13
Unter vier Augen
»So hast du also meinen Dad kennengelernt?«, sagte ich. »Du hast ihn in einem Pub aufgelesen?«
»Das kann man so sagen.« Meine Mutter seufzte und wirkte ein wenig abwesend, vermutlich, weil sie daran zurückdachte. »Ich war auf der Suche nach dem Richtigen – schon seit Tagen –, und dann sah ich ihn. So, wie er nach innen lachte. Da wusste ich sofort Bescheid.«
»Es war also keine Berechnung?«
Sie bekam ihren harten Blick – wie immer, wenn ich aus der Reihe tanzte, wenn ich ihr gar zu vorwitzig wurde.
»Ich habe deinen Vater geliebt«, sagte sie leise. »Er hat mich gerettet.«
»Tut mir leid«, erwiderte ich matt. Ich schämte mich ein wenig und schob alles auf den Kater: Noch immer musste ich für Hamids Abschiedsparty büßen. Ich fühlte mich schlapp und konnte keinen klaren Gedanken fassen, mein Mund war trocken, mein Körper verlangte nach Wasser, mein anfangs »milder« Kopfschmerz hatte sich zur Kategorie »hartnäckig/pochend« weiterentwickelt.
Der Rest der Geschichte war schnell erzählt. Nach der Begegnung im Heart of Oak hatte es noch ein paar Rendezvous gegeben – Einladungen zum Essen, einen Tanzabend in der Botschaft, einen Kinobesuch –, und sie merkten, dass sie sich langsam, aber sicher näherkamen. Sean Gilmartin konnte ihr dank seiner diplomatischen Kontakte die Wege ebnen, als es darum ging, einen Pass und andere Papiere für Sally Fairchild zu beschaffen. Im März 1942 fuhren sie nach Dublin, wo er sie seinen Eltern vorstellte, und zwei Monate später heirateten sie in St. Saviour’s an der Duncannon Street. Aus Eva Delektorskaja war Sally Fairchild geworden, aus Sally Fairchild Sally Gilmartin, und seitdem wusste sie, dass sie in Sicherheit war. Nach dem Krieg ging Sean Gilmartin mit seiner jungen Frau zurück nach England und trat einer Anwaltskanzlei in Banbury, Oxfordshire, als Juniorpartner bei. Die Kanzlei prosperierte, Sean Gilmartin wurde Seniorpartner, und 1949 bekamen sie ein Kind, ein Mädchen, das sie Ruth nannten.
»Und du hast nie wieder etwas gehört?«
»Nichts, keinen Ton. Ich war ihnen völlig entkommen – bis jetzt.«
»Was ist aus Alfie Blytheswood geworden?«
»1957 gestorben. Am Schlaganfall, glaube ich.«
»Wirklich?«
»Ich glaube, schon. Der Abstand war zu groß.«
»Gab es noch Probleme mit der Fairchild-Identität?«
»Ich wohnte als Ehefrau in Dublin – als Mrs Sean Gilmartin –, ein völlig neues Leben, eine völlig neue Umgebung; niemand wusste, was Sally Fairchild zugestoßen war.« Sie schwieg und lächelte, als würde sie die vielen Identitäten, die sie durchlebt hatte, Revue passieren lassen.
»Was ist aus deinem Vater geworden?«, fragte ich.
»Er ist 1944 gestorben, in Bordeaux. Ich bat Sean, ihn über die Londoner Botschaft suchen zu lassen, nach dem Krieg – er sei ein alter Freund der Familie, behauptete ich.« Sie spitzte die Lippen. »So oder so. Ich hätte ihn doch nicht besuchen können. Auch Irène habe ich nicht wiedergesehen. Es wäre zu riskant gewesen.« Sie blickte auf. »Was treibt denn der Junge da?«
»Jochen! Lass ihn in Ruhe!«, schrie ich. Unter dem Lorbeerstrauch hatte er einen Igel aufgespürt. »Die sind voller Flöhe.«
»Was sind denn Flöhe?«, rief er und ging dann doch auf Distanz zu der stachligen Kugel.
»Grässliche Insekten, die dich am ganzen Körper stechen.«
»Und ich will, dass er in meinem Garten bleibt!«, schrie meine Mutter nun auch. »Er vertilgt die Schnecken.«
Angesichts unserer vereinten Ermahnungen vergrößerte Jochen seinen Abstand, hockte sich hin und schaute zu, wie sich der Igel vorsichtig entrollte. Es war Samstagabend, und die Sonne versank in dem nun schon gewohnten staubigen Dunst, der in diesem endlosen Sommer an die Stelle der Dämmerung trat. Im sattgoldenen Abendlicht wirkte die Wiese vorm Witch Wood wie ausgeblichen, wie ein mattes, verwaschenes Blond.
»Hast du vielleicht ein Bier?«, fragte ich. Plötzlich brauchte ich dringend einen Katertrunk.
»Da musst du in den Laden gehen … Der schon geschlossen ist«, ergänzte sie mit einem Blick auf die Uhr. Sie schaute mich prüfend an. »Du siehst ja ziemlich mitgenommen aus, muss ich sagen. Hast du dich betrunken?«
»Die Party ging ein bisschen länger, als ich dachte.«
»Ich glaube, ich hab irgendwo eine alte Flasche Whisky.«
»Au ja«, sagte ich und lebte schon ein wenig auf. »Vielleicht einen kleinen Whisky mit Wasser. Mit viel Wasser«, präzisierte ich, als würde das mein Verlangen harmloser erscheinen lassen.
