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Die Wilden aus der Steppe im Norden sind von beklagenswert stumpfem Geist. Sie sind nicht einmal dazu in der Lage, Ackerbau zu betreiben oder sich feste Unterkünfte zu schaffen. In Bezug auf sie von einem geordneten Staatswesen zu sprechen, hieße, einen Schwarm Ratten als zivilisierte Gesellschaft zu begreifen. Ihre mordlüsternen Weiber sind allesamt garstig anzuschauen, und so verwundert es nicht, dass ihre Männer es bisweilen vorziehen, sich mit ihren Pferden zu paaren.
Aus De Populi Minores: Über die uns unterlegenen Völker aus der Feder des Herrschaftlichen Kulturkundlers Hybrimon Virulingia

 

Sein erster Tag in der Sklaverei verstrich, ohne dass er das Bewusstsein wiedererlangt hätte. Die Empfindung, die ihn schließlich aus der Umklammerung seiner Ohnmacht löste, war das Gefühl, gewiegt zu werden wie ein kleines Kind. Hin und her, hin und her.

Darauf folgten Gerüche: nach Holz und Leder, nach faulen Eiern und nach etwas, das er zu Anfang für das angenehme und vertraute Aroma von Pferdeschweiß hielt. Nach und nach bemerkte er aber den Unterschied, denn dieser Duft war noch durchdringender, noch schärfer.

Immer lauter drangen nun Geräusche zu ihm durch. Ein Knarren, ein Klirren, ein Stampfen und vereinzelte Worte in einer Sprache, die er lange nicht gehört hatte. »Tot« und »Wasser« waren zwei davon.

Er kam langsam zu sich, als das Schwanken aufhörte und seine Wange von einem Schlag brannte. »Auf jetzt!«, knurrte eine Stimme.

Er wurde unsanft unter den Achseln gepackt und hochgerissen. Er wollte sich dagegen wehren, doch er konnte weder seine Arme noch seine Beine bewegen. Er sah Hände, die nach ihm griffen, und den Maskenhelm eines Harten Menschen. Im nächsten Moment wurde ihm ein Stoß in den Rücken versetzt, und er machte zwei unsichere Schritte. Beim ersten schrammten seine Sohlen über Holz, beim zweiten trat er ins Leere.

Kaum hatte er aufgeschrien, endete sein Sturz auch schon, gebremst von kräftigen Armen. Sein Kopf schlug hart gegen Metall. »Passt doch auf da oben!«, beschwerte sich der Mann, der ihn aufgefangen hatte, und ließ ihn fallen.

Gras!, dachte Teriasch. Ich liege auf Gras. Ich bin noch in der Steppe. Er wälzte sich mühsam auf den Rücken. Über ihm ragte wie ein grauer Fels eines der riesigen Tiere auf, auf dem die Harten Menschen ritten. Nein, sie reiten nicht darauf. Sie bauen Kisten, die sie an die Tiere hängen, und sie steigen in diese Kisten, um sich dann tragen zu lassen. Sein suchender Blick erhaschte die Kiste, aus der man ihn eben heruntergeworfen hatte. Sie war mit silbrig schimmerndem Metall verkleidet, und ein Panzer aus ineinander verflochtenen Ringen aus dem gleichen Metall schützte die Flanke der Rüsselschnauze.

Ein Harter Mensch trat auf ihn zu, einen Stoßdolch gezückt.

Teriaschs Bauchmuskeln zuckten in einem kurzen Krampf. Jetzt ist es so weit! Jetzt bringen sie mich um!

Der Mann beugte sich zu ihm hinunter und durchtrennte die Fesseln zwischen seinen Knöcheln mit einem einzigen Schnitt. »Soll er zu den anderen, Spuo?«

»Gleich.« Ein zweiter Fremder geriet in Teriaschs Blickfeld. Sein Helm, dessen Kamm ein goldener, zum Sprung geduckter Löwe zierte, hatte keine Maske. In einer aufwendigen Vorrichtung aus Riemen und Schnallen hatte er an der linken Beinschiene ein Blasrohr verstaut. »Er hat noch was von mir.« Er fasste nach Teriaschs Kopf und drehte ihn zur Seite. Ein feiner, stechender Schmerz, dann hielt der Mann einen schwarzen Stachel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Das war’s, Arka. Er braucht einen Kettenbruder. Binde ihn an unser Einzelstück, ja?«

Arka zog Teriasch auf die Beine und stieß ihm das Knie in den Hintern. »Los, los.«

Auf der anderen Seite der Rüsselschnauze saßen Menschen paarweise im Gras. Sie hatten kaum eine andere Wahl, denn sie waren aneinandergekettet: der linke Arm und das linke Bein des einen an den rechten Arm und das rechte Bein des anderen, eng genug, dass es ihnen unmöglich war, einen Schritt zu machen, den nicht auch ihr Leidensgenosse machen musste. In der Steppe wären sie so gewiss nicht weit gekommen. Nur einer der Männer, die alle den Pferdestämmen angehörten, saß allein, einen schwarzen Sack über dem Kopf.

Arka begann grob, Teriasch an diesen Krieger zu ketten. Den Bildern auf der Haut seines Waffenarms nach zu urteilen, hatte er in seinem Leben bereits drei Feinde zu ihren Ahnen geschickt. Nachdem er sein Werk verrichtet hatte, grunzte Arka und nahm dem Krieger den Sack vom Kopf. »Benehmt euch, ja?« Dann stapfte er davon und pfiff dabei eine fröhliche Melodie.

