18. Totentanz
Dralle hatte meine Wunden vorzüglich versorgt, als ob er das gelernt hätte. Nun aber ging er wieder im Wohn-Esszimmer-Bereich hin und her und auf und ab. In der öden Stimmung war mit ihm nichts anzufangen.
"Was machen wir jetzt bloß?", murmelte er fast ständig vor sich hin. Manchmal auch: "Wie kommen wir hier nur heil raus?", "Wo bleibt die Armee?" oder "Wir müssen zum Konsulat!"
Tank und ich kannten unseren Pappenheimer. Wir kümmerten uns nicht weiter um ihn und seinen Ausraster. Der würde irgendwann wieder zur Vernunft kommen. So war das schon immer gewesen. Im Stress reagierte Dralle etwas eigenartig. Er neigte dann zu sehr emotionellen, bisweilen geradezu paranoiden Reaktionen. Aber bisher klangen diese Anfälle meistens sehr schnell wieder ab. Also ignorierten wir ihn bestmöglich und machten uns über die mitgebrachten Süßigkeiten her.
Wir waren übereingekommen, dass wir in der Sicherheit des Hauses wenigstens einen Tag auf Schrippe und Karen warten wollten. Der Weg zurück ins Hotel war von Stinkern blockiert. Alles war mit ihnen verseucht und immer noch rappelten vereinzelte Zombies hinten am Zaun herum oder welche wurden von Kollegen dagegen gedrängt beziehungsweise gequetscht. Unaufhörliches Stöhnen, Ächzen, Schnarren und andere widerliche Zombiegeräusche erfüllten die Luft. Mittlerweile hatte ich mich so an die Geräuschkulisse gewöhnt, dass ich sie nur noch als Hintergrundrauschen wahrnahm. Das gehörte jetzt wohl zur neuen Weltordnung. Kein Vogelgezwitscher und Metropolenlärm erfüllte die Luft, sondern widerliche Stinkerlaute.
Dennoch blieben wir wachsam. Wenigstens Tank und ich. Dralle war ja mit seiner Grübelei und der Wanderung beschäftigt.
"Kannst du mir noch mal dein Smartphone leihen?", fragte ich Tank in der Hoffnung, ich könnte meine Freundin doch noch erreichen.
"Kein Netz", sagte der lapidar. "Hab´s selber schon ein paar Mal versucht. Ich habe auch Familie in Deutschland. Meine Frau ..." Er brach ab und ging mit gebeugten Schultern in die Küche.
"Tank ...", sagte ich betroffen. Ich stopfte mir einen spanischen Schokoriegel in den Mund und musste würgen, weil der so verdammt süß war.
Minuten wurden zu Stunden, der Morgen zum Tag, aber nichts geschah. Die Untoten veranstalteten weiterhin ihr Stand-In hinter dem Hotel. Von Schrippe und Karen fehlte immer noch jedes Lebenszeichen.
Tank blies in der Küche Trübsal. Und ich? Ich saß frustriert am Esstisch, schob die Süßigkeiten hin und her und schaute Dralle bei seiner Wanderschaft zu. Mittlerweile hatte er bestimmt schon mehrere Kilometer hinter sich.
Was sind wir bloß für eine jämmerliche Bande, dachte ich.
"Ist das anstrengend!", jammerte Dralle. Ganz plötzlich stoppte er seinen Rundgang und ließ sich in einen der abgewetzten Ledersessel plumpsen.
"Was?", fragte ich desinteressiert.
"Herumlaufen!"
"Dann lass es doch, du Idiot!"
"Schon dabei. Wirf mir mal was zu essen rüber!", sagte er und hob beide Hände.
Den Gefallen tat ich ihm gern. Ich warf ihm zwei Schokoriegel und eine Chipstüte an den Kopf.
"He!", rief er und lachte. "Wasser hol´ ich mir lieber selber!"
"Geht´s wieder?", fragte ich und war froh, dass er sich wieder gefangen hatte.