Also brachte mir meine Mutter ein großes Glas blassgoldenen Whisky mit Wasser, und während ich daran nippte, wurde mir fast augenblicklich besser – die Kopfschmerzen blieben, aber ich fühlte mich weniger gebeutelt und gereizt und nahm mir vor, für den Rest des Tages besonders nett zu Jochen zu sein. Und beim Trinken dachte ich, welch verblüffende Wendungen das Leben doch bot – es konnte die Dinge so arrangieren, dass ich jetzt hier in einem Cottage-Garten von Oxfordshire saß, an einem heißen Sommerabend, während mein Sohn einen Igel ärgerte und meine Mutter mir Whisky brachte – diese Frau, meine Mutter, die ich offensichtlich kaum gekannt hatte, die in Russland geboren war, als britische Agentin 1941 in New Mexico einen Mann umgebracht hatte, zum Flüchtling wurde und mir, eine Generation später, schließlich ihre Geschichte erzählte. Das zeigte einem doch … Mein Kopf war zu durcheinander, um den großen Zusammenhang zu erfassen, in den sich die Geschichte der Eva Delektorskaja einfügte; ich konnte höchstens die Einzelteile aufzählen. Einerseits faszinierte mich dieser Beweis, dass man seine Mitmenschen überhaupt nicht kannte, dass ihnen praktisch alles zuzutrauen war, und zugleich fühlte ich mich irgendwie niedergeschlagen angesichts der Lügen, mit denen ich aufgewachsen war und bis jetzt gelebt hatte. Es war, als müsste ich meine Mutter ganz von neuem kennenlernen, alles, was wir miteinander erlebt hatten, neu verarbeiten, damit leben, dass ihre wahre Biographie die meine in einem ganz anderen und möglicherweise beunruhigenderen Licht erscheinen ließ. Ich beschloss hier und jetzt, die Sache ein paar Tage ruhen zu lassen, bevor ich mich an eine Analyse wagte. Mein eigenes Leben war schon aufregend genug: Ich sollte mich erst mal um mich selbst kümmern, sagte ich mir. Meine Mutter war offensichtlich aus härterem Holz geschnitzt. Ich wollte darüber nachdenken, wenn ich munterer war, geistig wiederhergestellt, und – Dr. Timothy Thoms ein paar entscheidende Fragen stellen.
Ich musterte meine Mutter von der Seite. Sie blätterte in ihrer Illustrierten, aber ihre Augen waren in die Ferne gerichtet – sie schaute angestrengt, ängstlich über die Wiese zu den Bäumen von Witch Wood hinüber.
»Alles in Ordnung, Sal?«, fragte ich.
»Weißt du, vorgestern wurde eine alte Frau – eine ältere Dame – in Chipping Norton umgebracht.«
»Umgebracht? Wie denn?«
»Sie saß im Rollstuhl, war beim Einkaufen. Dreiundsechzig Jahre alt. Von einem Auto überfahren, das auf den Bürgersteig geraten war.«
»Wie schrecklich … Ein Betrunkener? Ein Raser?«
»Das wissen wir nicht.« Sie warf die Illustrierte ins Gras. »Fahrerflucht. Sie haben ihn noch nicht gefasst.«
»Kann er nicht anhand des Autos identifiziert werden?«
»Das war gestohlen.«
»Verstehe … Aber was hat das mit dir zu tun?«
Sie sah mich an. »Bringt dich das nicht auf seltsame Gedanken? Ich saß erst neulich im Rollstuhl. Und ich kaufe oft in Chipping Norton ein.«
Jetzt musste ich wirklich lachen. »Ich bitte dich!«, sagte ich.
Ihr Blick war starr und nicht sehr freundlich. »Du begreifst immer noch nicht?«, sagte sie. »Nach allem, was ich dir erzählt habe? Du weißt offenbar nicht, wozu die fähig sind.«
Ich trank meinen Whisky aus – auf diesen unübersichtlichen Irrweg würde ich ihr nicht folgen, das war schon mal sicher.
»Dann wollen wir mal los«, sagte ich diplomatisch. »Danke, dass du dich um den Jungen gekümmert hast. Hat er sich benommen?«
»Tadellos. Ein guter Gefährte.«
Ich rief Jochen von seinen Igelstudien fort, und wir brauchten zehn Minuten, um seine weit verstreuten Habseligkeiten einzusammeln. Als ich in die Küche kam, sah ich ein kleines Lebensmittelsortiment auf dem Tisch liegen: eine Thermosflasche, eine Plastikdose mit Sandwiches, zwei Äpfel und eine Packung Kekse. Seltsam, dachte ich, während ich Spielzeugautos vom Boden aufhob; man könnte ja glauben, dass sie zum Picknick will. Dann rief Jochen nach mir, weil er seine Pistole nicht fand.
Endlich hatten wir alles ins Auto geladen und verabschiedeten uns. Jochen küsste seine Granny, doch als ich sie küsste, machte sie sich steif – alles war zu merkwürdig heute, ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Ich musste erst abfahren, bevor ich mich mit diesen Seltsamkeiten befassen konnte.
»Kommst du nächste Woche in die Stadt?«, fragte ich betont freundlich und dachte mir, wir könnten dann zusammen essen gehen.
»Nein.«
»Na, dann.« Ich öffnete den Wagenschlag. »Mach’s gut, Sal. Ich ruf dich an.«
Da griff sie nach mir und umarmte mich heftig. »Mach’s gut, Liebling«, sagte sie, und ich spürte ihre trockenen Lippen auf der Wange. Das war noch seltsamer, da sie mich höchstens alle drei Jahre mal umarmte.
Schweigend fuhr ich mit Jochen aus dem Dorf hinaus.
»War es schön bei Granny?«, fragte ich dann.
