24. Tank will es wissen
Nach ein paar Minuten konnten Dralle und Tank die lärmende Schlagermusik wieder besser hören. Der Schall drang zwischen den Häusern zu ihnen hindurch. Aber danach bewegte sich die Musikquelle nicht mehr.
"Sind das viele", stammelte Dralle erschüttert. Mit bleichem Gesicht wandte er sich vom Fenster und der davor vorbei ziehenden Zombiekarawane ab.
"Tank?" Der lehnte gedankenversunken bei der Tür an der Wand.
"Was machen wir jetzt?"
Tank ignorierte den Freund und eilte zur hinteren Terrassentür.
"Hilf mir, etwas zu überprüfen!", rief er aufgeregt.
Dralle war zwar ratlos, aber als Tank anfing, die Bettgestelle von der Tür weg zu zerren, packte er mit an.
"Was ist passiert?", wollte er wissen, wobei er Tank verständnislos anstarrte.
"Ich muss was überprüfen", war die lapidare Antwort des Freundes. Mit mächtigen Sätzen war er über die Terrasse in den Garten gesprungen.
"Was ist denn jetzt los?" Dralle schlich vorsichtig hinterher. Unterwegs schnappte er sich eine bereitstehende Harke.
"Dralle!" Tank tauchte hinter einem Strauch auf. "Die Zombies pilgern alle der Musik hinterher!"
"Ja, ich weiß. Und?", fragte Dralle begriffsstutzig.
"Hast du es denn immer noch nicht begriffen?"
"Was gibt´s denn da zu begreifen? Die Stinker laufen zu dem Lärm ..." Plötzlich stockte er.
Er rieb sich mit linkem Daumen und Zeigefinger seine Augen und verzog schmerzhaft das Gesicht. Die Erkenntnis tat anscheinend sehr weh. Mit einer mechanischen Bewegung setzte er die Harke ab, hob den rechten Zeigefinger in die Luft und stellte mit gepresster Stimme fest: "Langsam dämmert mir da was!" Und mit einem Mal war seine resignierte Melancholie, die er wie eine Fahne vor sich hergetragen hatte, wie weggeblasen.
"Komm!" Er rannte blitzartig zum Ende des Grundstücks hin zu der Stelle des Zaunes, an der sie ihn überstiegen hatten. Vorsichtig lugte er über die Abdeckung. Es war so, wie Tank es berichtet hatte, die meisten Zombies waren der Musik gefolgt. Der Hinterhof des Hotels leerte sich zusehends. Wer nicht schnell genug herauskam, wurde niedergedrückt, zur Seite gestoßen oder zertrampelt. Zimperlich gingen die Untoten mit- und untereinander nicht um.
Dralle fuchtelte erleichtert mit beiden Armen in der Luft herum. "Dann war das kein Selbstmord?" Er grinste als wäre Weihnachten und sein Geburtstag auf einen Tag gefallen.
Tank nickte. "Das war eine Rettungsaktion!"
Dralle drehte sich um und fixierte das Hotel. "Der hat doch nicht mehr alle Knöpfe am Wams!"
"Warten wir´s mal ab", beschwichtigte Tank. Er beobachtete ebenfalls die Rückfront; dort drängten sich Zombies vom Balkon im Erdgeschoss, fielen in die Tiefe. Manche von ihnen blieben liegen, andere krochen oder standen unversehrt wieder auf. Selbst total verstümmelte Untote drängten kriechend der magischen Schlager-Musik hinterher.
Schon bald waren die meisten Untoten aus dem Hotel und dem Hinterhof verschwunden. Nur die Gelähmten oder die ganz Desolaten blieben zurück.
Vielstimmiges Gestöhne und Geächze drang von der Straße zu Tank und Dralle.
Tank kletterte auf einen Stuhl und lugte über den Zaun hinab in den Hinterhof. Dort lagen etliche Körper auf dem Boden, viele davon bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Ein paar hatten noch immer untotes Leben in sich und bewegten sich zuckend mit der Musik oder wollten zu ihr hin.
"Sauber. Bis auf ein paar Nachzügler und Gelähmte." Gemächlich kletterte er über den Zaun. Zischend und stöhnend begrüßten ihn die verstümmelten und fast bewegungsunfähigen Zombies. Einer von ihnen packte Tank am Bein und zog sich schwer ächzend in Position, um zuzubeißen. Tank erledigte ihn mit ruhiger Hand.
