14. Was bringt der neue Tag?

 

Ich schreckte auf.

"Ah!", schrie ich kurz auf. "Was?" Dann kamen die Erinnerungen wieder. Alle!

Ich setzte mich auf, fluchte leise, wischte mir wie abwesend die Restbenommenheit aus dem Gesicht. Die anderen schliefen alle noch; bis auf Tank.

"Warum hast du mich nicht geweckt?", fragte ich vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd.

Tank grinste nur. "Keine Sorge, ich habe auch ein paar Minuten geschlafen."

Karen regte sich. "Wo bin ich? Was ist passiert? Mein Kopf ..." Sie fasste sich an die Stirn und stöhnte mit verzerrtem Gesicht: "Oh, Gott. Nie wieder ..."

Mit einem letzten Schnarcher schreckte Schrippe auf. "Was?" Er schüttelte heftig den Kopf und wälzte sich herum.

"Schrippe?" Karens Stimme wurde leiser, weinerlicher.

Nun regte sich selbst Dralle. Er stöhnte leise, langte nach seinem Rucksack und holte mit sicherer Hand seine Schmerztabletten hervor.

"Hier", sagte er, gähnte herzhaft und reichte Karen eine davon.

"Wer sind die alle? Was machen wir hier? Schrippe?" Es klang eine Spur hysterischer.

"Beruhige dich, ich bin hier. Alles in Ordnung." Er nahm die Tablette entgegen und hielt sie Karen hin. "Da steht Wasser neben dir."

"Kann mir mal einer ...", fing sie wieder an zu zetern.

Schrippe drückte ihr Wasser und Tablette in die Hand und sagte in einem beruhigenden Tonfall: "Nimm erst mal das hier, dann erklär´ ich dir alles, ok?"

Sie blickte ihn zweifelnd an, nickte dann aber und schluckte die Pille.

Schrippe legte sich zu ihr aufs Bett, nahm sie dann zärtlich in die Arme.

"Das sind nur Freunde", flüsterte er gurrend. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

Jetzt wird´s eng, dachte ich und winkte Dralle und Tank. Wir gingen nacheinander auf den kleinen Balkon. Tank klappte die Stühle und den Tisch zusammen und stapelte sie in der Ecke rechts neben der Tür.

"Auf dem Nachbargrundstück scheint alles ruhig zu sein. Ich seh´ jedenfalls keines von den Dingern." Dralle beugte sich gefährlich weit nach vorne. Er spähte nach allen Seiten, begutachtete den Hof gegenüber ganz genau.

Durch eine ins Kraut geschossene und anscheinend schon lange nicht mehr gestutzte immergrüne Hecke gab es leider keine komplett freie Sicht hinüber. Auch die Palmen und andere Hecken und Sträucher waren offensichtlich lange vernachlässigt worden.

"Ich nehme an, das Haus steht schon ewig leer. Vielleicht haben wir Glück und keines von den Dingern streunt da drüben herum", referierte ich mit verschränkten Armen.

Dralle fuhr sich durch seine kurzen Haare, sah mich dabei auffordernd an.

Doch bevor er etwas sagen konnte, schrie Karen aufgebracht: "Du Arschloch!"

Sie war aufgesprungen und blickte sich gehetzt um."Wo sind meine Sachen!", schrie sie wieder.

"Beruhige dich ..." Schrippe wirkte hochgradig nervös.

Das brauchen wir wie einen Kropf! Die hetzt uns noch die Zombie-Kavallerie auf den Hals!

Zu Tank und Dralle gewandt, sagte ich leicht verärgert: "Könnt´ ihr schon mal anfangen, die Möbel zu stapeln? Ich kümmere mich um Karen. Die schreit uns noch die ganze Gegend auf den Hals!"

Dralle winkte großmütig ab, gab den lapidaren Kommentar: "Sicher. Kriegen wir schon hin. Geh´ nur."

Damit schwang er sich auf die Brüstung und ließ sich ohne weiteres Aufhebens auf den Balkon darunter fallen.

"Alles Roger", drang es leise von unten herauf.

Ich betrat das Zimmer und sah, wie Karen sich an der Tür zu schaffen machte.

"Halt!" Meine Stimme sollte kalt und Respekt einflößend klingen. Karen zuckte zusammen. Sie drehte sich zu mir um.

"Du darfst da nicht raus gehen!" Meine gesamte Überzeugungskraft packte ich in diesen einen Satz.

"Und warum nicht? Sind da draußen Zombies? Dass ich nicht lache!", ätzte sie giftig. Sie ließ mich stehen und rappelte wieder an der Tür.

"Ich muss hier raus!", schrie sie hysterisch.

Schrippe war mit ein paar schnellen Schritten bei ihr. Sanft, wie ich es nicht von ihm kannte, zog er sie von der Tür weg.