»Ja. Irgendwie schon.«
»Drück dich genauer aus.«
»Na ja, sie hatte viel zu tun, immer hat sie irgendwas gemacht. In der Garage gearbeitet.«
»Was hat sie denn da gemacht?«
»Ich weiß nicht. Ich durfte nicht rein. Aber ich habe gehört, wie sie gesägt hat.«
»Gesägt? … Kam sie dir irgendwie verändert vor? Hat sie sich anders verhalten?«
»Drück dich präziser aus.«
»Eins zu null für dich. Kam sie dir nervös vor, unruhig, schlecht gelaunt, seltsam?«
»Seltsam ist sie immer. Das weißt du doch.«
In der zunehmenden Dämmerung führen wir nach Oxford zurück. Ich sah schwarze Krähenschwärme von den Stoppelfeldern auffliegen, die Hecken verschmolzen mit dem Dunst des Abends, die Baumgruppen und Wäldchen wirkten dicht und undurchdringlich, wie aus Metall gegossen. Meine Kopfschmerzen ließen langsam nach, was ich als Zeichen der allgemeinen Besserung auffasste, und dann fiel mir auch noch ein, dass ich eine Flasche Mateus Rosé im Kühlschrank hatte. Samstagabend zu Hause bleiben, Fernseher an, zwanzig Zigaretten und eine Flasche Mateus Rosé: Konnte das Leben schöner sein?
Wir aßen Abendbrot (von Ludger und Ilse keine Spur), sahen ein Varieté im Fernsehen – schlechte Sänger, lahme Tänzer, meiner Meinung nach –, und ich brachte Jochen ins Bett. Jetzt konnte ich die Flasche entkorken und gemütlich eine rauchen. Aber stattdessen saß ich zwanzig Minuten nach dem Abwaschen immer noch in der Küche, vor mir eine Tasse schwarzen Kaffee, und dachte über meine Mutter und ihr Leben nach.
Am Sonntagmorgen fühlte ich mich hundert Prozent besser, aber in Gedanken war ich nach wie vor bei meiner Mutter, ihrem Cottage und ihrem seltsamen Verhalten am Tag davor: die Nervosität, die Paranoia, das vorbereitete Picknick, diese untypische Reizbarkeit … Was war da los? Wohin wollte sie mit ihren Sandwiches und der Thermosflasche? Dass die Sachen schon am Vortag bereitstanden, deutete auf einen frühen Aufbruch. Warum erzählte sie mir nicht davon, wenn sie einen Ausflug plante? Und warum ließ sie die Sachen so offen herumliegen, wenn ich es nicht erfahren sollte?
Und dann begriff ich.
Huldvoll akzeptierte Jochen die neue Sonntagsplanung. Im Auto sangen wir Lieder, um uns die Zeit zu vertreiben: »One Man Went to Mow«, »Ten Green Bottles«, »The Quartermaster’s Store«, »The Happy Wanderer«, »Tipperary« – die hatte mir früher mein Vater vorgesungen, sein tiefer, vibrierender Bass hatte das ganze Auto ausgefüllt. Jochen war schrecklich unmusikalisch, genau wie ich, trotzdem sangen wir munter drauflos, in dissonanter Harmonie.
»Warum fahren wir schon wieder dorthin?«, fragte er zwischen zwei Strophen. »Gleich am nächsten Tag? Das machen wir sonst nie.«
»Weil ich etwas vergessen habe. Ich wollte Granny etwas fragen.«
»Das kannst du auch am Telefon.«
»Nein. Ich muss mit ihr sprechen. Unter vier Augen.«
»Du willst dich bloß mit ihr streiten«, sagte er.
»Nein, nein, keine Sorge. Ich muss sie nur etwas fragen.«
Wie ich befürchtet hatte, war das Auto weg und das Haus verschlossen. Ich holte den Schlüssel unter dem Blumentopf hervor, und wir gingen hinein. Wieder war alles sauber und aufgeräumt – kein Hinweis auf einen plötzlichen Aufbruch, keine Zeichen von Panik oder Hast. Ich lief langsam durch die Zimmer, schaute mich um, suchte nach der Erklärung, irgendeiner Auffälligkeit, die mir etwas signalisieren sollte, und schließlich wurde ich fündig.
Welcher Mensch, der noch bei Sinnen war, hätte in einer schwülwarmen Nacht wie der letzten den Wohnzimmerkamin angezündet? Meine Mutter hatte es getan, eindeutig, denn auf dem Rost lagen verkohlte Scheite, und die Asche war noch warm. Ich hockte mich vor die Öffnung und suchte mit dem Schürhaken nach Resten verbrannter Papiere – vielleicht hatte sie irgendein anderes Geheimnis aus der Welt geschafft –, aber ich fand nichts, was darauf hinwies. Dann fiel mein Blick auf eins der Scheite. Mit der Feuerzange fischte ich es heraus und hielt es in der Küche unter den Wasserhahn – es zischte, als das kalte Wasser die Asche wegspülte –, und darunter kam die glänzende Kirschholzmaserung zum Vorschein. Ich trocknete das Stück Holz mit einem Blatt von der Küchenrolle ab, und obwohl es halb verkohlt war, gab es keinen Zweifel: Es war ganz offensichtlich ein Gewehrkolben, abgesägt direkt hinter dem Handgriff. Ich lief hinaus in die Garage, wo sie eine kleine Werkbank hatte und ihre Gartengeräte unterbrachte (immer geölt und ordentlich weggeräumt). Auf der Werkbank, neben dem Schraubstock, lag eine Metallsäge und drum herum verstreut die kleinen silbrigen Späne. Die Gewehrläufe steckten in einem Kartoffelsack, der unter der Werkbank lag. Sie hatte sich kaum Mühe gegeben, ihr Tun zu verbergen, auch der Gewehrkolben war eher angesengt als verkohlt. In meinem Bauch zog sich etwas zusammen; teils war mir, als müsste ich lachen, teils hatte ich das Gefühl, ganz dringend aufs Klo zu müssen. Jetzt, da ich nun schon langsam so dachte wie sie, begriff ich: Sie hatte gewollt, dass ich am Sonntagmorgen zurückkam, um das Haus leer zu finden; sie hatte gewollt, dass ich mich umsah und diese Dinge vorfand – und jetzt erwartete sie von mir, dass ich die richtigen Schlüsse zog.
