Die Geschichte der Eva Delektorskaja
New York 1941
Romer war ein robuster, unkomplizierter Liebhaber – außer in einem Punkt: Wenn er und Eva sich liebten, zog er sich mitten im Akt aus ihr zurück, hockte sich neben sie, streifte Decken und Betttücher, und was da sonst noch im Weg war, beiseite und betrachtete Eva so nackt, wie sie ausgebreitet vor ihm lag, dann seine eigene feucht glänzende Erektion, um schließlich, nach ein paar Sekunden, langsam und behutsam wieder in sie einzudringen. Eva begann sich schon zu fragen, ob ihn der Akt der Penetration mehr erregte als der nachfolgende Orgasmus. Einmal, nachdem er es zweimal hintereinander getan hatte, hatte sie gesagt: »Aber pass auf – ich warte nicht ewig.« Seitdem beschränkte er sich im Wesentlichen auf einen dieser kontemplativen Rückzüge pro Akt. Eva musste allerdings zugeben, dass diese kleine Eigenheit auch für sie etwas Erregendes hatte.
An diesem Morgen hatten sie sich geliebt, recht zügig, ohne Unterbrechung und zu beider Befriedigung. Sie waren in Meadowville, einer Kleinstadt bei Albany, und wohnten im Windermere Hotel in der Market Street. Eva zog sich an, Romer lag majestätisch auf dem Bett, nackt, ein Bein angewinkelt, die Laken über seinen Schoß gebreitet, die Finger hinter dem Kopf verschränkt. Eva befestigte die Strumpfhalter, stieg in den Rock und zog ihn hoch.
»Wie lange bist du weg?«, fragte Romer.
»Eine halbe Stunde.«
»Und du sprichst nicht mit ihm?«
»Nicht seit dem ersten Treffen. Er glaubt, ich komme aus Boston und arbeite für den NBC.«
Sie knöpfte die Jacke zu und prüfte ihre Frisur.
»Ich kann hier nicht den ganzen Tag rumliegen«, sagte Romer. Er stieg aus dem Bett und tapste in Richtung Badezimmer.
»Wir sehen uns am Bahnhof«, sagte sie, griff nach der Handtasche und der Herald Tribune und blies ihm einen Kuss zu. Aber als er im Bad verschwunden war, legte sie beides wieder hin und durchsuchte schnell die Taschen seiner Jacke, die hinter der Tür hing. Sein Portemonnaie war prall von Dollars, aber sonst gab es nichts von Bedeutung. Sie schaute in seine Aktentasche: fünf verschiedene Zeitungen (drei amerikanische, eine spanische, eine kanadische), ein Apfel, das Buch Tess von d’Urbervilles und eine zusammengerollte Krawatte. Sie war nicht sicher, warum sie das tat – und ohnehin überzeugt, dass Romer niemals irgendetwas Interessantes oder Verfängliches bei sich tragen würde, auch Notizen schien er sich nie zu machen –, aber sie hatte das Gefühl, dass er es fast von ihr erwartete und es für eine Nachlässigkeit halten würde, wenn sie diese Gelegenheit ungenutzt ließ (und sie war sicher, dass er es bei ihr genauso machte). Daher schnüffelte und stocherte sie immer ein bisschen herum, wenn sich die Chance ergab.
Sie ging hinunter zum Coffeeshop. Er war dunkelbraun getäfelt. Kleine Abteile mit roten Lederbänken zogen sich an beiden Wänden entlang. Sie studierte das Angebot der Muffins, Kuchensorten, Bagels und Kekse und staunte einmal mehr über die amerikanische Genussfreude und Großzügigkeit, wenn es um Essen und Trinken ging. Sie verglich das Frühstück, das sie hier im Coffeeshop des Hotel Windermere erwartete, mit ihrem letzten Frühstück in England, in Liverpool, bevor sie sich nach Kanada eingeschifft hatte: eine Tasse Tee, zwei dünne Scheiben Toast mit Margarine und wässriger Himbeermarmelade.