"Sei vorsichtig!", quietschte Dralle zwischen den Fasern der Zaunabdeckung hindurch.
Das Podest aus Tischen und Stühlen war durch das Gedränge der Untoten komplett in sich zusammengefallen. Die Masse der Leiber hatte die Möbel teilweise zerbrochen und verschoben. Tank hievte den übrig gebliebenen Tisch unter ihren Fluchtbalkon. Ein paar Zombies bemerkten die neue Aktivität im Hof und krochen gierig hinterher. Tank ignorierte sie und kletterte auf den Tisch. Nun konnte er ohne große Probleme die Balkonbrüstung erreichen.
Mit gezücktem Messer betrat er das Zimmer und blieb schockiert stehen. Die Wände, der Boden, die Möbel und teilweise sogar die Decke waren mit undefinierbarem braungelbgrünem ekelerregenden Matsch beschmiert. Der Gestank war unbeschreiblich. Tank taumelte ein paar Schritte zurück wieder auf den Balkon hinaus.
"Was ist los?", fragte Dralle besorgt.
"Nichts. Alles in Ordnung", antwortete Tank würgend. Er atmete ein paar Mal die halbwegs reine Luft draußen ein, bevor er mit weit geöffnetem Mund und großen Schritten in das Zimmer stürmte. Die Tür war aus den Angeln gerissen und hing nur noch an einem Scharnier. Er stapfte wie betäubt durch die widerlichen Hinterlassenschaften der Zombies.
Auf dem Hotelflur sah es nicht anders aus. Der ganze Weg bis zum Eingang erweckte den Eindruck, als ob eine riesige Schnecke entlang geschleimt war. Kurz blieb er stehen, um sich zu orientieren. Er erinnerte sich, dass sich das Treppenhaus unweit des Empfangsbereichs befand. Mit angespannten Sinnen machte er sich auf den Weg, denn hier konnten immer noch Nachzügler lauern.
Unangefochten, aber beschmutzt, erreichte er die Tür zum Treppenhaus. Die Musik hatte anscheinend doch alle Zombies aus dem Hotel gelockt. Harros Musikbox war gut platziert; man konnte den König von Mallorca bis hierher hören.
Harro, du Teufelskerl! Hoffentlich schaffst du es zurück!
Langsam trat er an das kleine Fenster der Tür, um zu sehen, wie viele Zombies innen lauerten. Als sie gestern geflohen waren, kamen welche aus den oberen Stockwerken herunter. Und da standen sie; unbeteiligt, bewegungslos und mit hängenden Köpfen. Es war etwa ein halbes Dutzend. Zu riskant, um ungeschoren durchzukommen.
Er musste sich etwas einfallen lassen.
Irgendwann hatte Tank dann die Erleuchtung. Er fragte sich, warum ihm das nicht früher eingefallen war. Kopfschüttelnd zog er die Tür bis zur Wand hin auf und versteckte sich dahinter. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis die Zombies die Veränderung wahrnahmen. Die Musik drang nun ungehindert an ihre verfaulenden Ohren. Tank sah sie nicht, konnte sie jedoch hören. Sie fingen an, zu stöhnen und zu fauchen. Dann vernahm er tapsende unbeholfene Schritte. Der erste Untote in Shorts und T-Shirt schlurfte mit ausgestreckten Armen an ihm vorbei. Als die Sechs durch die zerbrochene Eingangstür des Hotels wankten und humpelten, wagte er ein bescheidenes Aufatmen. Das war nochmal gut gegangen. Langsam schob er die Tür auf und sah noch, wie die Gruppe die Einfahrt hinunter wackelte.
"Ciao, ihr Loser", sagte er und winkte ihnen hinterher. Dann machte er sich auf den Weg hinauf.
Im ersten Stock angekommen, postierte er sich wieder vor das kleine Sichtfenster an der Tür. Er musste sicherstellen, dass der Bereich dahinter frei von Zombies war.
Auf den ersten Blick wirkte der Gang verlassen, aber er wusste, dass der Eindruck täuschen und die Lage sehr schnell lebensgefährlich werden konnte. Langsam drückte er die Klinke nieder und zog die Tür auf.
Mit aller Vorsicht machte er sich auf die Suche nach den Verschollenen im Hotel.