Die Harten Menschen scherte es nicht, wenn die gefangenen Steppenbewohner miteinander redeten, und so erfuhr Teriasch bald einiges über den Mann, an den man ihn gekettet hatte. Dokescha stammte aus der Sippe der Teshi Asanapi, der Milchbäuche, die ihren Namen daher hatten, weil sie sich ihre Bäuche mit weißer Erde einrieben. Teriasch hatte von ihnen gehört, war aber selbst noch nie einem Milchbauch begegnet, und um sich der Freundschaft zwischen ihren Sippen zu vergewissern, flochten sie einander Grashalme ins Haar. Das war eigentlich ein Bruch mit der Tradition, doch in Ermangelung von farbigen Bändern, wie es den guten Sitten entsprochen hätte, einigten sie sich rasch auf das Gras als Ersatz. Dokescha war ebenso nackt wie Teriasch, aber sie waren damit nicht allein.

»Sie nehmen jedem alles ab, wenn sie ihn fangen«, erklärte Dokescha, das lange Gesicht zu einer trotzigen Miene verzerrt. »Sie lassen einem nichts. All meine Geschenke, die sie nicht zerschlagen haben, sind dort oben in einer der Kisten auf diesem Untier.«

»Du hast ihnen Geschenke gemacht?«, fragte Teriasch und dachte an die Geschichte, die Pukemasu ihm in all der Zeit, die er bei ihr war, am häufigsten erzählt hatte. Die, wie er zu ihr gekommen war. Man kann den Harten Menschen nicht trauen. Ihre Herzen sind schwarz vor Lügen. »Warum hast du das getan?«

Dokescha lachte bitter auf. »Ich? Diesen verschnittenen Hengsten Geschenke machen? Pass besser auf, sonst pisse ich dir auf die Füße! Ich war mit meinen Freunden auf dem Weg zu einem Treffen mit den Gelben Fohlen, um eine Braut zu werben. Für die hatte ich Geschenke dabei.« Er seufzte schwer. »Und jetzt kann ich von Glück reden, wenn mich nicht einer von denen zu seiner Braut macht.«

»Warum sollten sie das wollen?«, fragte Teriasch.

»Weißt du denn nicht, dass die Harten Menschen keine Frauen haben?« Dokescha spie aus. »Sie wirken böse Zauber, um die Männer, die sie fangen, in Frauen zu verwandeln und ihre Kinder auszutragen.«

Das kann unmöglich sein. Das würden die Geister nie zulassen. Teriasch ließ die Sache auf sich beruhen. »Sind das alles hier deine Freunde, die mit dir gezogen sind, um eine Braut zu finden?«

»Nein.« Dokescha schloss in einer schwachen Geste einige der anderen ein, die im Gras hockten. »Nur die.«

»Und die anderen?«

»Sind ein Jagdzug.« Er schob verächtlich die Unterlippe vor. »Von den Krallendaumen. Schöne Jäger sind mir das, sich so einfach fangen zu lassen.«

»Du und deine Leute wurden auch gefangen«, wandte Teriasch ein.

»Was soll das heißen, du Dungesser?«, brummte Dokescha.

»Mir ging es ja nicht anders«, sagte Teriasch hastig. »Ich kam aus einer Schwitzhütte.«

»Schamanen …«, murmelte Dokescha nur.

»Im Ernst.« Teriasch wählte einen versöhnlichen Tonfall. »Wie haben sie es geschafft, euch gefangen zu nehmen?«

»So, wie sie alles tun, was sie tun«, sagte Dokescha. »Mit Heimtücke. Am Anfang haben wir nur die Rüsselschnauze in der Ferne gesehen. Sie lag auf der Seite. Wie tot. Das wollten wir uns näher anschauen. Ich will ehrlich sein: Es ist meine Schuld. Ich dachte, ich gewinne das Herz meiner Braut schneller, wenn ich ihr einen Stoßzahn von diesem Ungeheuer ins Zelt hänge. Du weißt schon. Als Zeichen. So wie ihr Schamanen das macht. Eine Sache für eine andere stehen lassen. Lang und hart.« Er winkte ab. »Wir sind zu der Rüsselschnauze geritten. Vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug. Wir haben gemerkt, dass das Vieh noch atmet. Wir sind abgestiegen, weil wir dachten, es wäre krank und könnte uns nichts mehr tun. Dabei war die Rüsselschnauze noch die kleinste Gefahr. Die Harten Menschen hatten sich nämlich nur versteckt.«

»In den Kisten?«

»Auch.« Dokescha starrte mit leerem Blick auf seine Füße. »Sie haben Matten aus geflochtenem Gras. Darunter hatten sie sich versteckt, überall um uns herum. Wir haben uns gewehrt, aber du siehst ja selbst, wie viele es sind. Und sie haben diese merkwürdigen Bögen. Die, die man quer hält und die ganz kurze Pfeile verschießen, die trotzdem jedes Leder und jeden Knochen durchschlagen. Und ihre Blasrohre mit dem Gift, das einen lähmt.« Er drehte den Kopf zu Teriasch. »Wir sind für sie so leicht zu jagen, wie wir unsere Pferde einfangen.«

»Wo sind eure Pferde?«

Dokescha schluckte. »Fort.« Tränen schimmerten in den Augen des stolzen Kriegers. »Wie all unsere Frauen.«

Teriasch sträubten sich die Nackenhaare. Er sah sich nach den anderen Gefangenen um. Nur Männer. Sie fangen nur Männer. »Wo haben sie eure Frauen hingebracht?«

»Nirgendwohin«, flüsterte Dokescha erstickt. »Sie haben sie alle erschlagen.«

Die Häscher teilten Brot an ihre Gefangenen aus, einen harten, handtellergroßen Fladen für jeden. Dazu ließen sie einen Wasserschlauch herumgehen. Ob sein Inhalt gerecht aufgeteilt wurde, kümmerte sie nicht, und als der Schlauch schließlich zu Teriasch und Dokescha kam, war er bereits recht schlaff. Der ältere Krieger trank nur einen kleinen Schluck. »Deine Lippen sind rissiger als meine«, sagte er und reichte den Schlauch an Teriasch weiter.