Sie hatte Hunger – zu viel Sex, dachte sie – und bestellte Spiegeleier, leicht überbraten, Bratkartoffeln und Schinken, während ihr die Frau des Wirts dampfenden Kaffee eingoss.
»Kaffee, so viel Sie möchten«, erinnerte sie überflüssigerweise – überall kündeten Schilder von dieser Großzügigkeit.
»Ich danke Ihnen«, sagte Eva demütiger als beabsichtigt.
Sie verzehrte ihr Frühstück mit Heißhunger, blieb danach noch sitzen und trank zwei weitere Tassen Gratiskaffee, bevor Wilbur Johnson am Eingang erschien. Er war der Eigentümer und Betreiber der Radiostation von Meadowville, WNLR, einer von zwei Sendern, die sie »betreute«. Sie sah ihn eintreten, den Hut in der Hand, sah den schweifenden Blick, der kurz innehielt, als er sie in ihrem Abteil entdeckte, dann trat er ein, voller Unschuld, wie ein beliebiger Kunde, und hielt Ausschau nach einem Platz. Eva stand auf, ließ die Herald Tribune auf der Polsterbank liegen und ging zur Kasse, um zu bezahlen. Johnson setzte sich einen Moment später auf ihren Platz. Eva ging hinaus in den Oktobersonnenschein und schlenderte durch die Market Street Richtung Bahnhof.
In der Tribune lag das Zyklostyl-Bulletin einer Nachrichtenagentur namens Transoceanic Press, der Agentur, bei der Eva arbeitete. Das Bulletin enthielt Berichte aus deutschen, französischen und spanischen Zeitungen, die sich mit der triumphalen Rückkehr von U-549 nach La Rochelle befassten. Dieses U-Boot hatte in der Woche zuvor den US-Zerstörer Kearny torpediert, wobei elf amerikanische Matrosen ums Leben gekommen waren. Die Kearny, schwer angeschlagen, hatte sich bis nach Reykjavik geschleppt. Auf den Kommandoturm von U-549 waren beim Einlaufen in La Rochelle, so berichtete Evas Bulletin, mit frischer Farbe elf Stars and Stripes gemalt. Und die Hörer von WNLR würden die Ersten sein, die es erfuhren. Wilbur Johnson, ein strammer Anhänger Roosevelts und Bewunderer Churchills, war zufällig mit einer Engländerin verheiratet.
Im Zug zurück nach New York saßen sich Eva und Romer gegenüber. Romer, den Kopf auf die Faust gestützt, starrte sie versonnen an.
»Verrat mir deine schmutzigen Gedanken«, sagte Eva.
»Wann ist deine nächste Reise?«
Sie überlegte: Ihr anderer Sender lag hoch im Norden des Staates New York, in Franklin Forks bei Burlington, nicht weit von der kanadischen Grenze. Betrieben wurde er von einem wortkargen Polen, der Paul Witoldski hieß und 1939 in Warschau viele Angehörige verloren hatte, daher sein strikter Antifaschismus. Sie musste ihm mal wieder einen Besuch abstatten; seit einem Monat hatte sie ihn nicht gesehen.
»In einer Woche etwa, nehme ich an.«
»Dann buche ein Doppelzimmer für zwei Nächte.«
»Yes, Sir.«
In New York verbrachten sie selten eine Nacht miteinander; zu viele Leute konnten Wind davon bekommen, deshalb zog es Romer vor, Eva auf ihren Reisen zu begleiten und die Anonymität der Provinz zu nutzen.
»Was treibst du heute?«, fragte sie.
