19

 

Ich gelobe, stets über meine Blüte zu wachen.
Ich gelobe, ihr Schatten zu spenden, wenn die Sonne sengt.
Ich gelobe, sie zu wärmen, wenn der Frost sie quält.
Ich gelobe, in Zeiten der Dürre mein Blut
für sie zu vergießen.
Wenn sie verblüht, verblühe auch ich.
Aus dem Treueid der Scharlachroten Rosen

 

In Nescas Schlafgemach war, wenig überraschend, das Bett das dominante Möbelstück – eine wahre Landschaft aus duftenden Kissenhügeln, weichen Deckenbergen und einladenden Seidenebenen. Was Teriasch weitaus mehr verblüffte, waren die unübersehbaren Zeugnisse davon, dass Nesca abends wissensdurstig einschlief und morgens ebenso wissensdurstig wieder erwachte: Auf dem Bett waren so viele Bücher verstreut, als hätte sie den gesamten Inhalt eines der Schränke aus ihrem Studierzimmer darüber verteilt. Schriftrollen stapelten sich zwischen den Pinseln und Quasten, den Tiegelchen und Döschen, den Fläschlein und den Bürsten vor dem mannshohen Spiegel in einer Ecke. Der Boden hielt zahlreiche Stolperfallen in Form von Tontafeln mit sonderbaren Zeichen bereit, die wirkten, als hätte ein Vogel beschlossen, wild in weichem Lehm herumzupicken.

Die Zeichnungen in den Büchern, die aufgeschlagen waren, hatten Teriasch besonders zu denken gegeben. Gehörnte, schuppige Häupter wie das von Schwarzschwinge. Steinkreise aus schwarzen Monolithen, inmitten derer ekstatische Menschen um lodernde Feuer tanzten. Merkwürdig geschwungene Waffen, die keine Schwerter, aber auch keine Äxte waren und nicht für menschliche Hände gefertigt schienen. Sie muss in ihnen gelesen haben, als ich im Turm des Windes war. Warum? Wollte sie mehr über Drachen erfahren? Wollte sie sich ein Bild davon machen, was ich da entgegengetreten bin?

Nesca schritt vor ihrem Bett auf und ab, nur in ein leichtes Nachtgewand gehüllt, das sie sich widerwillig auf Cardas Anraten hin übergestreift hatte. Sie hielt den Kopf gesenkt, die Arme um den Leib geschlungen. »Ich kann das nicht glauben. Ich will das nicht glauben«, murmelte sie wieder und wieder, seit sie auf ihrem Weg hierher kurz Halt in Teriaschs Quartier gemacht hatten, damit er seine Blöße bedecken konnte. »Er würde das nicht tun. Warum sollte er das tun?«

Carda, die nach ihrer Ankunft zunächst in einer angrenzenden, karg eingerichteten Kammer verschwunden war, um sich anzukleiden, legte Nesca in einer zärtlichen, vertrauten Geste sanft eine Hand in den Nacken. »Ihr solltet Euch nicht zu sehr aufregen, Hoheit. Noch haben wir nicht mehr als einen Verdacht aus einer recht zweifelhaften Quelle.«

»O Carda …« Nesca lehnte sich gegen die plattenbewehrte Brust ihrer Leibwächterin. »Du bist eine schlechte Lügnerin. Warum willst du mir nicht sagen, was du vorhast?«

»Weil es keinen Sinn hat, Euch weiter zu beunruhigen.« Sie kraulte weiter Nescas Nacken. »Ihr werdet sehen, das ist alles nur ein Missverständnis.« Sie sah zu Teriasch, der auf einem Polsterhocker vor dem Spiegel saß. »Ich habe mich noch nicht bei dir bedankt.«

»Wofür?«

»Dass du die Pupula ein weiteres Mal vor Schaden bewahrt hast.«

Teriasch zuckte mit den Achseln, und der verschorfte Schnitt in seiner Seite pochte. »Ich habe nur getan, was du auch getan hättest.«

»Eben.« Carda nickte ernst und zog Nesca ein wenig enger an sich. »Wie geht es deiner Wunde?«