Gegen sechs Uhr abends war ich in London. Jochen hatte ich bei Veronica und Avril untergebracht, jetzt musste ich nur noch versuchen, meine Mutter zu finden, bevor sie Lucas Romer umbrachte. Ich fuhr mit dem Zug bis Paddington, dann mit dem Taxi nach Knightsbridge. Den Namen der Straße, in der Romer wohnte, hatte ich behalten, aber nicht die Hausnummer. Dem Taxifahrer sagte ich, er solle mich zum Walton Crescent fahren und an einem der beiden Enden absetzen. Auf meinem Londoner Stadtplan sah ich, dass es eine Walton Street gab – sie schien direkt zu den Pforten von Harrods zu führen – und einen Walton Crescent, der von der Walton Street abzweigte und im Bogen zu ihr zurückführte. Ich zahlte, stieg hundert Meter vorher aus und ging zu Fuß weiter zum Crescent. Währenddessen versuchte ich, mich in meine Mutter hineinzuversetzen und genau das zu tun, was sie tun würde. Immer schön der Reihe nach, sagte ich mir; erst einmal die Umgebung erkunden.
Walton Crescent stank nach Geld, Upperclass, Standesdünkel, aber auf diskrete Weise, unaufdringlich und kaum spürbar. Alle Häuser sahen fast gleich aus, bis man sie näher in Augenschein nahm. Ein bogenförmiger Park lag der sanft geschwungenen Zeile aus dreistöckigen, mit cremefarbigem Stuck versehenen Reihenhäusern gegenüber, jedes der Häuser besaß einen kleinen Vorgarten und je drei große hohe Fenster im ersten Stock, die auf einen Balkon mit filigranem Eisengeländer hinausgingen. Die Vorgärten waren gepflegt und, dem allgemeinen Verbot zu wässern zum Trotz, von einem satten Grün. Auf meinem Rundgang sah ich Buchsbaumhecken, Rosen, verschiedene Clematis-Sorten und bemooste Statuen. Beinahe jedes Haus hatte eine Alarmanlage, viele Fenster waren mit Läden verschlossen, andere mit Rollgittern hinter den Scheiben gesichert. Ich war fast allein auf der Straße, eine Amme schob einen Kinderwagen vorbei, ein grauhaariger Gentleman beschnitt eine niedrige Eibenhecke mit pedantischer, liebevoller Sorgfalt. Der weiße Allegro meiner Mutter parkte gegenüber der Nummer 29.
Ich beugte mich vor und klopfte energisch an die Scheibe. Sie drehte sich um, schien aber kaum überrascht, mich zu sehen. Lächelnd langte sie hinüber zur Beifahrertür, um mir zu öffnen.
»Du hast aber lange gebraucht«, sagte sie. »Trotzdem – nicht schlecht.« Sie trug ihren perlgrauen Hosenanzug, ihr Haar war frisiert und glänzte wie frisch vom Friseur, sie hatte Lippenstift aufgelegt, ihre Wimpern waren schwarz getuscht.
Ich wartete eine kleine Zornesaufwallung ab, bevor ich auf den Beifahrersitz kletterte. Und als ich meine Schimpfkanonade beginnen wollte, bot sie mir ein Sandwich an.
»Was ist drauf?«, fragte ich.
»Lachs mit Gurke. Aber kein Büchsenlachs.«
»Mayonnaise?«
»Nur ein bisschen – und etwas Dill.«
Ich nahm das Sandwich entgegen und schlang ein paar Bissen hinunter. Plötzlich hatte ich Hunger, und das Sandwich schmeckte köstlich.
»Um die Ecke ist ein Pub«, sagte ich. »Warum gehen wir nicht dorthin und reden in aller Ruhe? Ich mach mir große Sorgen, das muss ich schon sagen.«
»Nein, dann verpasse ich ihn«, sagte sie. »Sonntagabend kommt er sicher vom Land zurück, von seinem Haus oder von Freunden. Vor neun dürfte er hier sein.«
»Ich lasse nicht zu, dass du ihn umbringst. Ich warne dich, ich …«
»Sei nicht albern!« Sie lachte. »Ich will nur einen kurzen Plausch.« Sie legte mir die Hand aufs Knie. »Das hast du gut gemacht, Ruth, mich hier aufzuspüren. Ich bin beeindruckt – und ich freue mich. Ich dachte, so ist’s am besten – wenn du alles selbst herausfindest. Ich wollte dich nicht bitten, mitzukommen, dich nicht unter Druck setzen. Ich dachte mir, dass du’s rauskriegen würdest, weil du so klug bist. Aber jetzt weiß ich, dass deine Klugheit von anderer Art ist.«
»Soll ich das als Kompliment verstehen?«
»Schau mal: Wenn ich dich direkt gefragt hätte, hättest du dir hundert Mittel ausgedacht, mich davon abzubringen.« Ihr Lächeln wirkte fast schadenfroh. »Na, jedenfalls sind wir jetzt beide hier.« Sie strich mir über die Wange – woher diese Anwandlungen von Zärtlichkeit? »Ich bin froh, dass du da bist«, sagte sie. »Ich weiß, ich hätte ihn auch allein treffen können, aber mit dir an meiner Seite wird es viel besser.«
»Warum?«, fragte ich misstrauisch.
