmen, sonst würde gleich etwas Schreckliches passieren. Ich wollte meinen Bruder nicht als Lügner hinstellen, aber ich konnte auch nicht zulassen, dass Sophies Familie einer Sache beschuldigt wurde, die sie nicht begangen hatte. Wenn meine Äußerungen Zweifel an Henris Geschichte aufkommen ließen, würde der König die Geschichte wahrscheinlich fallen lassen und sie als die Verwechslung auffassen, die sie ja offenbar war.
Entschlossen lief ich zu Henri und fasste nach seinem Arm, aber er schüttelte mich ab, als sei ich lästig. »Du musst mir glauben. Du musst dich geirrt haben.«
»Ich habe mich nicht geirrt.« In seinen Augen lag eine Wut, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, und dieses Mal galt sie mir.
D’Épernon trat zu uns. »Oh, Ihr wisst doch, wie die Damen manchmal sind, sie glauben sich zu erinnern, behaupten felsenfest, ihren Schmuck hier abgelegt zu haben, und dann findet man ihn dort, genauso wie ihre Fächer oder Duftwässer. Das Gedächtnis einer Frau ist manchmal wie das Netz eines bretonischen Fischers.«
»Habt Ihr das auch schon der Königin gesagt?«, entfuhr es mir und ringsum war ein empörtes Luftschnappen zu hören. »Wenn Ihr der Meinung seid, dass Frauen ein so schlechtes Gedächtnis besitzen, dann trifft das zweifellos auch auf die Königin zu. Oder wollt Ihr etwa behaupten, die Königin wäre keine Frau?«
D’Épernon wurde erst weiß, dann rot im Gesicht und streckte die Hand nach mir aus. Doch bevor er nach mir greifen konnte, hatte mich Henri am Arm gepackt und zog mich Richtung Ausgang.
»Was erlaubst du dir?«, tobte er.
»Was ich mir erlaube? Was erlaubt sich dieser aufgeblasene Affe? Ich weiß sehr wohl, was ich vor drei Tagen gemacht habe, und ich lasse mich nicht öffentlich von ihm beleidigen!«
»Du bist eine dumme Gans«, fuhr er mich an.
Wütend riss ich mich los. »Was ist nur mit dir los, Henri? Ich verstehe nicht, wieso du dich mit dem Herzog abgibst. Er ist ein Intrigant, der nur den eigenen Vorteil sieht und der dich, ohne mit der Wimper zu zucken, verraten würde, wenn es darum geht, die eigene Haut zu retten.«
»Du hast keine Ahnung, wie es am Hof wirklich zugeht. Glaubst du etwa, der König wird ewig leben? Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis der Sturm losbricht, und wir müssen uns jetzt entscheiden, auf welcher Seite wir stehen werden, wenn es so weit ist.«
»Warum muss es überhaupt zwei Seiten geben?«
»Du bist naiv. Am Ende geht es immer um Macht und ich werde sicherstellen, dass wir auf der Siegerseite stehen, wenn alles vorbei ist. Führst du dich aber weiter so auf, kann ich dich nicht retten.«
»Wovor denn nur?«
»Du musst dich jetzt entscheiden. Deine Familie oder deine Bekanntschaften.«
Ich konnte nicht fassen, dass Henri mich tatsächlich vor eine solche Entscheidung stellte und die Machtkämpfe am Hof ihn alles vergessen ließen, was uns verband.
Ich dachte an Chantilly und wie wir dort alle einmal glücklich gewesen waren. Als Henri noch bei uns gelebt hatte und der Louvre mit all seinen Intrigen noch fern gewesen war. Ich dachte auch an Großvaters Standbild vor dem Schloss, wie er über unsere Köpfe hinweg auf den Horizont starrte.
Und auf einmal wurde ich zornig.
War ich nicht seine Enkelin und konnte ich nicht genauso mutig sein wie er oder Henri? Wie kam mein Bruder überhaupt dazu, mir solch ein Ultimatum zu stellen? Großvater Anne hätte sich das sicher nie gefallen lassen. Warum sollte ich es also tun? Mein Gefühl sagte mir, dass es falsch war, mich gegen Sophie zu stellen, denn ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie sie zu mir gestanden hatte, als sich die feinen Damen ihre Mäuler über mich zerrisen hatten. Sie war trotzdem an meiner Seite geblieben. Und es konnte doch leichter passieren, eine Freundin zu verlieren als einen Bruder. Henri und ich teilten schließlich dasselbe Blut. Wie sollte er sich da von mir lossagen? Vater würde ihn schon wieder zu Verstand bringen und Henri sich beruhigen.
Meine Entscheidung stand fest, daher sagte ich: »Ich denke, du bist im Irrtum, Henri.«
Einen Moment sah er mir fest in die Augen, dann trat er einen Schritt zurück. »Es tut mir sehr leid, dass du dich so entschieden hast, Charlotte, aber von nun an kann ich nichts mehr für dich tun. Rechne nicht mit meiner Hilfe.« Abrupt drehte er sich um und ging davon. Wieder einmal sah ich ihm nach, wie so oft in letzter Zeit, doch diesmal fühlte es sich endgültig an.
Ein ungutes Gefühl packte mich. Was, wenn wir diesen Sieg gar nicht erleben würden? Wer sagte denn, dass wir den Kampf um die Macht auch unbeschadet überstehen würden?
Auf einmal überkam mich der Impuls, ihm hinterherzurennen, ihn festzuhalten und anzuflehen. Ihm zu sagen, dass alles nur ein großes Missverständnis gewesen war und wir uns wieder vertragen sollten. Doch ich rührte mich nicht von der Stelle. In Gedanken hörte ich Vater sagen, dass mit großer Macht auch große Verantwortung kam und dass man sich vor den Entscheidungen, die man fällte, nicht drücken konnte. Ich hatte mich nun entschieden, also musste ich auch mit den Konsequenzen leben. Feigheit sollte mir niemand vorwerfen.