"Ging nie besser!", scherzte er mampfend. Er kam an den Tisch und langte nach einer Flasche Limo. "Das hat mir gefehlt. Ich bin völlig unterzuckert."
Mit einem Zug hatte er die kleine Halbliterflasche geleert. "Bah. Süß!"
"Ich geh´ mal nach oben und schau´ mir die Gegend an." Ich packte meinen Unkrautstecher, der eine richtig fiese Waffe sein konnte. Damit winkte ich ihm zu und stieg in den ersten Stock. Das Schlafzimmer hatte einen kleinen Balkon; darauf konnte ich die Rückfront des Hotels ganz gut beobachten, ohne von den Zombies gesehen zu werden.
So leise wie möglich schob ich einen Campingstuhl so hin, dass ich einen guten Überblick hatte. Vielleicht zeigten sich Schrippe und Karen ja irgendwann. Hoffentlich!
Die Untoten wimmelten überall herum. Sie drängten, schoben und drückten einander im Erdgeschoss und im Hinterhof. Es war wie eine undurchdringliche Mauer aus totem Fleisch.
Jetzt eine Handgranate, dachte ich sarkastisch. Und wumm! Wär´ das eine Sauerei.
Die Zombies bewegten sich wie seichter Wellengang hin und her oder wie Gras, durch das eine sanfte Brise bläst. Sie hatten kaum Bewegungsfreiheit, und immer wieder fielen welche über den Balkon, die von den Nachrückenden gegen die Brüstung gedrückt wurden.
Wenn es ein Film wäre, würde ich mich kaputt lachen. So viel Tollpatschigkeit ging auf keine Kuhhaut. Zombies sind strunzdumm. Die haben nur eins im Sinn ...
Tank schob sich auf den Balkon und pflanzte sich neben mich.
"Sorry", versuchte ich eine Entschuldigung.
"Schon gut."
Ich wusste, wie er sich fühlen musste, daher legte ich ihm meine Hand beruhigend auf den Arm. Das Tätscheln ließ ich aber bleiben.
"Ich weiß, wie es dir geht", sagte ich nur. Entweder hatte man Einfühlungsvermögen oder man hatte es nicht.
"Wir müssen endlich hier weg."
"Schrippe und Karen sind noch da drin."
"Wenn es sie nicht schon erwischt hat." Tank blickte finster drein.
"Ist schon möglich. Aber ebenso gut könnten sie da oben festsitzen."
"Vor dem Haus lungern nur ein paar Stinker herum. Wenn wir schnell sind, kommen wir an denen vorbei", schlug er vor. "Wir brauchen Wasser und Proviant." Er machte eine Pause. "Und Waffen!"
Ich nickte. Das war mir bewusst. Nur mit Süßigkeiten kommen wir nicht weit.
"Du hast recht. Ein Auto wäre auch nicht schlecht."
Tank faltete seine großen Hände und bewegte sie vor und zurück, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. "Zuerst müssen wir aus Arenal raus. Vielleicht finden wir unterwegs Möglichkeiten, Proviant und Wasser zu sammeln."
"Wir wissen nicht mal, wo dieser Scheißflughafen überhaupt ist und wie man dahin kommt." Resigniert warf ich meine Hände in die Höhe und ließ sie theatralisch wieder in meinen Schoß sinken.
"Das wird sich schon finden. Erst mal raus aus Arenal. Hier sind einfach zu viele Zombies unterwegs." Tank hatte seine beruhigende Gelassenheit zurückgewonnen. Manche Leute hielten ihn im ersten Moment für gleichgültig, bis sie ihn näher kennenlernten. Er war alles andere als gleichgültig. Auch da täuschte sein riesenhaftes Äußeres.
"Wenn wir uns immer in Richtung Palma halten, müssen wir zwangsläufig am Flughafen vorbei kommen."
Da musste ich ihm recht geben. Ich nickte und beobachtete dabei das muntere Treiben der Stinker. Sie bewegten sich langsam, aber wie unter einer für uns nicht hörbaren Musik. Es war wie ein seltsamer, sehr bizarrer Tanz. Ein Totentanz.