»Du weißt schon: Moralische Unterstützung und so weiter.«
»Wo ist das Gewehr?«
»Ich fürchte, das hab ich so ziemlich versaut. Die Läufe sind nicht sauber abgetrennt. Ich würde mich nicht trauen, es zu benutzen – und überhaupt: Da du jetzt da bist, fühle ich mich sicher.«
Wir saßen und redeten und verzehrten unsere Sandwiches, während das Abendlicht über dem Walton Crescent intensiver wurde und den cremefarbenen Stuck für Momente in ein blasses Aprikosenrosa verwandelte. Als sich der Himmel allmählich verdunkelte – der Tag war wolkig, aber warm –, spürte ich, wie die Angst in mir hochkroch: Mal in meinem Bauch, dann in der Brust, dann in den Gliedern, die davon schwer wurden und wehtaten – und ich begann zu hoffen, dass Romer nicht zurückkam, dass er in die Ferien gefahren war, nach Portofino oder Saint-Tropez oder Inverness oder wo immer Typen wie er ihre Ferien verbrachten, dass unsere Belagerung sich als fruchtlos erweisen würde, wir nach Hause fahren und versuchen konnten, die ganze Sache zu vergessen. Gleichzeitig war mir genauso klar wie meiner Mutter, dass es mit Romers Ausbleiben nicht getan wäre: Sie musste ihn noch einmal sehen, ein letztes Mal. Und während ich darüber nachdachte, begriff ich, dass alles, was in diesem Sommer passiert war, geplant – manipuliert – war, mit dem Ziel, diese Konfrontation herbeizuführen: ihre Rollstuhl-Allüren, ihr Verfolgungswahn, ihr Lebensbericht …
Meine Mutter packte mich am Arm.
Am anderen Ende des Crescent schob ein großer Bentley die Nase um die Ecke. Ich dachte, ich müsste sterben, in meinen Ohren rauschte das Blut, ich schluckte Luft, weil meine Magensäure brodelte und in der Speiseröhre hochkochte.
»Wenn er aus dem Auto steigt«, sagte meine Mutter trocken, »gehst du hin und rufst seinen Namen. Er wird sich umdrehen – mich sieht er vorerst nicht. Verwickle ihn in ein kurzes Gespräch. Ich will ihn überraschen.«
»Was soll ich denn sagen?«
»Zum Beispiel: ›Guten Abend, Mr Romer, könnte ich Sie kurz sprechen?‹ Mehr als ein paar Sekunden brauche ich nicht.«
Sie wirkte so ruhig, so stark – während ich dachte, ich müsste jeden Moment in Tränen ausbrechen, einfach drauflosheulen, ich kam mir total unsicher und unfähig vor. Was gar nicht zu mir passte, wie ich merkte.
Der Bentley hielt in der zweiten Reihe, mit laufendem Motor, der Chauffeur kam heraus und ging um den Wagen herum zum Fond. Er hielt den Wagenschlag auf der Trottoirseite auf, Romer stieg aus, mit einiger Mühe, ein wenig gebeugt, vielleicht steif von der langen Fahrt. Er tauschte ein paar Worte mit dem Fahrer, der wieder einstieg und davonfuhr. Romer ging zu seinem Gartentor, er trug ein Tweedjackett und graue Flanellhosen, dazu Wildlederschuhe. Über der Tür der Nummer 29 ging ein Licht an, zeitgleich mit den Gartenlampen, die den Plattenweg zur Haustür beleuchteten, einen Kirschbaum, einen steinernen Obelisk hinter der Hecke.
Meine Mutter gab mir einen Schubs, und ich öffnete die Tür.
»Lord Mansfield?«, rief ich und trat auf die Straße hinaus. »Kann ich Sie kurz sprechen?«
Romer drehte sich sehr langsam zu mir um.
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Ruth Gilmartin – wir haben uns neulich getroffen.« Ich ging über die Straße, auf ihn zu. »In Ihrem Club – ich wollte Sie interviewen.«
Er blickte mich forschend an. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« Seine raue Stimme war beherrscht, unaufgeregt. »Das gab ich Ihnen bereits zu verstehen.«
»Oh, ich glaube, doch«, sagte ich und fragte mich, wo meine Mutter blieb. Ich sah und hörte sie nicht, ich hatte keine Ahnung, wohin sie verschwunden war.
Er lachte und öffnete die Gartenpforte.
»Gute Nacht, Miss Gilmartin. Hören Sie auf, mich zu belästigen. Gehen Sie weg.«
Mir fiel nichts mehr ein – ich war abgewiesen.
Er schloss die Pforte von innen, und ich sah, wie hinter ihm jemand die Haustür öffnete, nur einen Spaltbreit, damit sich Romer nicht mit Schlüsseln oder ähnlich vulgären Dingen abgeben musste. Romer sah, dass ich noch dastand, und suchte mit geübtem Blick die Straße ab. Dann wurde er sehr still.
»Hallo, Lucas«, sagte meine Mutter aus der Dunkelheit.
Sie schien aus der Buchsbaumhecke hervorgewachsen zu sein – ohne sich zu rühren, stand sie plötzlich da.
Romer war für einen Moment wie gelähmt, dann richtete er sich auf, steif wie ein Soldat bei der Parade, als hätte er Angst, umzufallen.
»Wer sind Sie?«
Jetzt trat sie einen Schritt vor, und das abendliche Zwielicht zeigte ihr Gesicht, ihre Augen. Wie schön sie aussieht, dachte ich, als hätte sie sich auf wundersame Weise verjüngt, als wären fünfunddreißig Lebensjahre aus ihrem Gesicht gelöscht.