"Was wollt ihr von mir?" Ihre Stimme zitterte.

"Glaub´ mir, da draußen willst du nicht sein." Schrippe führte sie zum Bett zurück.

"Du musst dich zusammenreißen."

"Aber, Zombies ...", fing sie wieder an.

"... gibt es", bestätigte Schrippe voller Ernst.

Ich verdrehte kurz die Augen, dann machte ich mich leise davon. Dralle und Tank stapelten gerade massive Holz-Terrassenmöbel aufeinander. Mehrere Stühle standen bereits auf zwei Tischen. Das sah so aus, als könnte man bequem über den Zaun klettern. Tank wuchtete einen der Tische über den Zaun. So war es uns später möglich, leichter auf der anderen Seite hinunterzusteigen.

"Super!"

"Kannst du meinen Rucksack mitbringen, Harro?", bat Dralle von unten.

"Klar. Tank, brauchst du noch was?" Tanks Kopf erschien auf der anderen Seite des Zauns. Er winkte, tauchte aber sofort wieder ab. Wie ich ihn kannte, würde er die Lage auf dem Nachbargrundstück auskundschaften.

Ich trat ins Zimmer, um Schrippe und Karen abzuholen. Offensichtlich hatte sich Karen wieder halbwegs beruhigt. Sie packte mit Schrippe Wasser und Süßigkeiten in einen Rucksack, den sie vermutlich bei den Sachen gefunden hatten.

"Wir müssen los", sagte ich.

"Moment. Noch das und das und das. Wir sind gleich so weit." Schrippe räumte schnell den Rest des Tisches ab. Dann verschloss er den Rucksack sorgfältig und warf ihn sich lässig über die Schulter.

"Bei solchen Katastrophen ist die Versorgung immer das größte Problem", sagte er.

"Bei solchen Katastrophen ...?", echote Karen.

"In den Zombie-Filmen sind die Überlebenden immer auf der Suche nach Lebensmitteln", dozierte Prof. Dr. Schrippe weiter.

"Mann, du kannst vielleicht einen Scheiß daherreden ...", grinste ich humorlos und winkte den beiden ungeduldig.

"Warum bleiben wir nicht hier, wenn doch alles voller Zombies ist?", fragte Karen mit bleichem Gesicht.

"Das hatten wir alles schon. Die Tür da unten hält garantiert nicht mehr lange. Dann strömen die Zombies in Massen herein und stehen bald hier vor der Tür. Wenn wir also bleiben, sind wir so gut wie tot. Abgesehen davon: Von den Süßigkeiten können wir nicht lange überleben." Langsam wurde ich immer gereizter. Das Mädel ging mir zunehmend auf die Nerven.

Immer in Bewegung bleiben und eine Fluchtmöglichkeit suchen, so lautete die Devise heutzutage.

"Aber, wenn du hierbleiben willst ...", sagte ich schulterzuckend. Dann ließ ich die beiden stehen, suchte Dralles Rucksack zusammen und machte mich auf den Weg. Ich war zwar kein Kletterass, aber den Balkon schaffte ich dennoch, wenn auch mit schlechten Haltungsnoten. Als ich unten ankam, rief ich nach oben: "Ihr könnt kommen!"

Schrippe beugte sich vor und reichte mir den prallen Vorratsrucksack. Nach kurzem Zögern kletterte er über die Brüstung, dann stieg er wesentlich gekonnter als ich zu mir herunter.

"Karen", rief er nach oben. "Karen?" Doch die Frau blieb verschwunden.

"Was zum ..." Ratlos blickte er zu mir und dann wieder hoch.

"Wo bleibt sie? Karen!"

Das war´s dann. Ich verschränkte meine Arme und lehnte mich breitbeinig an die Brüstung. Das hätte ich eigentlich kommen sehen müssen. Die war so durcheinander und glaubte uns kein Wort. Zombies auf Mallorca. Ich würde den Scheiß auch nicht glauben.

Hoffentlich macht sie keine Dummheiten. Dann fasste ich einen Entschluss.

"Schrippe, geh´ sie suchen. Du musst sie finden; sie bringt sich und uns in Teufels Küche!"

Ich faltete meine Hände ineinander und bedeutete ihm, die Räuberleiter zu benutzen.

"Wir warten auf der anderen Seite." Ich zeigte mit dem Kopf zum Nachbargrundstück hinüber.

"Ok", sagte er nur. Im Nu kletterte er an mir hoch. Oben angekommen winkte er mir kurz zu und verschwand aus meinem Blickfeld.

Ich hoffe, er findet sie - schnell!

"Das habe ich mir fast gedacht, dass wir mit der noch Scherereien kriegen", bemerkte Dralle sarkastisch. Augenzwinkernd beugte er sich zu mir herüber.

"Trotz allem können wir sie nicht einfach zurücklassen!", sagte ich reserviert. Leicht verärgert reichte ich ihm die Rucksäcke.