»Nur ein Kratzer«, sagte Teriasch. »Er hat mich nicht einmal richtig gestreift.«

Nesca, die Cardas Liebkosungen einen Augenblick schweigend genossen hatte, hob den Kopf. »Warum kommt er nicht? Er muss doch gehört haben, was vorgefallen ist. Ich will ihm sagen, was Rukabo über ihn denkt. Ich will aus seinem Mund hören, dass es nicht wahr ist. Er liebt mich doch, oder?«

Teriasch war sich nicht sicher, ob es das Leid oder die Hoffnung in Nescas Stimme war, die ihn schwer schlucken ließ. Und er schauderte, als er darin den Widerhall jener Worte zu hören glaubte, mit denen der Kala Hantumanas ihn so oft bedrängt hatte. Was geschieht, wenn Rukabo recht hat? Die Antwort überstieg seine Vorstellungskraft. Er war immer noch ein Fremder hier, ein Kind der Steppe, das nur darüber mutmaßen konnte, wie die Harten Menschen derlei Zwiste regelten. Trotz all der Schrecken und all der Wunder, die er in seiner Zeit unter diesen Leuten erlebt hatte, gaben sie ihm noch immer Rätsel auf – auch und gerade die von ihnen, die sein Herz gegen seinen Willen am tiefsten berührt hatten. »Du sprichst von diesem Mann, als wäre er dein Vater«, stellte er fest.

»Und?« Nescas Kopf zuckte zu ihm herum. Ihre Augen funkelten zornig. »Er mag nicht mein Vater sein, aber sehe ich ihn nicht viel öfter als den Mann, der mich gezeugt hat? Zeigt er mir nicht auch viel öfter, wie viel ich ihm bedeute? Höre ich von ihm nicht viel öfter freundliche Worte? War er nicht dabei, als ich in die Welt kam? Hielt er nicht die Hand meiner Mutter, als sie in den Wehen lag? Wozu macht ihn das?«

Teriasch schwieg. Vielleicht macht es das Verbrechen nur noch schändlicher …

»Setzt Euch aufs Bett, Hoheit!« Carda tätschelte Nescas Hals und zwang sie mit sanftem Druck nieder. »Ihr müsst erschöpft sein.«

»Ich …« Nesca blinzelte und begann, sich die Augen zu reiben. »Ich bin nicht müde.«

»Legt die Beine hoch, ja?« Carda ging vor ihr in die Hocke und umfasste behutsam ihre Fesseln. »So ist es gut, Hoheit.«

Nesca wischte mit schlaffem Arm zwei, drei störende Wälzer beiseite und angelte dann nach einem Kissen. »Warum kommt er nicht?«, wiederholte sie schläfrig ihre Frage, während sie sich um das Kissen herum zu einem Ball zusammenrollte.

»Ihr seid nicht die einzige Pupula, um die er sich zu sorgen hat.« Carda deckte ihre Gebieterin zu und streichelte ihr die Wange. »Ihr habt es doch selbst gesagt: Wie ich Eure Schwestern einschätze, hat sie der Anschlag im Bad noch schwerer erschüttert als Euch selbst. Und ich rede nicht nur von den beiden, die dabei gewesen sind. Ihr wisst, wie sie sind. Schreckhafte Hühner, die bei dem kleinsten Schatten, der auf sie fällt, flattern und gackern.« Der Tonfall der Scharlachroten Rose ähnelte immer mehr dem, mit dem Teriasch von Pukemasu als Kind getröstet worden war, wenn er wieder einmal von brennenden Pferden und dunklen Zelten geträumt hatte. »Und so kurz vor dem Thronbesteigungsfest hat er sicher viele andere Pflichten. Denkt daran, schon in wenigen Stunden wird der Nachthimmel von dem ersten Feuerwerk erhellt werden, das den Beginn der Feierlichkeiten einläutet. Bis dahin ist sicher noch viel zu tun. Er hat an der Lobesrede zu feilen, Speisen für Bankette vorzukosten, die Gesandten ferner Reiche zu begrüßen …« Cardas letzter Satz verklang in einem Flüstern.

Nescas Augen waren geschlossen, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte Teriasch leise.