Der nickte dankbar. Er quetschte noch den letzten Tropfen in seine trockene Kehle.

Dokescha, der ihn dabei mit seiner freien Hand unterstützte, warf die ausgesaugte Hülle danach in Richtung eines der Wächter. »Du musst stark bleiben«, erklärte er. »Wenn du schwach wirst, können wir nicht fliehen.«

»Du willst fliehen? Wohin?«

»Unsere Sippen werden nach uns suchen.« Dokeschas Blick schweifte über den Horizont. »Sie lassen uns nicht im Stich. Wir müssen nur weg von hier.«

»Denk an die Geschichte von Itukala, der Maus«, sagte Teriasch. »Wie sie in die Fänge von Wabili, dem Adler, geraten ist. Je mehr sie sich gewunden hat, desto tiefer haben sich seine Fänge in sie hineingebohrt.«

»Ja, ja«, erwiderte Dokescha mürrisch. »Und erst als sie ganz ruhig und still geblieben ist, ist sie von selbst aus seinem Griff geschlüpft. Ich kenne die Geschichte. Aber wir sind keine Mäuse, und diese Menschen sind keine Adler. Bist du denn überhaupt nicht zornig, dass sie dich gefangen haben?«

Teriasch horchte in sich hinein. »Ich bin zornig, aber was nützt mir mein Zorn? Er wird diese Ketten nicht sprengen, er wird mir meine Kleider nicht wiedergeben, und er wird auch nicht meine Sippe hierherführen.« Er sah unsicher zur Rüsselschnauze. »Und glaub mir, es würde dir nicht gefallen, wenn mein Zorn sich Bahn bricht.«

»Wieso nicht?«

Teriasch schwieg einen Augenblick. Das geht ihn nichts an. Und wenn ich ihm erzähle, wie es um mich und meinen Zorn bestellt ist, wecke ich nur sein Misstrauen. »Die Welt ist, wie sie ist.« Das war eine von Pukemasus liebsten Weisheiten, mit der sie seinen vielen bohrenden Fragen über die Ordnung der Dinge begegnet war. Warum widerfuhr guten Menschen Böses? Warum blieb manchmal der Regen aus und die Herden verdursteten? Warum fiel er zu anderen Zeiten so heftig, dass er die Zelte des Lagers fortzuspülen drohte? »Auch wenn wir ihr alles schulden, schuldet die Welt uns nichts. Wir sind wie der Wind. Wir ziehen über die Welt hinweg, ohne sie je zu verändern.«

Dokescha ächzte verdrossen. »Dann spielt es auch keine Rolle, ob die Harten Menschen uns erst verschleppen und dann töten, oder ob wir dabei sterben, wenn wir vor ihnen fliehen.«

»Ich glaube nicht, dass sie uns töten wollen«, sagte Teriasch. »Sonst würden sie uns nichts zu essen und zu trinken geben.«

»Vielleicht führen sie uns nur zu einem Opferstein, wo sie uns den bösen Geistern opfern wollen, die sie anbeten«, entgegnete Dokescha düster. »Und bis dahin müssen wir bei Kräften sein.«

»Unsinn.«

»Du kannst mir nicht beweisen, dass ich falsch liege.«

»Stimmt. Ich kann das nicht. Er schon.« Teriasch zeigte auf den Harten Menschen, der gerade den leeren Wasserschlauch aufsammelte. »Wo bringt ihr uns hin?«

Die sperrigen Laute der fremden Sprache kratzten in Teriaschs Hals, doch sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Der Kopf des Harten Menschen ruckte herum, und der Mann hätte beinahe den Schlauch fallen lassen. Seine Helmmaske verbarg seine Züge, doch er nahm die leicht vornübergebeugte Haltung von jemandem an, der Zeuge eines unglaublichen Ereignisses wurde. »Was?«

»Wo bringt ihr uns hin?«, wiederholte Teriasch. Er spürte Dokescha neben sich zusammenzucken, und unter den anderen Gefangenen setzte ein heftiges Getuschel ein.

Der Harte Mensch machte einen Schritt auf Teriasch zu. »Du bist der aus der Hütte, oder? Der, der mich fast ertränkt hat?«

Teriasch antwortete nicht. Wir sehen für ihn alle gleich aus. So wie sie für uns alle gleich aussehen. Er erwartete einen Tritt, einen Schlag oder irgendeine andere Vergeltung seitens des Harten Menschen. Stattdessen lachte der Mann. »Du wirst einen besonders guten Preis bringen. Ich sollte Spuo sagen, dass ich mir eine kleine Belohnung verdient habe.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »So was hat man noch nie gesehen …«

Enttäuscht ließ Teriasch den Kopf hängen. Jetzt bin ich so schlau wie vorher … Obwohl … Das hörte sich an, als ob sie uns irgendwo gegen etwas anderes eintauschen wollen.