»Eine große Konferenz im Hauptbüro. Interessante Entwicklungen in Südamerika, wie es scheint … Und du?«
»Ich gehe essen mit Angus Woolf.«
»Der gute alte Angus. Grüß ihn von mir.«
In Manhattan ließ sich Romer vom Taxi am Rockefeller Center absetzen – wo das Büro mit dem unscheinbaren Namen British Security Coordination mittlerweile zwei ganze Etagen belegte. Eva war einmal dort gewesen und hatte über die Menge an Personal gestaunt: lange Flure mit Büros zu beiden Seiten, emsige Sekretärinnen und Sachbearbeiter, Schreibmaschinen, Telefone, Fernschreiber – Hunderte und Aberhunderte von Leuten wie bei einer richtigen Firma mit Sitz in New York. Oft fragte sie sich, was wohl die britische Regierung sagen würde, wenn sich Hunderte von amerikanischen Geheimdienstlern in einem Gebäude der Oxford Street tummelten – vielleicht, dachte sie, ist man hier in diesen Dingen irgendwie toleranter; jedenfalls schien es die Amerikaner nicht zu stören, keiner beschwerte sich, und folglich wuchs die British Security Coordination (kurz BSC) ungehindert weiter. Romer hingegen, der ewige Außenseiter, versuchte, seine Leute zu verteilen oder wenigstens auf Armeslänge von der Zentrale fernzuhalten. Sylvia arbeitete dort, aber Blytheswood war beim Sender WRUL, Angus Woolf (ehemals Reuters) bei der Overseas News Agency und Eva und Morris Devereux leiteten das Übersetzerteam bei der Transatlantic Press, einer kleinen amerikanischen Nachrichtenagentur nach dem Vorbild der Agence Nadal, die sich auf spanische und lateinamerikanische Nachrichten spezialisierte und die die BSC (über amerikanische Mittelsmänner) Ende 1940 in aller Stille für Romer aufgekauft hatte. Romer war im August jenes Jahres nach New York gefahren und hatte alles vorbereitet, Eva und die anderen reisten einen Monat später – über Toronto in Kanada –, um sich dann in New York zu etablieren.
Evas Taxi konnte nicht losfahren, weil gerade ein Bus vorbeikam, der Fahrer würgte den Motor ab, und während er ihn neu startete, schaute sie durch das Heckfenster und sah Romer auf das Portal zugehen. Bei seinem Anblick wurde sie von einem warmen Gefühl durchströmt. Sie verfolgte, wie er sich, Passanten und Touristen ausweichend, mit flinken Schritten voranbewegte. Das ist Romer, wie er sich für alle anderen darstellt, dachte sie ein wenig versponnen – viel beschäftigt, immer in Eile, mit Anzug und Aktentasche, auf das Portal eines Wolkenkratzers zusteuernd. Sie aber genoss das Privileg, ihn, ihren fremdartigen Liebhaber, ganz intim, ganz aus der Nähe zu kennen, und für einen kurzen Moment sonnte sie sich in diesem Gefühl. Lucas Romer. Wer hätte das gedacht?
Angus Woolf hatte ein Treffen in einem Restaurant an der Ecke Lexington Avenue und 63rd Street arrangiert. Sie kam zu früh und bestellte einen trockenen Martini. Es gab den üblichen kleinen Auflauf an der Tür, als Angus eintraf: Stühle wurden gerückt, Kellner verharrten, als Angus seinen verkrümmten Körper mit den sperrigen Krücken durch den Eingang zwängte und zielstrebig auf den Tisch zusteuerte, an dem Eva saß. Alle helfenden Gesten der Kellner zurückweisend, schwang er sich mit viel Ächzen und Keuchen auf den Stuhl und hängte die Krücken behutsam über die Lehne des Nachbarstuhls.
»Eve, meine Teure, Sie sehen wieder blendend aus.«
Albernerweise wurde Eva rot und murmelte etwas von einer sich anbahnenden Erkältung.
»Unsinn«, sagte Angus. »Sie sehen einfach prachtvoll aus.«
Sein winziger verkrüppelter Körper war von einem schönen, offenen Gesicht geziert, und seine Spezialität waren anmutig gedrechselte Komplimente, die er stets mit einem kurzatmigen Lispeln vorbrachte, als wäre die Anstrengung, seine Lunge aufzupumpen und zu entleeren, ebenfalls eine Folge seiner Behinderung. Er zündete eine Zigarette an und bestellte einen Drink.