Ich schaute Romer an – er wusste, wer sie war, und verharrte stumm, eine Hand am Zaunpfahl. Wie hat er wohl diesen Moment empfunden, fragte ich mich – diesen unvergleichlichen Schock? Aber er ließ sich nichts anmerken, brachte nur die Andeutung eines ungewissen Lächelns zustande.
»Eva Delektorskaja«, sagte er kaum hörbar. »Wer hätte das gedacht.«
Wir standen in Romers großem Salon in der ersten Etage – er hatte uns keinen Platz angeboten. Noch an der Gartenpforte hatte er nach dem ersten Schock die Fassung wiedergewonnen und zu seiner leicht gelangweilten Gelassenheit zurückgefunden. »Vielleicht sollten Sie doch besser hereinkommen«, hatte er gesagt. »Sie haben mir bestimmt etwas mitzuteilen.« Wir waren ihm über den Kiesweg zur Haustür und ins Haus gefolgt, wo ein dunkelhaariger Mann mit weißem Jackett im Korridor wartete – und recht verdutzt wirkte. Von einer Küche irgendwo am Ende des Flurs hörte man Geschirrklappern.
»Ah, Pjotr«, sagte Romer. »Ich bin in einer Minute wieder unten. Sag Maria, sie soll alles warm stellen, dann kann sie gehen.«
Darauf folgten wir ihm die geschwungene Treppe hinauf in den Salon. Er war im englischen Landhausstil der dreißiger Jahre gehalten: wenige gute Stücke dunklen Mobiliars – ein Sekretär, ein Glasschrank mit Fayencen, Läufer auf dem Boden und bequeme alte Sofas mit Überwürfen und Kissen, aber die Gemälde an den Wänden waren modern. Ich sah einen Francis Bacon, einen Burra und ein exquisites Stillleben – eine leere Zinnschale vor einer silber getönten Vase mit zwei welkenden Mohnblüten. Das Gemälde sah aus wie beleuchtet, aber es gab keine Punktstrahler – der pastose Glanz der Zinnschale und der Vase erzeugte diesen Effekt erstaunlicherweise von sich aus. Um mich abzulenken, schaute ich die Bilder an; ich befand mich in einem merkwürdigen Taumel der Panik – einer Kombination aus Erregung und Angst, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte, und damals auch nur dann, wenn ich absichtlich etwas Falsches oder Verbotenes gemacht hatte und mir schon das Ertapptwerden vorstellte, die Schuld und die Strafe – was wohl überhaupt den Reiz des Verbotenen ausmacht, wie ich vermute. Ich schaute zu meiner Mutter hinüber: Sie fixierte Romer mit vernichtendem Blick. Er erwiderte ihn nicht, sondern stand, ganz der Hausherr, am Kamin – der mit Scheiten gefüllt, aber nicht angezündet war – und betrachtete angestrengt den Läufer zu seinen Füßen; sein Ellbogen ruhte auf dem Sims, in dem fleckigen Spiegel, der über ihm hing, war sein Hinterkopf zu sehen. Jetzt schaute er Eva an, aber sein Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck. Auf einmal wurde mir klar, warum ich diese Panik empfand: Die Atmosphäre schien gesättigt, geradezu geronnen von der gemeinsamen Vergangenheit der beiden – einer Vergangenheit, an der ich keinen Anteil hatte und deren dramatischen Endpunkt ich nun unfreiwillig miterlebte. Ich kam mir vor wie ein Voyeur – ich hatte hier nichts zu suchen, und trotzdem war ich hier.
»Könnten wir ein Fenster aufmachen?«, fragte ich zögernd.
»Nein«, sagte Romer, ohne meine Mutter aus den Augen zu lassen. »Auf dem Tisch dort steht Wasser.«
Ich ging an den Seitentisch, auf dem ein Tablett mit Gläsern und Karaffen aus Bleikristall stand. Neben den Karaffen mit Whisky und Brandy stand eine dritte, halb gefüllt mit Wasser, das sichtlich verstaubt war. Ich goss mir ein Glas ein und trank die lauwarme Flüssigkeit. Während ich schrecklich laute Schluckgeräusche machte, blickte Romer zu mir herüber.
»In welcher Beziehung stehen Sie zu dieser Frau?«, fragte er.
»Sie ist meine Mutter«, erwiderte ich postwendend und empfand absurderweise so etwas wie Stolz auf all das, was sie durchgemacht und hierhergeführt hatte, in dieses Zimmer. Ich ging hinüber zu ihr und stellte mich neben sie.
»Herr im Himmel«, sagte Romer. »Ich kann es nicht glauben.« Irgendwie wirkte er extrem angeekelt. Ich schaute meine Mutter an und versuchte mir vorzustellen, was in ihrem Kopf vor sich ging, wie sie es verkraftete, diesen Mann nach so vielen Jahren wiederzusehen, den Mann, den sie aufrichtig geliebt hatte – glaubte ich jedenfalls – und der sich so unglaubliche Mühe gegeben hatte, ihren Tod herbeizuführen. Aber sie wirkte sehr ruhig, sehr stark. Romer wandte sich wieder an sie.
»Was willst du, Eva?«
Meine Mutter wies auf mich. »Ich will dir nur sagen, dass sie alles weiß. Ich habe alles aufgeschrieben, Lucas, ihr alles gegeben – sie hat das Manuskript. In Oxford gibt es einen Professor, der ein Buch darüber schreibt. Ich wollte dir nur sagen, dass die Jahre deines Versteckspiels gezählt sind. Alle werden erfahren, was du getan hast, und das sehr bald.« Sie atmete tief ein. »Es ist vorbei.«
Er schien sich auf die Lippe zu beißen – alles hatte er erwartet, nur das nicht.