»Du sprichst ihre Sprache.« Dokeschas Stimme war brüchig wie das Flüstern einer Vettel, die glaubte, einen bösen Geist gesehen zu haben. »Wieso sprichst du ihre Sprache?«

»Ich habe mit einem von ihnen in einem Zelt gelebt«, gestand Teriasch.

»Mit einem Harten Menschen?« Dokescha wollte ein Stück von ihm fortrücken und zog ihn wegen der Ketten doch nur näher an sich heran. »Du Verräter!«

»Es ist nicht das, was du denkst«, beteuerte Teriasch.

»Was ist es dann?«

»Vor sechs Sommern haben wir einen Harten Menschen auf der Steppe gefunden«, begann er zu erzählen. »Nach einem Sturm, bei dem alle schon dachten, die Geister des Winds, des Donners, der Blitze und der Wolken würden nie mehr Frieden schließen. Der Harte Mensch lag unter einer der fliegenden Echsen, die sie gezähmt haben. Sie war tot, ihr langer Hals zerknickt wie ein dürrer Ast. Er lebte. Die meisten von uns waren dafür, ihn zu töten. Pukemasu, meine Lehrmeisterin, war es nicht. Sie meinte, die Geister hätten ihn nicht ohne Grund zu uns geschickt. Und er war ja nicht gefährlich. Seine Beine waren zerquetscht, und er hatte kein Gefühl mehr darin. Kokipe dachte, der Harte Mensch würde das nur spielen, und deshalb hat er ihn mit einem Messer ins Bein gestochen.«

»Dieser Kokipe scheint mir schlauer zu sein als deine Lehrmeisterin«, merkte Dokescha an.

»Ist er aber nicht«, sagte Teriasch. »Der Harte Mensch hat nicht geschrien. Seine Beine waren wirklich tot.« Er tippte sich an die Hüfte. »Nur von hier an aufwärts hat er noch gelebt. Pukemasu hat ihn in unser Zelt geholt. Wir haben seine Wunden versorgt und ihn gewaschen. Zwei Sommer war er bei uns. Am Anfang war es nicht leicht, ihn zu verstehen. Und er hatte Angst vor uns und hat nur wenig gesprochen. Vielleicht hat er gehofft, seine Leute würden kommen und ihn heimholen. Oder er fürchtete sich vor den Häuten, die in unserem Zelt aufgespannt waren. Ich glaube, die Harten Menschen verstehen nicht, warum wir sie aufhängen. Dass sie uns dabei helfen, nichts zu vergessen. Nach einer Weile hat er mehr geredet. Pukemasu hat ihm die Bilder auf den Häuten gezeigt und ihn gefragt, was sie in seiner Sprache zeigen. Im ersten Winter war er so weit, dass wir mit ihm reden konnten wie mit einem kleinen Kind. Und dass wir uns in seiner Sprache für ihn anhörten wie kleine Kinder. Je mehr die Sonne wieder an Kraft gewann, desto mehr Worte lernte er von uns und wir von ihm.«

»Was hat er euch erzählt?«, wollte Dokescha wissen, dessen Furcht einer sichtlichen Neugier gewichen war.

»Von den großen Lagern, in denen die Harten Menschen leben und die sie Städte nennen«, sagte Teriasch. »Dass sie Hütten und Häuser aus Stein bauen. Dass sie immer wieder Samen an denselben Stellen ausstreuen und warten, bis auf diesen Feldern neue Pflanzen gewachsen sind, deren Samen sie dann wieder ausstreuen. Dass …«

»Hat er gesagt, dass sie Frauen haben?«, unterbrach ihn Dokescha, den offenbar die Vorstellung plagte, tatsächlich zur Braut eines der Fremden auserkoren zu werden.

»Sie haben zumindest ein Wort für Frauen und eins für Mädchen und eins für Vetteln«, beruhigte ihn Teriasch. »Und kannst du dir ein Lager ohne Frauen ausmalen?«

Dokescha schüttelte den Kopf.

»Siehst du wohl.« Teriasch seufzte. »Ich sollte es dir eigentlich nicht sagen, aber wir wussten nie, ob er die Wahrheit erzählt oder lügt. Manches von dem, was er mir und Pukemasu berichtet hat, kann nicht stimmen. Es gibt keine Dächer aus Gold und keine Menschen mit Hauern wie ein Eber und keine Werkzeuge, um den Lauf der Gestirne vorherzusehen.« Er senkte die Stimme. »Es könnte auch sein, dass er einfach nicht mehr richtig im Kopf war. Immerhin ist er vom Himmel gefallen.«

»Was ist aus dem Mann geworden?«

»Er …« So viel Blut so nutzlos vergossen … Teriasch war überrascht, wie sehr ihn die Erinnerung immer noch schmerzte. »Er hat sich eines Nachts die Arme aufgeschnitten. Am Abend vorher war er noch ganz fröhlich gewesen und hat viel gelacht und mit Pukemasu herumgealbert.«

»Hat er sie gekränkt?«

»Was?«

»Hat er an diesem Abend etwas gesagt oder getan, was sie gekränkt haben könnte?«

»So ist Pukemasu nicht«, sagte Teriasch, als er begriff, worauf der Krieger hinauswollte. »Sie hätte ihn nicht getötet. Wir wollten doch von ihm lernen.«

»Du kennst sie besser als ich.« Dokescha wiegte den Kopf hin und her. »Aber unser Schamane ist sehr reizbar. Ein falsches Wort genügt, und er …«