»Du bist sehr aufmerksam.« Carda sprach laut und klar, als bestünde nicht die geringste Gefahr, Nesca aus ihrem Schlummer zu wecken. »Aber das habe ich nicht anders erwartet.«

Teriasch fiel eine Nacht vor einigen Monden ein, in der er schon einmal erlebt hatte, wie Menschen ruhig weiterschliefen, die eigentlich hätten erwachen müssen. In einem Zelt, in dem ein Geist der Geschichten eine Melodie auf seiner Laute gespielt hatte. »Hast du sie verzaubert? Womit?«

»Du traust mir zu viel zu. Ich habe sie nur mit dem Süßen Dorn gestochen.« Carda streckte die Hand aus. Auf der Kuppe ihres Mittelfingers balancierte sie eine feine Nadel, die kaum dicker als ein Haar aus der Mähne eines Pferdes war. »Meine Schwestern und ich verstehen nicht nur, mit groben Werkzeugen umzugehen.« Sie bewegte die Finger, und die Nadel war wieder verschwunden. »Wir wissen auch genau, an welchen Stellen man stechen muss, um keinen Schmerz zu verursachen.«

Ist sie eine Verräterin? Waren all die anderen Anschläge nur ein Spiel, eine Ablenkung? Teriasch spannte unwillkürlich die Beine an, als trieben ihn seine Instinkte dazu, sich auf die Ordenskriegerin zu stürzen. »Hast du sie vergiftet?«

»Für jemanden, der sie noch vor wenigen Tagen angeblich so sehr gehasst hat, bist du auffällig um das Wohlergehen Ihrer Hoheit besorgt«, befand Carda. »Aber nein, ich habe sie nicht vergiftet. Ich habe ihr nur Schlaf geschenkt, mehr nicht. Und die Unterstellung sei dir verziehen, weil du ein Barbar bist. Deinem fetten Freund hätte ich dafür die Zähne in den Hals geschlagen.« Die Zartheit, mit der sie Nesca eine rote Strähne aus der Stirn strich, spottete ihre harten Worte Lügen. »Es heißt, der Stich des Süßen Dorns erlaubt es einem, von dem zu träumen, was man sich am sehnlichsten wünscht. Sie träumt sicher von einer Welt, in der die Ordnung nicht aus den Fugen geraten ist. In der ihre Mutter noch lebt und ihr ihre Geschichten erzählt. In der sie nichts von Sklaven und Freien weiß, von Letzten Seufzern und falschen Häuptlingen.«

Teriasch suchte nach Wut in sich und fand nur Trauer. »Sie träumt also eine Lüge.«

»Mag sein.«

»So wie ihr waches Leben eine Lüge ist.« Er schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht dumm. Sie weiß, mit welchen Lügen sie lebt. Warum glaubt sie nur, ihre Mutter hätte ihre eigene Sippe verlassen und wäre von allein hierhergekommen?«

»Weil es der schönere Gedanke ist«, sagte Carda ruhig. »Der Gedanke, mit dem sich leben lässt. Ich habe ihre Mutter einmal gesehen, weißt du? Bei ihrem Vermählungsumzug. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Der Dominex hat sich viele Frauen genommen, aber diese war etwas Besonderes. Nicht weil er auf jede Straße und jede Gasse der Stadt Blüten streuen ließ. Nicht weil er ihr zuliebe hundert Feles und hundert Stiere opferte. Nicht einmal weil sie eine Barbarin war, denn damit war sie nicht allein. Nein …« Cardas Augen blickten durch Teriasch hindurch in eine ferne Vergangenheit. »Aber sie war die erste und einzige Wilde von der Steppe, der diese Ehre zuteilwurde, die erste Frau aus einem Pferdestamm. Sie war das Geschenk, das aus dem Lexis, der die Steppe für ihn zähmen sollte, den Pollox machte. Er hat sie ihm gebracht. Sie war strahlend schön. Es war Jahre, bevor ich Novizin wurde, die Jahre, in denen ich selbst noch Träumen nachhing, eines Tages an ihrer Stelle zu sein. Umjubelt, von allen geliebt, gehüllt in ein Kleid, dessen Schleppe so schwer vor Edelsteinen war, dass ein Dutzend starker Sklaven sie tragen musste. So stolz schritt sie seiner schwarzen Sänfte voran, so … entrückt. Sie war nicht würdevoll. Sie war die Würde selbst. Eine Hand auf ihrem Bauch, das Haupt erhoben, die Züge ungerührt, ein Fels, der dem Sturm stumm entgegnet: ›Wenn du nicht mehr bist, werde ich immer noch sein.‹« Carda fuhr sich langsam über den geschorenen Schädel. »Ich war damals noch zu jung, um zu begreifen, woher sie diese Kraft nahm. Ich konnte ihr Geheimnis nicht durchschauen. Das gelang mir erst, nachdem ich meine Schwüre geleistet hatte und erkannte, worauf ich damit alles verzichtete. Dabei war es so offensichtlich. Ihre Hand auf dem Bauch hat sie verraten. Sie hatte die Selbstvergessenheit einer Mutter, in der neues Leben heranwächst. Ein Leben, das für sie mehr zählt als ihr eigenes. Für das sie zu allem bereit ist. Bereit, jede Last auf sich zu nehmen. Sogar die, jenem Mann die Gattin zu sein, der der Mörder ihres Volkes ist.«