»Zur Feier des Tages«, sagte er.
»Ach ja? Machen wir plötzlich Fortschritte?«
»So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte er. »Aber wir haben einen Kongress von America First in Philadelphia platzen lassen. Zweitausend Fotos von Herrn Hitler wurden im Organisationsbüro gefunden. Wütende Dementis, die Bilder seien ihnen untergeschoben worden – aber trotzdem, ein kleiner Sieg. Alles geht heute noch über den Ticker von ONA, falls ihr die Sache aufgreifen wollt.«
Eva nickte, wahrscheinlich würden sie das tun. Angus fragte, wie es ihr bei Transatlantic erging, und sie plauderten zwanglos über die Arbeit. Eva gestand ihm, dass das Echo des Angriffs auf die Kearny eine wirkliche Enttäuschung gewesen sei: Alle bei Transatlantic hatten geglaubt, diese Sache sei wie gerufen gekommen und würde einen viel größeren Schock auslösen. Sie erzählte Angus von ihren Folgeberichten, die noch ein wenig mehr Empörung schüren sollten. »Aber niemand scheint sich aufzuregen«, sagte sie. »Deutsches U-Boot tötet elf neutrale amerikanische Matrosen. Na und?«
»Die wollen sich einfach nicht in unseren ekelhaften europäischen Krieg hineinziehen lassen, meine Teure. Damit müssen Sie rechnen.«
Sie bestellten – noch immer ausgehungerte Briten – T-Bone-Steaks und Pommes frites und redeten diskret über Interventionisten und Isolationisten, über Father Coughlin und das America First Committee, den Druck aus London, Roosevelts quälende Untätigkeit und Ähnliches.
»Und was treibt unser geschätzter Chef? Haben Sie ihn gesehen?«, fragte Angus.
»Heute Morgen«, sagte Eva unbedacht. »Auf dem Weg in die Zentrale.«
»Und ich dachte, er ist gar nicht in der Stadt.«
»Er musste zu irgendeiner großen Sitzung«, sagte sie, ohne Angus’ Anspielung zu bemerken.
»Ich habe den Eindruck, dass sie nicht sehr zufrieden mit ihm sind«, sagte er.
»Das sind sie nie«, erwiderte sie, wieder ohne nachzudenken. »Genau so mag er es. Sie sehen nicht, dass in seiner Außenseiterrolle seine Stärke liegt.«
»Das klingt sehr loyal – ich bin beeindruckt«, bemerkte Angus ein wenig zu hintersinnig.
Eva bereute ihre Worte, kaum hatte sie sie ausgesprochen, und in ihrer Verunsicherung redete sie weiter, statt einfach den Mund zu halten.
»Ich meine nur, dass er die Herausforderung liebt, verstehen Sie, dass er gern verquer auftritt, so dass er sich jedes Mal von neuem bewähren muss. Auf diese Weise funktioniert er besser.«
»Hab schon verstanden, Eve. Nur ruhig. Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Ich bin ganz Ihrer Meinung.«
Aber sie fragte sich, ob Angus etwas ahnte, und befürchtete, sich mit ihrem Anfall von Redseligkeit noch tiefer hineingeritten zu haben. In London war es kinderleicht gewesen, sich bedeckt zu halten, aber hier in New York fiel es viel schwerer, sich regelmäßig und unbeobachtet zu treffen. Hier waren sie – die Briten – viel auffälliger und wurden darüber hinaus selbst zum Gegenstand der Neugier, weil sie ihren Krieg gegen die Nazis führten – seit Mai dieses Jahres mit ihren neuen Verbündeten, den Russen –, während Amerika nur besorgt zuschaute und ansonsten weitermachte wie zuvor.