»Er hat sich selbst umgebracht«, fiel ihm Teriasch ins Wort. »Verstanden?«

»Von mir aus.« Dokescha zwang Teriasch zu einem gemeinsamen Schulterzucken. »Denk, was du willst.« Er versuchte, einen Finger unter den eisernen Ring um sein Handgelenk zu schieben, und scheiterte daran. Er rüttelte an dem kleinen Schloss, das seine Ketten mit denen Teriaschs verband. »Aber eines weiß ich: Der Harte Mensch hat keinen schlechten Weg gewählt, um zu seinen Ahnen zu gehen. Ein besserer Weg, als für immer in eurem Zelt gefangen zu sein.«

Als die Sonne ihren höchsten Punkt lange überschritten hatte, trieben die Harten Menschen ihre Gefangenen zum Aufbruch an. Die Rüsselschnauze setzte sich an die Spitze des Zuges. Ein Mann saß in einem mit Troddeln geschmückten Holzsattel im gedrungenen Nacken des Tiers, das er durch eine Abfolge von Zungenschnalzern, sachten Hieben mit einem Hakenstock und zarten Zupfern an den Ohren lenkte. Je sechs weitere Männer ritten in den Kisten, die links und rechts am tonnenförmigen Leib der Kreatur festgeschnallt waren. Ihre Aufgabe war einfach zu durchschauen: Sie behielten zum einen die Gefangenen im Auge, die der von der Rüsselschnauze ins Steppengras getrampelten Schneise folgten. Zum anderen spähten sie in die Weite hinaus, um für unliebsame Überraschungen gewappnet zu sein und um nach neuer Beute Ausschau zu halten. Der Rest der Harten Menschen eskortierte die Gefangenen in einigem Abstand und ohne allzu viel Mühe.

Denn ganz gleich, wie sehr Teriasch und Dokescha auch darauf achteten, ihre Bewegungen aufeinander abzustimmen, staksten sie mehr ungelenk, als dass sie zügig gingen, und den anderen Paaren erging es ebenso. Teriasch fühlte sich wie ein armes Pferd, das sich den Lauf in einem Erdhörnchenbau gebrochen hatte. Für gewöhnlich erlöste man ein solches Pferd so schnell wie möglich von seinen Qualen. Eine Gnade, die Teriasch nicht vergönnt war. Nach einer Weile begannen ihn Krämpfe in den Waden zu plagen, und ein ums andere Mal wäre er gestürzt, wenn nicht Dokescha kräftig genug gewesen wäre, sie beide auf den Beinen zu halten.

Unter den Harten Menschen hatte es inzwischen die Runde gemacht, dass einer der Gefangenen ihre Sprache verstand. Aus bösartiger Langeweile heraus spornten sie Teriasch gelegentlich mit spöttisch-aufmunternden Zurufen an oder forderten ihn auf, ihnen doch etwas Unterhaltsames darüber zu erzählen, wie die Steppenbewohner es mit ihren Pferden trieben. Teriasch ignorierte die meisten der Schmähungen, bis es einer der Harten Menschen schließlich übertrieb.

»Merken die Stuten überhaupt etwas von euch, wenn ihr mit euren Stöckchen bei ihnen ankommt?«, höhnte er.

Zorn durchflutete ihn wie eine brennende Woge. Er ballte die Fäuste und schrie: »Genug! Genug!«

»Ah!«, sagte der Spötter. »Sie merken also genug!«

Das einsetzende Gelächter der Männer brach ab, abgelöst vom lauten Klirren eines Kettenpanzers, als die Rüsselschnauze unvermittelt stehen blieb und sich schüttelte. Ihr Lenker verlor seinen Hakenstock und klammerte sich an seinen Sattel, während die Männer in den Kisten schreiend übereinander fielen. Das schnaubende Tier nahm seinen Kopf zur Seite und funkelte den Kerl, der Teriasch gereizt hatte, aus seinen kleinen schwarzen Augen an.

»Es dreht durch. Es dreht durch.« Dokescha riss Teriasch einige Schritte mit sich fort, weg von der Bestie.

Der Fremde mit dem Löwenhelm brüllte eine Reihe scharfer Befehle, die seine Untergebenen geflissentlich überhörten.

»Genug …«, flüsterte Teriasch weiter. Es kann mich hören. Es teilt meinen Zorn. »Genug …«

Die Rüsselschnauze senkte das Haupt wie zu einem Stoß mit ihren fingerlangen mit Metalldornen gespickten Hauern.

Der Spötter richtete seine Axtlanze auf das Tier, eine verzweifelte Geste, wie sie hilfloser nicht hätte ausfallen können.

Der Lenker zerrte nun wie wild an einem Ohr der Rüsselschnauze. »Ruhig! Ruhig!«

»Nimm deine verbockte Hasta runter, Soldat!«, fluchte der Löwenhelmträger und sprang nach vorn. Er bückte sich, verschwand halb im Gras und tauchte mit dem Hakenstock in der Hand wieder auf. Furchtlos bohrte er die Spitze in die Flanke der Rüsselschnauze. Sie durchdrang zwar nicht die Panzerung, doch das Tier gab dennoch einen erschrockenen Laut von sich und stampfte schwerfällig seitwärts. Sein Kopf pendelte in der Bewegung mit, und nun war an seinem Hals etwas zu sehen, das zuvor zwischen wulstigen Hautfalten versteckt gewesen war: ein armdicker Reif aus einem schwarzen Material, in dem weiße Einschlüsse schillerten. Der nächste Hieb des Löwenhelmträgers zielte genau auf dieses sonderbare Schmuckstück.