Teriasch beobachtete einen Moment lang die schlafende Nesca. »Warum sagst du ihr das alles nicht?«, fragte er dann schließlich.

»Es würde nichts ändern.« Carda zog vorsichtig Nescas Decke zurecht. »Alles, was ich dir erzählt habe, hat heute noch ungefähr so viel Belang wie das, was sie gerade träumt.«

Das stimmt nicht. Es muss etwas ändern. Weil es die Wahrheit ist. Teriasch stand auf und fing an, so ziellos durch das Zimmer zu wandern, wie Nesca es zuvor getan hatte. »Der Dominex weiß es doch sicher auch. Und er zieht sie trotzdem groß wie sein eigenes Kind?«

Carda machte eine wegwerfende Geste. »Eine Pupula mehr oder weniger …«

»Sie ist sogar seine Favoritin«, hielt Teriasch dagegen.

»Vielleicht gerade, weil sie nicht die Frucht seiner Lenden ist. Wer weiß schon, was im Kopf eines Mannes vor sich geht, der so alt ist wie der Dominex?« Sie erhob sich ebenfalls und gebot Teriaschs Schritten Einhalt, indem sie ihn fest an den Schultern packte. »Du wirst das alles für dich behalten, hörst du? Sonst …«

Teriasch schüttelte ihre Hände von sich ab. »Sonst tust du mir etwas Grauenhaftes an, ich weiß.«

»Ich will ihr nur unnötiges Leid ersparen.«

»Ich verstehe.«

»Oh, da war aber jemand sehr müde.« Rukabo war geräuschlos durch die Tür geschlüpft. Der Halbling war nicht länger nackt, sondern hatte sich mit einem neuen Satz der Kleidung eingedeckt, die man für Nescas Leibsklaven bereithielt. Er ahmte lässig einen Salut nach, als wäre er der kleinste Gardist, den Kalvakorum je gesehen hatte. »Melde gehorsamst: Auftrag ausgeführt.«

»Gut, dass du da bist«, begrüßte ihn Carda freundlich.

»Danke.« Rukabo kratzte sich am Hintern. »Moment. Da stimmt doch was nicht. Warum freust du dich so, mich zu sehen?«

»Weil ich noch einen Auftrag für dich habe, und weil …« Carda stutzte. »Warum sind deine Pfoten so rot wie Krebse?«

»Der Kater von Kalvakorum achtet eben auf Sauberkeit.« Rukabo schnupperte hastig an seinen Fingern. »Was gibt es daran auszusetzen?«

»Nichts. Hör zu.« Carda bugsierte den Halbling zum Bett. »Du bleibst hier und passt auf Ihre Hoheit auf. Niemand betritt diesen Raum. Wenn jemand kommt und klopft, sagst du, sie spielt mit einem ihrer anderen Sklaven das Spiel der Leiber und möchte nicht gestört werden.«

Rukabo grinste Teriasch an. »Dieser andere Sklave wärst dann wohl du.«

Teriasch lächelte betreten.