Dralle schwieg, als er seine Habseligkeiten und die Vorräte in Empfang nahm. Ich schwang mich auf die Brüstung. Ein letzter Blick zurück, aber weder Schrippe noch Karen tauchten oben auf.

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr. Ich erschrak, als eine blutige Hand gegen die Scheibe der Balkontür schlug. Unbewusst wich ich zurück, verlor dabei mein Gleichgewicht und kippte nach hinten. Ich griff Halt suchend um mich, wedelte wild mit den Armen, aber es half alles nichts. Ich fiel, krachte dann schwer auf den Tisch, etwa einen Meter zwanzig unter mir. Der harte und überraschende Aufprall presste mir mit Gewalt die Luft aus den Lungen. Höllische Schmerzen fuhren mir durch Schultern und Rückgrat.

"Scheiße!", schrie ich mit versagender Stimme.

Da zerbrach über mir Glas mit einem explosionsartigen Knall. Ich zuckte vor Schreck zusammen und vergaß für den Moment meine Lage. Dennoch konnte ich gerade noch meine Arme hochreißen, als die Scherben auf mich niederprasselten, mich in Arme und Beine schnitten. Einer Flutwelle gleich, ergossen sich Zombies auf den Balkon, drückten die Vordersten an die Brüstung, manche davon sofort darüber hinweg. Fauchend und zischend fielen die Ersten herab. Zwei zeternde Untote prallten hart auf mich. Die Körper quetschten meiner Lunge erneut die Luft heraus. Mir wurde schwarz vor den Augen, sodass ich gerade noch wie in einem Nebel sehen konnte, wie Tank herbei sprang. Er kam wie eine Urgewalt unter sie. Mit einem großen Spaten griff er die Dinger an. Er ging nicht gerade zimperlich mit ihnen um.

Die beiden Untoten stieß er mit gespaltenen Schädeln vom Tisch. Dann drosch er mit aller Kraft auf die anderen herankriechenden Zombies ein. Mein Bewusstsein war in einer nicht ganz eindeutigen Art weggetreten. Ich bekam alles nur am Rande mit und war eigenartig distanziert, als ob ich einen schlechten Zombie-Film mit schlechtem Ton anschauen würde.

Plötzlich packte Dralle fest zu und zog mich aus der Gefahrenzone. Unerschrocken wehrte er Hände und sogar schnappende Kiefer ab. Heldenhaft, dachte ich weiterhin seltsam distanziert.

Nur langsam kam ich wieder zu mir. Die Schmerzen holten mich stückweise in die Realität zurück. Als ich wieder halbwegs klar war, merkte ich, wie ich schrie und wie ein Verrückter, strampelte, wobei ich immer wieder Untote am Kopf, im Gesicht oder am Kiefer erwischte.

Dralle half mir beim Aufstehen. Ich stützte mich schwer auf ihn. Er schob mich Richtung Zaun. Umständlich und die heftigen Schmerzen verbeißend stieg ich hinüber. Dralle folgte schnell mit bewundernswerter Leichtigkeit.

"Tank, wir sind in Sicherheit!", rief er.

"Ist gut." Wusch, hörte ich den Spaten durch die Luft zischen und dann mit Krachen in Schädel eindringen oder Knochen brechend auf Köpfe einschlagen. Es waren aber zu viele. Dann hörte ich es laut poltern, so als ob die Möbelpyramide zusammenbrach. Hoffentlich passiert Tank nichts, dachte ich und rappelte mich auf, die Schmerzen am Rücken und in den Schnittwunden unterdrückend.

Ich spähte über den Zaun und sah, dass das Möbelgebilde wahrhaftig umgefallen war und wie Tank behände Tische und Stühle zu einer Barriere zusammenschob. Die Tischfläche blockierte nun den schmalen Durchlass und hielt die Untoten davon ab sich auf ihn zu stürzen. Nun konnte er in Ruhe zu uns herüber kommen. Die Zombies waren darüber nicht sehr erfreut. Sie geiferten, fuchtelten und rappelten mit ihren zum Teil hanebüchen zugerichteten Armen an der Tischmauer herum, zischten, knurrten und stöhnten schrecklich dabei.

Widerlich.

"Tank, beeil´ dich!", rief Dralle entsetzt. Die lebenden Toten schoben durch ihre schiere Masse die Möbel langsam vor sich her. Tank wich weiter zurück, stieg auf einen Stuhl und packte den Zaun.

Da kippte das Möbelprovisorium um und die Zombies fielen, stiegen und krochen übereinander und über die umgefallenen Stühle und Tische hinweg.

Tank erschrak. Er verlor den Halt, als ein Zombie gegen ihn fiel. Verfaulte Zähne schlugen aufeinander und schlaffe, verrottete Arme reckten sich ihm entgegen.