Ein Blitz ohne Donner blendete Teriasch, und er starrte einen flüchtigen Moment in eine gleißende Leere. Wie von fern vernahm er einen lang gezogenen, heiseren Schrei, der unmöglich aus der Kehle eines Menschen stammen konnte. Der Zorn, der eben noch unbändig in ihm getobt hatte, kroch verängstigt in sein tiefstes Innerstes zurück. Teriasch stolperte, kam jedoch nicht zu Fall. Der Schrei verklang, das Gleißen erlosch. Er blinzelte.

»Was hast du?«, fragte Dokescha.

»Der Blitz …«, stammelte Teriasch. »Der Schrei …«

»Welcher Blitz? Welcher Schrei?«

Hat er es nicht gesehen? Hat er es nicht gehört? Teriasch riss die Augen auf, sah sich um. Niemand außer ihm – keiner von den Steppenbewohnern und auch keiner von den Harten Menschen – erweckte den Anschein, als hätte er den Blitz und den Schrei bemerkt. Alle Blicke waren nach wie vor auf die Rüsselschnauze gerichtet, in die Teriaschs Zorn für eine kurze Zeit eingefahren war. Das Tier hatte sich nach dem Hieb gegen sein metallenes Halsband, dessen Einschlüsse zu glühen schienen, merklich beruhigt. Beinahe verschämt hielt es den Kopf gesenkt und zupfte mit seinem Rüssel am Gras.

»Was war das denn?«, rief der Löwenhelmträger zum Lenker hinauf, der nun wieder fest in seinem Sattel saß.

»Keine Ahnung, Spuo.« Geschickt fing der Mann den Hakenstock auf, den ihm sein Befehlshaber nach oben warf wie einen Speer. »Das hat sie noch nie gemacht. Aber am Kollare kann es nicht liegen, wie du uns ja selbst gezeigt hast. Das Band ist nicht gebrochen.« Er beugte sich nach vorn, um die Rüsselschnauze in dem Borstenbüschel auf ihrem Scheitel zu kraulen. »Könnte sein, dass sie sich vor einem Erdhörnchen erschreckt hat. Probaskas mögen keine kleinen pelzigen Dinge, die sich schnell bewegen.«

»Genug Kraft, um ein Haus einzureißen, aber panische Angst vor Mäusen.« Spuo schüttelte den Kopf und gab seinen Männern ein Zeichen, den Marsch fortzusetzen. »Fast wie meine Mutter.«

Dokescha stieß Teriasch mit dem Ellenbogen an. »Auf drei, ja?«

Teriasch nickte, während Dokescha den nächsten Schritt auf ihrer gemeinsamen Reise vorzuzählen begann. Was ist hier gerade geschehen? Was hat meinen Zorn zurückgedrängt? Er blickte von seinen Füßen auf in die Weite der Steppe. Am Horizont glaubte er die Silhouette eines einsamen Mannes zu erkennen – nur ein länglicher, schemenhafter Fleck auf verwaschenem Grund –, doch als er die Augen zusammenkniff, um näher hinzusehen, war die Gestalt verschwunden.

Mit dem Einsetzen der Dämmerung endete der Marsch für diesen Tag. Auf Spuos Geheiß bauten die Harten Menschen drei von ihren eckigen Zelten auf: zwei größere, von denen eines für die Soldaten und das andere für die Gefangenen bestimmt war, sowie ein kleineres, dessen Spitze mit einem bronzenen Löwenkopf geschmückt war und das Spuo allein bezog.

Bevor sie das Zelt betreten durften, wurden die Gefangenen gestenreich und voll bitterem Spott aufgefordert, sich noch einmal zu erleichtern. Da sowohl Teriasch als auch Dokescha lediglich den Drang verspürten, ihr Wasser abzuschlagen, boten sie ihren Häschern wenigstens nicht das unwürdige Schauspiel, aneinandergekettet ihren Darm zu leeren. Danach gab es wieder Brot und Wasser für die Gefangenen, gereicht von dem Soldaten, der dazu abkommandiert worden war, vor dem Eingang ihres Zelts Wache zu halten.

Das Zelt selbst war einigermaßen geräumig, wenn auch völlig schmucklos – keine Felle, keine Häute, keine Schnitzereien an den Stangen, keine Malereien an den Planen. Bald staute sich der scharfe Geruch von Schweiß, wie ihn nur eine Mischung aus Angst und überstandener Anstrengung zu erzeugen vermochte. Dokescha wählte für sich und Teriasch einen Ruheplatz dicht am Eingang, den ihnen niemand streitig machte.

Teriaschs Kettenbruder genoss unter seinen Freunden ein hohes Ansehen, und er stellte Teriasch all seine Begleiter vor, die mit ihm in Gefangenschaft geraten waren. Teriasch lächelte viel und nickte oft, behielt aber nicht einen einzigen Namen, weil sein Verstand immer noch darum rang, einen Sinn in dem unheimlichen Vorgang mit der Rüsselschnauze zu erkennen.

Das Einschlafen erwies sich als doppelt schwierig. Zu seinen rasenden Gedanken kam der Umstand, dass Dokescha sich lange unruhig hin und her wälzte. Mal schlug er Teriasch versehentlich den Arm ins Gesicht, mal stieß er ihm das spitze Knie in den Schenkel. In der Hoffnung, Pukemasu könnte inzwischen auf eine Traumsuche nach ihm gegangen sein und er würde seiner Lehrmeisterin irgendwie verraten können, wohin ihn die Harten Menschen verschleppt hatten, dämmerte Teriasch endlich weg.