»Wie stehen die Dinge insgesamt?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. Sie säbelte an ihrem Steak, der Heißhunger war ihr vergangen. Angus kaute, dachte angestrengt nach und setzte dann eine besorgte Miene auf, wie jemand, der zögert, eine schlechte Nachricht zu überbringen. »Die Dinge«, begann er, griff nach der Serviette und tupfte sich mit gezierter Geste den Mund. »Die Dinge stehen in etwa so, wie sie immer standen. Ich glaube nicht, dass etwas passieren wird, um die Wahrheit zu sagen.« Er sprach über Roosevelt, der nicht wage, den Kriegseintritt im Kongress zur Sprache zu bringen, weil er absolut sicher sei, die Abstimmung zu verlieren. Also müsse alles vertraulich bleiben, im Geheimen betrieben werden, hinter dem Rücken der Amerikaner. Die Lobby der Isolationisten sei unglaublich stark – wirklich unglaublich. »Haltet unsere Jungs aus dem europäischen Schlamassel heraus«, sagte er und versuchte vergeblich, den amerikanischen Akzent nachzuahmen. »Sie liefern uns Waffen und helfen, so gut sie können – solange wir durchhalten. Aber Sie wissen ja …« Er machte sich wieder über sein Steak her.
Sie fühlte sich plötzlich ohnmächtig, beinahe demoralisiert durch diese Sätze und fragte sich, ob das wirklich stimmte, ob es dann noch Sinn hatte, all diese Aktivitäten fortzusetzen, wenn sie nicht einmal ausreichten, um Roosevelt zum Handeln zu bewegen – all die Radiosender, Zeitungsredaktionen, Presseagenturen, die sie betrieben, all die Storys und Meldungen und Meinungen, die sie verbreiteten, all die Experten und berühmten Rundfunkmoderatoren, die sie bemühten, und das nur, um Amerika zum Kriegseintritt zu bewegen, zu drängen, zu überreden, zu überzeugen.
»Wir müssen einfach unser Bestes geben, Eve«, sagte Angus fröhlich, als hätte er gemerkt, wie sein Zynismus auf sie wirkte, und wollte nun dagegenhalten. »Wie es im Moment aussieht, sind die Yankees höchstens durch eine einseitige Kriegserklärung von Adolf zum Mitmachen zu bewegen.« Er lächelte verzückt – etwa wie nach einer riesigen Gehaltserhöhung. »Machen wir uns keine Illusionen.« Er senkte die Stimme und blickte sich vorsichtig um. »Wir sind hier nicht unbedingt beliebt. Viele hassen uns regelrecht. Uns und auch FDR – er muss sehr, sehr vorsichtig sein.«
»Er ist doch gerade wiedergewählt worden. In eine dritte Amtszeit – oder etwa nicht?«
»Klar. Weil er versprochen hat, Amerika aus dem Krieg herauszuhalten.«
Sie seufzte. Sollte sie sich jetzt die Laune verderben lassen? Der Tag hatte so gut angefangen. »Romer sagt, es gibt interessante Entwicklungen in Südamerika.«
»Sagt er das?« Angus tat unbeteiligt, aber Eva sah, wie er aufhorchte. »Hat er Ihnen Einzelheiten mitgeteilt?«
»Nein, nichts.« Schon wieder ein Ausrutscher. Was war heute mit ihr los? Als hätte sie ihre Sicherheit, ihre Balance verloren. Am Ende waren sie alle nur Krähen, die hinter Aas her waren.
»Gönnen wir uns noch einen Cocktail«, sagte Angus. »Essen, trinken, fröhlich sein – was will man mehr.«
Aber Eva fühlte sich seltsam niedergedrückt nach ihrem Lunch mit Angus und gequält von der Befürchtung, sich verraten zu haben – mit winzigen Bemerkungen, Zwischentönen, Hinweisen auf sie und Romer, die jemand wie Angus mit seinem wachen Verstand ohne weiteres in ein plausibles Bild umsetzen konnte. Als sie zum Büro von Transoceanic zurücklief und die großen Avenues überquerte – Park, Madison, Fifth –, in die einzigartigen Straßen-Schluchten hineinsah, um sich herum die Hast, das Stimmengewirr, den Lärm dieser selbstbewussten Stadt, dachte sie, dass auch sie, wäre sie eine junge Amerikanerin, eine junge New Yorkerin mit gesichertem Job und besten Chancen, trotz aller Sympathien für die Briten und ihren Überlebenskampf vielleicht ebenfalls sagen würde: Warum soll ich das alles opfern, das Leben unserer jungen Männer aufs Spiel setzen und mich für einen schmutzigen und vernichtenden Krieg entscheiden, der dreitausend Meilen entfernt ist?