Er breitete die Hände aus. »Schön. Ich werde ihn verklagen. Ich verklage dich, und du gehst ins Gefängnis. Du kannst nicht das Geringste beweisen.«
Meine Mutter lächelte spontan, und ich wusste, warum – das war schon so etwas wie ein Geständnis.
»Ich wollte, dass du das weißt, und ich wollte dich noch ein letztes Mal sehen.« Sie machte einen Schritt vorwärts. »Und ich wollte, dass du mich siehst. Dich wissen lassen, dass ich immer noch sehr lebendig bin.«
»Wir haben dich in Kanada verloren«, sagte Romer. »Nachdem klar war, dass du dorthin gegangen warst. Du hast es sehr geschickt angestellt.« Er überlegte kurz. »Du solltest wissen, dass deine Akte nie geschlossen wurde. Wir können dich immer noch verhaften, unter Anklage stellen, verurteilen. Ich brauche nur diesen Hörer abzunehmen – und du wirst noch diese Nacht verhaftet, egal, wo du bist.«
Jetzt zeigte sich am Lächeln meiner Mutter, dass sie die Macht über ihn errungen hatte – endlich hatte sich das Blatt gewendet.
»Warum tust du’s dann nicht, Lucas?«, sagte sie auffordernd, provozierend. »Na los, lass mich verhaften. Aber du wirst es nicht tun, nicht wahr?«
Er blickte sie an, sein Gesicht verriet nichts, er hatte sich total unter Kontrolle. Trotzdem genoss ich den Triumph meiner Mutter – am liebsten hätte ich gejubelt und gejuchzt vor Freude.
»Für die britische Regierung bist du eine Verräterin«, sagte er tonlos, ohne die Spur einer Drohung.
»Natürlich«, erwiderte sie mit Sarkasmus. »Wir sind alle Verräter: ich und Morris und Angus und Sylvia. Ein kleines Nest von britischen Verrätern beim AAS Ltd. Nur einer ist geradlinig und loyal geblieben: Lucas Romer.« Ihr Blick war voller Verachtung und ohne jedes Mitleid. »Nun ist für dich doch noch alles falsch gelaufen, Lucas.«
»Was falsch gelaufen ist, war Pearl Harbor«, sagte er mit einem gepressten ironischen Grinsen, als hätte er endlich begriffen, dass er seine Macht verloren hatte, dass ihm alles entglitten war. »Dank den Japanern – Pearl Harbor hat uns ziemlich alles versaut.«
»Du hättest mich in Ruhe lassen sollen«, sagte meine Mutter. »Wärst du nicht weiter hinter mir her gewesen, hätte ich dich mit alldem nicht behelligt.«
Er starrte sie verblüfft an. Es war die erste echte Gefühlsregung, die ich an ihm beobachtete. »Wovon zum Teufel redest du?«, sagte er.
Aber sie hörte nicht zu. Sie öffnete ihre Handtasche und holte das abgesägte Gewehr heraus. Es war sehr klein, kaum länger als fünfundzwanzig Zentimeter, und sah aus wie eine altertümliche Pistole, das Schießeisen eines Straßenräubers. Sie richtete es auf Romers Gesicht.
»Sally«, sagte ich. »Bitte …«
»Ich weiß, dass du keine Dummheiten machen wirst«, sagte Romer ziemlich ruhig. »So dumm bist du nicht. Also steck das Ding weg.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und streckte den Arm aus, die zwei klobigen Stummel der Läufe zielten direkt auf sein Gesicht, aus sechzig Zentimetern Abstand. Jetzt zuckte er doch ein wenig, wie ich sah.
»Ich wollte nur wissen, wie es sich anfühlt, wenn du meiner Gnade ausgeliefert bist«, sagte meine Mutter noch immer völlig beherrscht. »Ich könnte dich jetzt ohne weiteres umbringen, ganz leicht, und ich wollte nur wissen, wie sich so ein Moment anfühlt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das über all die Jahre aufrechterhalten hat, mir diesen Moment vorzustellen. Ich habe lange darauf gewartet.« Sie senkte das Gewehr. »Und ich kann dir versichern: Jede Sekunde davon war es wert.« Sie steckte das Gewehr in ihre Tasche und verschloss sie mit einem lauten Klacken, einem Geräusch, bei dem Romer noch einmal zusammenzuckte.
Er drückte auf eine Klingel an der Wand, und eine Sekunde später, wie es schien, stand der verschreckte Pjotr im Raum.
»Die Herrschaften wollen gehen«, sagte Romer.
Wir gingen zur Tür.
»Lebe wohl, Lucas«, sagte meine Mutter und schritt voran, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Merk dir diesen Abend. Du wirst mich nicht wiedersehen.«
Ich dagegen schaute mich noch einmal um und sah, dass sich Romer ein wenig zur Seite gedreht hatte, die Hände tief in die Taschen seines Jacketts gebohrt – man sah es an den Falten des Jacketts und an den verdrehten Aufschlägen. Sein Kopf war gesenkt, und er starrte wieder auf den Läufer vor dem Kamin, als stände dort geschrieben, was er zu tun hatte.
Wir stiegen ins Auto und ich blickte hinauf zu den drei hohen Fenstern. Nun war es fast dunkel, die Fenster leuchteten orange gelb, die Vorhänge waren noch nicht zugezogen.
»Das Gewehr hat mich umgehauen, Sal«, sagte ich.