Unruhig drehte ich mich zurück zu den Höflingen und begegnete Condés Blick. Der Prinz stand abseits der anderen am Fenster, steif wie eine Holzfigur mit finsterer Miene, und ich fragte mich zum ersten Mal, ob sein Misstrauen den Menschen gegenüber vielleicht damit zusammenhing, dass er sich ständig die Frage stellen musste, auf welcher Seite sein Gesprächspartner stand.
Vater war fuchsteufelswild, als er von meiner öffentlichen Auseinandersetzung mit Henri hörte. Während mir Manon die Haare frisierte, stand er wie Zeus, der Göttervater, donnernd hinter uns.
»Die de Rohans sind kein Umgang für dich«, stellte er bestimmt fest.
»Was?«
»Der Umgang mit solchen Leuten ist im besten Falle delikat.« Er schnalzte mit der Zunge und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »So oder so muss man die Angelegenheit als heikel betrachten und die Fallstricke erkennen, die der Umgang mit ihnen bereithält. Ein Kunststück, das deine Fähigkeiten bei Weitem übersteigt.« Er nickte bekräftigend, als wolle er sich selbst zustimmen. »Dir fehlt einfach die Erfahrung, um einschätzen zu können, wann sich eine dieser Fallen auftut. Du könntest hineintappen, ohne es zu merken.«
»Ich bin mir sicher, dass Sophie gar nicht vorhat, mir irgendwelche Fallen zu stellen.«
Vater hob die Hand. »Das kannst du nicht wissen. Ihre Familie ist einflussreich, solche Leute streben immer nach noch mehr Macht, sie nutzen jede Gelegenheit dazu, ihren Einflussbereich zu vergrößern.«
»Du kennst Sophie doch gar nicht.«
»Das brauche ich auch nicht. Ich kenne ihre Art.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, seine Haltung verriet, dass er über dieses Thema nicht weiterreden wollte. Es wäre zwecklos gewesen, zu versuchen, ihn umzustimmen. Dabei kam mir das Ganze so ungerecht vor. Sophie und ich waren Freundinnen, ich war mir sicher, dass sie nicht daran dachte, irgendeinen Hinterhalt für mich vorzubereiten, dazu war sie zu sanft.
Doch Vater war mit seinem Vortrag noch nicht zu Ende. »Und mit deinen Äußerungen vor der Hofgesellschaft musst du auch vorsichtiger sein, Charlotte. Unkluge Sätze können uns hier mehr schaden als nützen.«
»Aber ich kann doch nicht zusehen, wie sie Sophie in aller Öffentlichkeit beschuldigen!«
»Wenn ich gewollt hätte, dass du dich in die Politik einmischst, dann hätte ich dich in Hosen gesteckt und wie einen Mann erzogen!«, brüllte Vater so laut, dass Manon vor Schreck die Bürste fallen ließ. »Da ich das nicht habe, ist wohl davon auszugehen, dass ich von dir erwarte, dich wie eine Dame zu benehmen und deine Ansichten in der Öffentlichkeit für dich zu behalten!«
Ich hätte ihm sagen können, dass die Königin sehr wohl ihre Meinung in der Öffentlichkeit kundtat, ebenso wie ein weiter Kreis der Hofdamen, wenn es darum ging, die Schwächen anderer aufzudecken, aber wahrscheinlich meinte er das nicht.
Manon musste mir angesehen haben, was ich dachte, denn der Griff in meine Haare wurde fester.
»Au«, sagte ich und sah zu ihr empor, aber sie lockerte den Griff nicht, sondern warf mir nur einen Blick zu, der wohl sagen sollte: Jetzt bleib am besten still.
Mürrisch sah ich in den Spiegel und beobachtete Vater dabei, wie er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durchs Zimmer lief.
»Mit deinen Eskapaden muss nun endgültig Schluss sein, Charlotte. Dir ist wahrscheinlich nicht bewusst, wie gefährlich es ist, am Hof mit den falschen Leuten gesehen zu werden. Außerdem müssen wir aufpassen, was der König denkt. Noch besitzt de Rohan, der Herzog Montbazon, die Gunst des Königs, aber der Mann ist ehrgeizig, und in den kommenden Auseinandersetzungen wird es schwer genug sein, unsere Stellung am Hof zu behaupten, auch ohne dass uns eine besondere Nähe zu den Hugenotten nachgesagt wird.« Nach diesen Worten stürmte er wütend hinaus.
Nachdenklich sah ich auf mein Spiegelbild. Sophie war die Einzige, die von Anfang an mit mir geredet hatte, der es gleich war, ob der König mich mochte oder nicht. Ganz gleich, was Vater oder Henri auch dachten, ich konnte mich nicht damit abfinden, dass meine Freundschaft zu ihr mir schaden könnte.
Das Mädchen im Spiegel nickte mir zu, und obwohl ich wusste, dass ich es selbst war, so schien mir das Antlitz, das mir entgegenblickte, doch das einer Fremden. Ein misstrauischer Ausdruck lag in dem Gesicht, der mich an jemand anders erinnerte. Es verging einige Zeit, bis mir einfiel an wen. Es war derselbe Ausdruck, den auch Condés Züge die meiste Zeit trugen.
Bei dem Gedanken krampfte sich mein Magen zusammen, denn nun wusste ich auch, wie sich ein solcher Ausdruck auf das Gesicht eines Menschen schleichen konnte. Ihm voran gingen Enttäuschung und Verrat, die vor allem eine Stelle angriffen: das Herz.