Er wurde davon geweckt, dass jemand seinen Namen sagte. Zumindest schlug er deshalb die Augen auf, denn er war sich bei dem Anblick, der ihn erwartete, nicht mehr sicher, ob er nicht doch noch träumte.

Im mondbeschienenen Eingang des Zelts – eine Armlänge vom Wächter entfernt, der niedergesunken an einer der Stangen leise schnarchte – saß der feige Geist, dem er vor der Schwitzhütte begegnet war. Er hatte die Beine überkreuz und das, was Teriasch bisher für eine Keule gehalten hatte, auf dem Schoß. Die langen Finger seiner linken Hand pressten die glänzenden Schnüre am Griff gegen das feingemaserte Material, aus dem der Gegenstand gefertigt war, während die nicht minder langen Finger seiner rechten Hand ein Stück weiter unten an den Schnüren zupften, wo diese über ein rundes Loch im bauchigen Teil der Keule liefen. Dabei entstanden zauberhafte Klänge – ein hell schwingendes Summen, als ob der Geist Bogensehnen das Singen beigebracht hätte.

Teriasch fuhr hoch, um sich auf die Ellenbogen zu stützen, und zerrte Dokescha dabei mit sich. Erstaunlicherweise schlief der Krieger ungerührt weiter.

»Was machst du hier?«, entfuhr es Teriasch.

Der Geist lächelte und spielte weiter sein Musikinstrument, denn nichts anderes konnte dieses Ding sein, das er da hatte. »Ich schaue nach, wie es dir geht.«

Er spricht so laut! Teriaschs Blicke huschten durch das Zelt. Die Leiber der Schlafenden waren wenig mehr als kleine Schattenhügel, die sich an einigen Stellen in ruhigem Takt hoben und senkten.

»Mach dir um sie keine Sorgen«, sagte der Geist. »Sie können uns nicht hören. Niemand kann uns hören.«

»Träume ich?«

»Tun wir das nicht alle?« In der Melodie lag mit einem Mal ein Hauch von Wehmut, den der Geist mit einem Seufzer noch verstärkte. »Du musst vorsichtiger werden, mein nackter Freund, sonst werden sie dir auf die Schliche kommen. Und was du kannst und was du bist, wird ihnen nicht gefallen.«

Er spricht schon wieder in Rätseln. Doch dieses Mal lasse ich mir das nicht gefallen. Hat Pukemasu nicht gesagt, dass es auch Geister gibt, denen man forsch begegnen muss, damit sie einem nicht auf der Nase herumtanzen? »Kannst du mich befreien?«

Die Augen des Geists funkelten. »Deine Zielstrebigkeit in allen Ehren, aber ich werde mich nicht einmischen. Es kostet mich auch so schon einiges an Überwindung, dir diesen kleinen Besuch abzustatten. So etwas tut man eigentlich nicht.«

»Warum tust du es dann trotzdem?«

»Ich sammle Geschichten über euch Menschen«, erklärte der Geist. »Deine Geschichte scheint mir eine vielversprechende zu werden, und es wäre schade, wenn du sie nicht zu einem passenden Ende führst.« Er neigte den Kopf in Richtung des schlafenden Wächters. »Ich fände es jedenfalls nicht passend, wenn sie damit endet, dass dir einer von diesen schrecklichen Leuten aus purer Angst mit seiner Hasta den Kopf von den Schultern schlägt. Das wäre die reinste Verschwendung.«

»Du bist also ein Geist der Geschichten?«, fragte Teriasch. Von einem solchen Geist hatte er zwar noch nie gehört, aber Pukemasu hatte ihn noch längst nicht in alle Geheimnisse eingeweiht, die sie unter ihrem Schopf aus grauen Zöpfen verwahrte.

»Wenn du zwingend darauf bestehst, dass ich ein Geist bin …« Er zuckte mit den Achseln, und seine Kapuze rutschte ihm ein Stück vom Kopf. »Ja, dann bin ich wohl am ehesten ein Geist der Geschichten. Zufrieden?«

Nicht ganz. Obwohl der Geist angekündigt hatte, ihn nicht zu befreien, wollte sich Teriasch noch nicht geschlagen geben. Verhandlungen mit Geistern waren immer mühsam. Teriasch hatte in seiner Zeit bei Pukemasu so manches Beispiel dafür gesehen, welchen Aufwand man bisweilen treiben musste, um einen Geist für sich zu gewinnen. Ich werde nie vergessen, wie Pukemasu einen Viertelmond lang nur rückwärts durchs Lager gelaufen ist, um einen Geist der entgangenen Gelegenheiten gnädig zu stimmen. Und hatte seine Lehrmeisterin ihm nicht ein großes Geschick im Umgang mit anderen bestätigt? Hatte er sich nicht bei Awasaka, der ein berüchtigter Geizhals war, drei schöne Pfeilspitzen gegen einen Beutel Schwarzholzperlen ertauscht? Und nach dem letzten Jagdfest von Iputake, deren Lippen weich und kühl wie frisch gefallener Schnee gewesen waren, einen Kuss erbettelt? Obwohl sie nur drei Tage vorher noch überall erzählt hatte, sie würde lieber einem Schakal den Hintern lecken, als sich je mit einem Schamanen einzulassen. Ich bin noch nicht fertig mit dir, Geist der Geschichten. »Hast du einen Namen?«