»Es war nicht geladen.«
»Na prima.«
»Im Moment will ich nicht reden, wenn du erlaubst. Noch nicht.«
Also fuhren wir aus London heraus, über Shepherd’s Bush zur A40 Richtung Oxford. Und wir schwiegen den ganzen Weg, bis wir nach Stokenchurch kamen und durch die große Brache, die sie für die Autobahn durch die Chilterns geschlagen hatten, die träge Sommernacht von Oxfordshire vor uns ausgebreitet sahen – die Lichter von Lewknor, Sydenham und Great Haseley, die zu funkeln begannen, während die achatene Restglut des Sonnenuntergangs im Westen verlosch, irgendwo hinter Gloucestershire.
Ich dachte an das, was in diesem Sommer passiert war, und allmählich dämmerte mir, dass es in Wirklichkeit schon vor vielen Jahren angefangen hatte. Ich dachte an die Raffinesse, mit der mich meine Mutter in den letzten Wochen manipuliert und benutzt hatte, und begann mich zu fragen, ob das schon immer mein Schicksal gewesen war, was sie betraf. Ich stellte mir vor, dass sie ein halbes Leben mit dem Gedanken an diese letzte Begegnung mit Romer schwanger gegangen war und sich, als ihr Kind geboren wurde – vielleicht wollte sie lieber einen Jungen? –, gesagt hatte: Jetzt habe ich meinen entscheidenden Verbündeten, jetzt habe ich jemanden, der mir beistehen kann, und eines Tages bringe ich Romer zur Strecke.
Ich begann zu begreifen, dass meine Rückkehr von Deutschland nach Oxford der Katalysator gewesen war, der alles in Bewegung gesetzt hatte. Nun, da ich in ihr Leben zurückgekehrt war, konnte ich in ihr Werk verwickelt werden. Das Schreiben ihrer Memoiren, der Anschein von Gefahr, der Verfolgungswahn, der Rollstuhl, die anfänglich »harmlosen« Bitten, alles war nur dazu da, ihre Beute mit mir gemeinsam aufzuspüren und dingfest zu machen. Aber es war noch etwas anderes, was sie nach so vielen Jahren in Aktion versetzt hatte, wie ich jetzt erkannte. Irgendein Gefühl der Gefährdung hatte ihren Entschluss befördert, die Angelegenheit zu Ende zu bringen. Vielleicht war es Verfolgungswahn – eingebildete Beobachter im Wald, fremde Autos, die nachts durchs Dorf fuhren –, vielleicht aber auch schiere Ermüdung. Vielleicht hatte meine Mutter es satt, ewig auf der Hut zu sein, immer in Erwartung des Klopfens an der Tür. Ich dachte an ihre Drohungen, als ich noch klein war: »Eines Tages wird jemand kommen und mich wegholen.« Und ich begriff, dass sie wirklich mit diesem Gedanken gelebt hatte – seit ihrer Flucht nach Kanada am Jahresende 1941. Das war eine lange Zeit – eine viel zu lange. Sie war des Wachens und Wartens müde und wollte ein Ende herbeiführen. Und so setzte die erfinderische Eva Delektorskaja ein kleines Drama in Szene, das ihre Tochter – ihre notwendige Verbündete – in den Plot gegen Romer einbezog. Ich konnte ihr das nicht verdenken und versuchte mir vorzustellen, welchen Preis sie in all den Jahren hatte zahlen müssen. Ich schaute zu ihr hinüber, auf ihr feines Profil, während wir durch die Nacht heimwärts fuhren. Woran denkst du, Eva Delektorskaja? Welche Intrigen brütest du gerade aus? Wirst du jemals entspannt leben können, wirst du jemals wirklich zur Ruhe kommen? Hast du nun endlich deinen Frieden? Sie hatte mich fast auf die gleiche Art benutzt, wie Romer sie zu benutzen versucht hatte. Ich begriff, dass mich meine Mutter diesen ganzen Sommer lang sorgfältig geleitet, geführt hatte wie einen Spion, wie einen …
»Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte sie so unvermittelt, dass ich hochschreckte.
»Was?«
»Er weiß, dass du meine Tochter bist. Er kennt deinen Namen.«
»Na und?«, sagte ich. »Er weiß auch, dass du ihn kalt erwischt hast. Alles wird ans Licht kommen. Er kann dir kein Haar krümmen. Du hast es ihm ja gesagt – du hast ihn aufgefordert, den Hörer abzunehmen.«
Sie dachte nach.
»Vielleicht hast du recht. Vielleicht reicht das aus. Vielleicht macht er keine Anrufe. Aber er könnte etwas Schriftliches hinterlassen.«
»Wie meinst du das: ›etwas Schriftliches hinterlassen‹? Wo soll er etwas Schriftliches hinterlassen?« Ich konnte ihr nicht folgen.
»Es wäre sicherer, etwas Schriftliches zu hinterlassen, verstehst du? Weil …« Sie unterbrach sich und dachte beim Fahren angestrengt nach, vornübergebeugt, als ob sie in dieser Haltung das Auto schneller ans Ziel bringen konnte.
»Weil was?«
»Weil er bis morgen früh tot sein wird.«
»Tot? Warum sollte er denn bis morgen früh tot sein?«
Sie warf mir einen Blick zu, einen ungeduldigen, der besagte: Du hast es immer noch nicht kapiert, oder? Dein Kopf funktioniert nicht so wie unserer. Nachsichtig erklärte sie mir: »Romer wird sich heute Nacht umbringen. Mit einer Spritze, einer Tablette. Das hat er vor Jahren schon festgelegt. Es wird aussehen wie ein Herzinfarkt oder tödlicher Schlaganfall – wie etwas Natürliches jedenfalls.« Sie entspannte die Finger am Lenkrad. »Romer ist tot. Ich brauchte ihn nicht mit dieser Kanone zu erschießen. In dem Moment, wo er mich sah, wusste er, dass er erledigt war. Er wusste, dass er sein Leben verwirkt hatte.«