In der Agentur fand sie Morris mit der tschechischen und der spanischen Übersetzerin beschäftigt. Er winkte ihr zu, und sie ging weiter in ihr Büro. Ihr fiel auf, dass es in den Vereinigten Staaten alle möglichen Nationalitäten gab – die irische, spanische, deutsche, polnische, tschechische, litauische und so weiter –, aber nicht die britische. Wo waren die britischen Amerikaner? Wer machte sich für sie stark, um den Argumenten der irischen, der deutschen, der schwedischen Amerikaner und all der anderen zu begegnen?
Um sich aufzumuntern und von diesen defätistischen Gedanken abzulenken, verbrachte sie den Nachmittag damit, ein kleines Dossier über eine ihrer Storys zusammenzustellen. Drei Wochen zuvor hatte sie, einen kleinen Schwips vortäuschend, in einem Gespräch mit dem New Yorker TASS-Korrespondenten (ihr Russisch kam ihr dabei sehr zupass) durchblicken lassen, dass die Royal Navy dabei war, eine neue Sorte von Wasserbomben zu erproben: Je tiefer sie zündete, umso stärker die Detonation – für U-Boote gebe es kein Entrinnen mehr. Der Mann von der TASS zeigte sich skeptisch. Zwei Tage später spielte Angus die Meldung – über das Büro der ONA – der New York Post zu. Der TASS-Mann rief an, um sich zu entschuldigen, und kündigte an, die Meldung nach Moskau weiterzukabeln. Als sie in den russischen Zeitungen erschien, griffen die englischen Zeitungen und Agenturen sie auf und leiteten sie weiter in die USA – der Kreis hatte sich geschlossen. Sie breitete die Zeitungsausschnitte auf dem Schreibtisch aus: Daily News, Herald Tribune, Boston Globe. »Neue tödliche Waffe gegen die U-Boot-Bedrohung.« Jetzt, da es eine amerikanische Meldung war, würden die Deutschen sie zur Kenntnis nehmen. Vielleicht erhielten die U-Boote Befehl, sich bei der Annäherung an Konvois vorsichtiger zu verhalten. Vielleicht würden die deutschen U-Boot-Besatzungen demoralisiert. Vielleicht würden die Amerikaner den wackeren Briten ein bisschen mehr zur Seite stehen. Vielleicht, vielleicht … Wenn sie Angus Glauben schenkte, war das alles Zeitverschwendung.
Ein paar Tage später kam Morris Devereux mit einem Ausschnitt aus der Washington Post in ihr Zimmer. Überschrift: »Russischer Professor begeht Selbstmord in Washingtoner Hotel.« Sie überflog den Artikel: Der Russe hieß Alexander Nikitsch, war 1938 mit Frau und zwei Töchtern in die USA emigriert und hatte als Professor für internationale Politik an der Johns Hopkins University gelehrt. Die Polizei fragte sich, warum er sich ausgerechnet in einem schäbigen Hotel umgebracht haben sollte.
»Sagt mir gar nichts«, meinte Eva.
»Nie von ihm gehört?«
»Nein.«
»Haben ihn deine Freunde von der TASS nie erwähnt?«
»Nein. Aber ich kann mich erkundigen.« Irgendetwas an Morris’ Art zu fragen kam ihr seltsam vor. Sonst die Gelassenheit in Person, klang er jetzt geradezu bohrend.
»Warum ist das wichtig?«, fragte sie.