Rukabo kroch auf das Bett und roch an einem der Kissen. »Uh, Lavendel«, machte er. »Ob ich da die Augen offen halten kann?«

Carda zog ihn am Ohr. »Keine Faxen.«

»Au, au, au.« Rukabo schlug nach ihrer Hand, doch sie hatte ihn schon wieder losgelassen, ehe er sie treffen konnte. »Du bist ein garstiges Weib«, maulte er.

»Und du.« Carda zeigte auf Teriasch. »Du kommst mit mir.«

»Wohin?«

»Wir machen einen kleinen Spaziergang in den Herrschaftlichen Gärten.«

Die Rosenblüten erglühten im Licht der untergehenden Sonne. Vereinzelt summten die letzten mutigen Bienen durch die kleine Laube, die vom Boden bis zum Dach von kräftigen, dornigen Ranken umklammert war. Teriasch sog den Duft ein, der in ihr herrschte, und er kam ihm süß, kostbar und zerbrechlich vor. Er genoss das sanfte Flüstern des Windes, der die Blätter zittern machte. Seine Begleiterin hingegen schien völlig unempfindlich für die Reize dieses Ortes. Sie stand einfach nur da, als wollte sie die langen Schatten in diesem entlegenen Winkel der Herrschaftlichen Gärten mit düsteren Blicken vertreiben.

»Worauf warten wir?«, fragte er, als das Licht sein Rot mehr und mehr an das zögerliche Blau der jungen Nacht verloren hatte.

»Wir warten auf sie.«

Auf einem der beiden Wege, die zu der Laube führten, knirschten Schritte auf dem Kies. Carda wandte ihnen rasch den Rücken zu, während Teriasch interessiert Ausschau hielt, wer sich ihnen da näherte. Die kahlköpfige Frau mit dem kantigen Schädel behandelte Teriasch wie Luft, als sie in die Laube trat.

»Diantis«, sagte Carda, ohne sich zu ihrer Ordensschwester umzudrehen.

»Carda«, antwortete die Leibwächterin des Pollox und wandte nun ihrerseits der anderen Kriegerin den Rücken zu.

Ist das ein Ritual? Ein Duell? Tragen sie gleich einen Kampf aus, als Stellvertreter ihrer Schutzbefohlenen? Teriasch beschloss, dass es vorerst das Beste war, die Begegnung aufmerksam, aber schweigend zu verfolgen. Auch wenn ihn keine der Scharlachroten Rosen anblickte, plagte ihn dennoch das nagende Gefühl, unter genauer Beobachtung zu stehen. Aber von wem? Den Bienen? Den Büschen? Oder sind diese beiden Frauen nicht nur Kriegerinnen? Sind sie wie Schamaninnen, die an einen der besonderen Orte gekommen sind, an denen Geister zu ihnen sprechen? Er wünschte sich plötzlich, er hätte Schwarzschwinges Zahn griffbereit, doch die Waffe, die ihm der Drache gegeben hatte, lag sicher verwahrt unter seinem Bett. Ob es mir überhaupt erlaubt wäre, in einen Kampf einzugreifen?

»Die eine Rose hat darum gebeten, etwas über die Blüte der anderen zu erfahren«, sagte Diantis. »Aus welchem Grund?«

»Aus dem einzigen, der uns gestattet ist«, entgegnete Carda. »Die eine Rose fürchtet, die Blüte der anderen könnte ihrer eigenen die Sonne nehmen wollen.«

»Woher wehte der Wind, der diese Kunde trug?«, fragte Diantis.

»Von einem verstoßenen Gärtner«, antwortete Carda. »Und diese Rose hat …« Sie verstummte und sprach unvermittelt Teriasch an. »Sieh nach, was das war.«

»Was?« Teriasch sah sich erschrocken um. »Was meinst du?«

Carda zeigte auf den Ausgang der Laube. »Dort. Ein Rascheln. Hinter diesem Strauch.«

»Ich habe nichts gehört.«

»Das wilde Gewächs ist stumpfsinnig«, merkte Diantis an.

»Schau nach!«, verlangte Carda.