Zwei Herzschläge lang stockten die Finger des Geistes, und der Wächter neben ihm gab ein schmatzendes Geräusch von sich und kratzte sich träge am Hals. Dann setzte der Geist rasch sein Spiel fort. »Wenn ich wegen deiner albernen Fragen vergesse, die Saiten zu schlagen, stecken wir in einer misslichen Lage. Selbstverständlich habe ich einen Namen. Du kannst mich Fulmar nennen.«

»Fulmar …« Teriasch setzte seine freundlichste Miene auf. »Du hast gesagt, ich müsste vorsichtiger werden. Womit denn?«

»Wie du deinen Zorn walten lässt. Du hast offenkundig nicht sehr viel Übung darin. Um genau zu sein, bist du der plumpste Tendra Megun Romur, dem ich je begegnet bin.« Fulmar zupfte drei Saiten, deren Töne in Teriaschs Ohren irgendwie schief klangen. »Und ich bin schon so einigen begegnet.«

Wann hat er meinen Zorn gesehen? Teriasch stockte der Atem. »Das warst du! Der Mann am Horizont, der erst da und dann wieder weg war! Als die Rüsselschnauze wütend geworden ist, weil ich wütend geworden bin.«

Fulmar schürzte die Lippen. Seine Melodie vollführte einen heiteren Sprung. »Das kann schon sein. Ich hoffe, du hast gelernt, die Probaskas in Ruhe zu lassen. Sie stehen unter einem starken Einfluss, den du nicht so einfach brechen kannst.«

»Du folgst mir«, stellte Teriasch fest.

»Nimm dich bitte nicht so wichtig.« Fulmar entlockte seinem Instrument eine Schar düsterer Klänge. »Wir sind nur zufällig in die gleiche Richtung unterwegs.«

»Du willst dorthin, wo die Harten Menschen hingehen?«, fragte Teriasch.

»Ich habe genug von der Steppe.« Fulmar ahmte das Geräusch des Windes nach, wenn er über die Weite strich. »Zu viel Gras und zu wenig Leute, verstehst du?«

»Du hast recht. Ich kann meinen Zorn nicht lenken, und wenn die Harten Menschen herausfinden, dass ich ihre Rüsselschnauze zum Ungehorsam angestachelt habe, bringen sie mich um.« Teriasch atmete tief durch. Jetzt muss er anbeißen! »Aber könntest du mir nicht dabei helfen, meinen Zorn besser zu beherrschen?«

»Hör auf, mir Honig ums Maul zu schmieren!« Fulmar grinste. »Du bist kein so großer Verführer, wie du denkst. Ich werde dich nicht befreien, und dabei bleibt es.«

Teriasch ließ die Schultern hängen. Er ist zu schlau für mich … oder zu verrückt.

»Das ist kein Grund, Trübsal zu blasen«, meinte Fulmar aufmunternd zu ein paar frohgemuten Noten. »Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht den einen oder anderen Rat für dich hätte.« Er schlug alle Saiten auf einmal an. »Hier ist der erste. Reiz die Soldaten aus dem Dominum nicht. Du bist für sie wertvoller, als du dir vorstellst. Für sie bist du das, was ein gutes Pferd für deine Leute ist. Ein kleiner Schatz.«

»Ich bin kein Tier«, protestierte Teriasch.

»Das kommt ganz darauf an, wer dich gerade betrachtet«, erwiderte Fulmar schnippisch. »Die einen sagen so, die anderen so.« Erneut griff er beherzt in die Saiten. »Das ist mein zweiter Ratschlag. Du kannst deine Freiheit zurückerlangen, aber du musst den richtigen Augenblick abwarten. Nicht zu früh und nicht zu spät. Du brauchst nicht ewig Sklave zu sein, wenn du deine Gabe klug einsetzt. Übe dich vorsichtig darin, und sie wird der Schlüssel sein, der alle Schlösser öffnet.« Ohne seine Melodie zu unterbrechen, erhob sich Fulmar. »Gib mir eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt.« Er wandte sich um.

»Halt!« Teriasch griff nach dem Saum von Fulmars Umhang und bekam den verblüffend kühlen, harten Stoff zu fassen. »Was ist mit dem dritten Ratschlag?«

Mit einer barschen Drehung der Schulter riss Fulmar seinen Umhang frei. »Wovon redest du da?«

»Alle wichtigen Dinge kommen immer zu dritt, die guten wie die schlechten«, sagte Teriasch.

»Dridd.« Dieses Wort, das Fulmar ausspie, klang verdächtig nach einem üblen Fluch. »Wer erzählt denn so einen Unfug?«

»Pukemasu.« Wieso Unfug?

»Das alte Weib, das mit dir und deiner Gabe nichts anzufangen wusste?«

»Ja.«

Fulmar beugte sich ein wenig zu Teriasch herunter und flüsterte: »Gut, mein nackter Freund. Dann sollst du noch einen dritten Ratschlag kriegen. Er lautet: Glaube nur an die Regeln in der Welt, die du eigenhändig durchsetzen kannst. Und jetzt schlaf.« Die Abfolge der Töne von Fulmars Instrument wurde langsamer und langsamer. »Du hast noch einen langen Marsch vor dir.«

Teriaschs Lider flatterten. Das Letzte, was er sah, bevor ihm die Augen zufielen, war das Glitzern von Fulmars Mantel im Mondlicht.

Heldenzorn: Roman
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