Morris setzte sich und schien ein wenig zu entspannen. Nikitsch, erklärte er, sei ein hoher NKWD-Offizier gewesen, der nach den Stalin’schen Säuberungen von 1937 in die USA desertierte.
»Zum Professor haben sie ihn nur der Form halber gemacht – er hat nie gelehrt. Offenbar ist er – war er – eine Goldmine, was Informationen über die sowjetische Infiltration der USA betrifft … und Großbritanniens«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Deshalb waren wir sehr an ihm interessiert.«
»Ich dachte, wir ziehen jetzt alle am selben Strang«, sagte Eva und wusste schon, wie naiv das klang.
»Klar. Aber schau uns an. Was machen wir denn hier?«
»Einmal Krähe, immer Krähe.«
»Genau. Man möchte immer wissen, was die Freunde im Schilde führen.«
Sie überlegte kurz. »Was geht dich dieser tote Russe an? Ist doch nicht dein Bier, oder?«
Morris nahm den Zeitungsausschnitt wieder an sich. »Ich war mit ihm verabredet, für nächste Woche. Er wollte uns erzählen, was in England alles so gelaufen ist. Die Amerikaner haben von ihm bekommen, was sie wollten – offenbar hatte er sehr interessante Informationen für uns.«
»Und jetzt ist es zu spät.«
»Ja … sehr ungünstig.«
»Wie meinst du das?«
»Mir sieht es danach aus, als wollte jemand verhindern, dass er mit uns redet.«
»Und deshalb hat er sich umgebracht.«
Er lachte auf. »Die sind verdammt gut, diese Russen. Nikitsch hat sich in den Kopf geschossen, in einem abgeschlossenen Hotelzimmer, die Pistole in der Hand, der Schlüssel im Schloss, Fenster verriegelt. Aber wenn alles nach einem blitzsauberen Selbstmord aussieht, ist gewöhnlich etwas faul.«
Warum erzählt er mir das?, dachte Eva.
»Seit 1938 waren sie hinter ihm her«, fuhr Morris fort. »Und sie haben ihn erwischt. Zu blöd, dass sie nicht noch eine Woche gewartet haben …« Seine Miene heuchelte Bedauern. »Ich hatte mich so auf das Treffen mit Mr Nikitsch gefreut.«
Eva sagte nichts. Das war ihr alles ganz neu; sie fragte sich, ob Romer mit diesem Treffen zu tun hatte. Bisher hatte sie immer gemeint, Morris und sie seien nur mit den Angelegenheiten von Transoceanic befasst. Aber was weiß ich schon?, dachte sie dann.
»Haben die TASS-Leute nicht irgendwelche neuen Gesichter in der Stadt erwähnt?«
»Nicht mir gegenüber.«
»Tu mir einen Gefallen, Eve – telefonier ein bisschen mit deinen russischen Freunden und hör dir an, was sie über den Tod von Nikitsch zu sagen haben.«
»Einverstanden. Aber sie sind nur Journalisten.«
»Niemand ist ›nur‹ das eine oder andere.«
»Romers Regel.«
Er schnipste mit den Fingern und stand auf. »Deine Story über deutsche Seemanöver vor Buenos Aires macht sich sehr gut. Ganz Südamerika ist empört, überall Protest.«
»Schön«, sagte sie matt. »Jeder kleine Schritt ist wertvoll.«
»Kopf hoch, Eve. Übrigens – unser aller Herr und Meister will dich sehen. Eldorado Diner, in fünfzehn Minuten.«
Eva wartete eine Stunde im Diner, bis Romer auftauchte. Sie fand diese dienstlichen Treffen sehr seltsam: Sie wollte ihn küssen, sein Gesicht berühren, seine Hände halten, aber sie mussten sich an die steifen Umgangsformen halten.
»Tut mir leid, die Verspätung«, sagte er und setzte sich ihr gegenüber. »Ich glaube, es war jemand hinter mir her, zum ersten Mal in New York. Vielleicht sogar zwei. Ich musste in den Park, um sie loszuwerden.«
»Wer würde denn jemanden auf dich ansetzen?« Sie streckte das Bein unter dem Tisch und streichelte mit der Schuhspitze seine Wade.