Teriasch rechnete mit allem, als er auf den Strauch zuschlich, auf den Carda gedeutet hatte. Mit einem Letzten Seufzer, der eine Arkakrux im Anschlag hatte. Mit einem von Rukabos neugierigen Verwandten. Mit einem Vogel oder einer Maus. Er lugte um den Strauch herum und fand – nichts! »Hier ist niemand.«

»Der Lauscher fürchtet wohl den scharlachroten Zorn«, sagte Diantis.

»Und er tut gut daran«, fügte Carda hinzu.

Diantis nahm den unterbrochenen Gesprächsfaden wieder auf, noch bevor Teriasch zurück in der Laube war. »Du sagtest, der einen Blüte würde durch die andere die Sonne genommen.«

»Die eine will die andere verdorrt sehen«, bekräftigte Carda ihren Verdacht.

»Der Wind ist rein. Meine Blüte will Dornen treiben sehen.«

»Vor denen ich meine Blüte schützen muss, auch wenn es die andere Rose trifft.«

Als Teriasch durchschaute, was die beiden Frauen da trieben, war sein guter Vorsatz vergessen. »Ihr redet über Nesca und den Pollox«, ächzte er. »Über eure Schutzbefohlenen. Wie könnt ihr das? Habt ihr ihnen nicht die Treue geschworen? Das ist Verrat!«

»Willst du es ihm mit Worten beibringen?«, fragte Diantis kühl. »Oder soll ich es ihm mit Fäusten erklären?«

»Unser Orden ist alt, Teriasch«, sagte Carda. »Viel älter als das Dominum. Sogar älter als die Städte, die der Subveheros zum Dominum vereinte. Für uns gelten eigene Gesetze, und sie werden noch gelten, wenn das Haus, in dem alle Häuser sind, nur noch Staub ist. Wir brechen unseren Eid nicht, wir erfüllen ihn. Wir schützen unsere Blüten. Niemand von uns fügt der Blüte des anderen Schaden zu. Doch unser Band als Schwestern gebietet uns einen ehrenhaften Umgang miteinander. Unser Orden wurde gegründet, um Leben zu bewahren, und nicht, es auszulöschen. Wir sind keine Letzten Seufzer, die für Blutgeld töten. Wir wandeln auf einem Pfad des Friedens, auch wenn wir Waffen führen. Jede Blüte, die vergeht, ist eine Blüte zu viel.«

»Das reicht«, schnarrte Diantis. »Wenn er es jetzt nicht verstanden hat, wird er es nie verstehen.«

»Gut.« Carda nickte. Sie straffte die Schultern. »Die eine Rose hofft, die andere hilft ihr, ihre Blüte zu bewahren.«

Einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen den Ordensschwestern.

»Meine Blüte fühlt sich auf dem Grund der alten Würmer zu wohl«, sagte Diantis schließlich. »Sie lauscht den letzten Worten der ersten Zunge. Manche Rose könnte ihre Wurzeln dorthin ausstrecken, um das Wasser der Erkenntnis zu ziehen.«

Teriasch hörte Carda scharf Atem holen. »Die eine Rose dankt der anderen.«

»Die eine Rose nimmt den Dank der anderen an«, erwiderte Diantis. »Eine Liebe, ein Blut, ein Schmerz.«

»Eine Liebe, ein Blut, ein Schmerz.« Carda trat aus der Laube in die Nacht hinaus.

Teriasch sah zu Diantis.

»Willst du ihr nicht nach?«, fragte sie ihn.

»Liebt er sie?«, fragte Teriasch zurück. In der Dunkelheit fiel es ihm schwer zu entscheiden, ob Verwunderung oder Ungehaltenheit auf den Zügen der Frau lag. »Liebt der Pollox Nesca?«

»Natürlich. Doch wie könnte für ihn die Liebe vor der Pflicht bestehen?«

Diantis verließ ihn ohne jedes weitere Wort, und für Teriasch gab es nicht den geringsten Zweifel mehr, dass die Harten Menschen ihr Handeln an Geboten ausrichteten, die nur von Geistern der Grausamkeit und des Wahnsinns stammen konnten.

Heldenzorn: Roman
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