»Das FBI.« Romer lächelte sie an. »Ich glaube, Hoover macht sich Sorgen wegen unseres Wachstums. Du hast ja die BSC gesehen. Ein Frankenstein-Monster. Und lass das bitte, sonst werde ich schwach.«
Er bestellte Kaffee, Eva noch eine Pepsi-Cola.
»Ich habe Arbeit für dich«, sagte er.
Sie flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Lucas … Ich will dich sehen.«
Romer blickte sie unverwandt an, sie zog ihr Bein zurück. »Ich möchte, dass du nach Washington fährst«, sagte er. »Ich möchte, dass du einen Mann kennenlernst. Er heißt Mason Harding und arbeitet in Harry Hopkins’ Presseabteilung.«
Sie wusste, wer Harry Hopkins war – Roosevelts rechte Hand. Eingesetzt als Handelsminister, in Wirklichkeit FDRs Berater, Mittelsmann, Macher und Vertrauter. Mit ziemlicher Sicherheit der zweitwichtigste Mann in Amerika – zumindest, was die Briten betraf.
»Ich soll also diesen Mason Harding kennenlernen. Warum?«
»Wende dich an die Presseabteilung. Sage, du möchtest Hopkins für Transoceanic interviewen. Wahrscheinlich lehnen sie ab, aber wer weiß? Du könntest auch Hopkins treffen. Aber die Hauptsache ist, du lernst Harding kennen.«
»Und dann?«
»Das werde ich dir sagen.«
Da war es wieder, dieses kribbelnde Gefühl der Erwartung, wie in Prenslo, als Romer sie zum Gasthaus beordert hatte. Ein seltsamer Gedanke befiel sie: Vielleicht war es meine Berufung, Spionin zu werden?
»Wann reise ich ab?«
»Morgen. Und heute machst du deine Termine.« Er reichte ihr einen Papierschnipsel mit einer Washingtoner Telefonnummer. »Das ist Hardings persönlicher Anschluss. Such dir ein nettes Hotel. Vielleicht komme ich kurz auf Besuch. Washington ist eine interessante Stadt.«
Die Erwähnung des Namens erinnerte sie an Morris’ Fragen.
»Weißt du etwas über diesen Nikitsch-Mord?«
Romer stutzte kaum merklich. »Wer hat dir davon erzählt?«
»Es stand in der Washington Post. Morris hat mich danach gefragt – ob meine Freunde bei der TASS etwas dazu sagen können.«
»Was hat Morris damit zu tun?«
»Weiß ich nicht.«
Sie sah förmlich, wie es in ihm arbeitete. Er war auf irgendeine Verbindung gestoßen, einen Zusammenhang, der ihm seltsam vorkam. Sein Gesicht veränderte sich; er spitzte den Mund und zog dann eine Art Grimasse.
»Warum sollte sich Morris Devereux für einen NKWD-Mord interessieren?«
»Also war es wirklich Mord – kein Selbstmord.« Sie zuckte die Schultern. »Er sagte, er wollte diesen Mann treffen – Nikitsch.«
»Bist du sicher?« Sie sah, dass Romer sich wunderte. »Ich war es, der ihn treffen wollte.«
»Vielleicht ihr beide. So hat er’s mir erzählt.«
»Ich werde ihn anrufen. Und jetzt verschwinde ich lieber.« Er beugte sich vor. »Ruf du mich an, wenn du Kontakt zu Harding hast. Aber nur einmal.« Er hob die Tasse an den Mund und sprach über den Rand, flüsterte ihr etwas zu, eine Zärtlichkeit, hoffte sie, aber sie verstand es nicht. Immer den Mund verdecken, wenn du etwas Wichtiges mitzuteilen hast – auch eine Romer-Regel. »Kennwort ›Operation Eldorado‹«, sagte er, »Harding ist ›Gold‹.« Er stellte die Tasse ab und ging zahlen.