Die Geschichte der Eva Delektorskaja

New York 1941

Von einer Telefonzelle in Brooklyn, unweit ihres Fluchtquartiers, rief Eva bei Transoceanic an. Fünf Tage waren seit den Vorfällen in Las Cruces vergangen, und in diesen fünf Tagen war sie auf Umwegen und unter Nutzung aller verfügbaren Verkehrsmittel – Flugzeug, Eisenbahn, Bus und Pkw – nach New York zurückgekehrt. Den ersten Tag in New York hatte sie damit verbracht, ihr eigenes Quartier zu beobachten. Als sie sicher war, dass niemand es bewachte, wagte sie sich hinein und verkroch sich erst einmal. Und als sie schließlich vermutete, dass man sich wegen ihres langen Schweigens allmählich Sorgen machte, rief sie an.

»Eve!« Morris Devereux schrie fast und vergaß die Konspiration. »Gott sei Dank. Wo steckst du?«

»Irgendwo an der Ostküste«, sagte sie. »Morris, ich werde nicht kommen.«

»Aber du musst«, sagte er. »Wir müssen dich sehen. Die Dinge haben sich geändert.«

»Weißt du denn, was dort unten passiert ist?«, sagte sie ziemlich giftig. »Ich kann froh sein, dass ich noch am Leben bin. Ich will Romer sprechen. Ist er zurück?«

»Ja.«

»Sag ihm, ich rufe ihn auf Sylvias Nummer bei der BSC an. Morgen Nachmittag um vier.«

Sie legte auf.

Dann kaufte sie ein – eine Büchsensuppe, ein Brot, drei Äpfel und zwei Packungen Lucky Strike – und kehrte zurück in ihr Zimmer im dritten Stock des Mietshauses in der Pineapple Street. Niemand behelligte sie, keiner ihrer anonymen Nachbarn schien zu registrieren, dass Miss Margery Allerdice im Hause war. Wenn sie das Badezimmerfenster öffnete und sich so weit hinauslehnte, wie es ging, konnte sie eine Turmspitze der Brooklyn Bridge sehen – aber nur an klaren Tagen. Sie hatte ein Wandklappbett, zwei Sessel, ein Radio, eine Kochnische mit zwei elektrischen Kochplatten, einen Ausguss aus Speckstein mit Kaltwasserhahn und ein Bad, abgetrennt durch einen Plastikvorhang mit tropischen Fischen, die alle in dieselbe Richtung schwammen. Sie machte die Suppe warm – Pilzsuppe –, aß sie mit Brot und Butter, dann rauchte sie drei Zigaretten und überlegte, was zu tun war. Vielleicht, dachte sie, ist es das Beste, jetzt zu fliehen … Sie hatte gute Papiere; als Margery Allerdice konnte sie verschwinden, bevor es überhaupt jemand bemerkte. Aber wohin? Nach Mexiko, und von dort per Schiff nach Spanien oder Portugal? Oder nach Kanada vielleicht? Oder war das zu nah? Und die BSC hatte auch in Kanada beachtliche Kräfte stationiert. Sie erwog die Vor- und Nachteile, schätzte, dass sie in Kanada besser zurechtkam, dass es dort leichter war, unerkannt zu bleiben. In Mexiko würde sie auffallen – eine junge Engländerin –, aber sie konnte weiter nach Brasilien oder, besser noch, nach Argentinien. In Argentinien lebten viele Engländer, sie konnte einen Job finden, als Übersetzerin, sich eine neue Legende geben, unsichtbar werden, sich irgendwo vergraben. Und das wollte sie am liebsten – aus der Welt verschwinden. Aber dann wurde ihr klar, dass all das Planen und Spekulieren, so wichtig es sein mochte, zu keinem Ergebnis führen würde, bevor sie nicht Romer gesehen und gesprochen hatte. Sie musste ihm berichten, was passiert war – vielleicht hatte er ja eine Erklärung für die vielen Ungereimtheiten. Danach konnte sie Entschlüsse fassen, vorher nicht.

Als es Abend war, hörte sie ein wenig Musik im Radio und ging die Vorfälle von Las Cruces noch einmal durch. »Die Vorfälle von Las Cruces« – eine tröstliche Formulierung: als wäre ihr Hotelzimmer doppelt gebucht gewesen oder ihr Auto auf dem Highway 80 liegen geblieben. Sie empfand keine Schuldgefühle, keine Reue wegen de Baca. Hätte sie ihn nicht getötet, hätte er sie getötet, wenige Augenblicke später. Geplant hatte sie nur, ihm ins Auge zu stechen und zu fliehen. Schließlich hatte sie nichts als einen gespitzten Bleistift – seine Augen waren das einzig sinnvolle Ziel, wenn es darum ging, ihn außer Gefecht zu setzen. Aber als sie an die entscheidenden Sekunden im Auto zurückdachte, an de Bacas Reaktion, seinen totalen Stupor, gefolgt vom sofortigen Tod, kam sie zu dem Schluss, dass der kraftvoll ausgeführte Stich mit dem Bleistift durch seinen Augapfel und den Sehnervenkanal direkt in sein Gehirn eingedrungen sein musste und dabei die Kopfschlagader – vielleicht auch den Hirnstamm – zerstört und auf diese Weise den fast augenblicklichen Herzstillstand herbeigeführt hatte. Eine andere Erklärung für seinen schnellen Tod gab es nicht. Hätte sie die Arterie verfehlt und der Bleistift wäre nur in sein Gehirn eingedrungen, hätte de Baca möglicherweise überlebt, und sie hätte zumindest fliehen können. Aber dank ihrem Glück – ihrem unglaublichen Glück –, ihrer Zielgenauigkeit und der Schärfe des Bleistifts war er genauso schnell gestorben wie an Blausäure oder auf dem Elektrischen Stuhl. Sie ging früh zu Bett und träumte, dass Raul ihr ein Coupé verkaufen wollte, einen kleinen roten Flitzer.

 

Genau eine Minute nach vier wählte sie Sylvias Nummer bei der BSC. Sie stand an einem Münztelefon vor dem Rockefeller Center auf der Fifth Avenue, den Eingang der BSC hatte sie von hier gut im Blick. Sylvias Telefon klingelte dreimal.

»Hallo, Eva.« Romers Stimme klang emotionslos, unüberrascht. »Wir möchten, dass du herkommst.«

»Hör mir gut zu«, sagte sie. »Verlass jetzt das Gebäude und geh südwärts die Fifth Avenue hinunter. Ich gebe dir zwei Minuten, andernfalls gibt es kein Treffen.«

Sie legte auf und wartete. Nach etwa dreieinhalb Minuten kam Romer aus dem Haus – gerade noch rechtzeitig, wie sie entschied; in so kurzer Zeit konnte er kein Kommando auf die Beine stellen. Er lief los, und sie beschattete ihn von der anderen Straßenseite, beobachtete, wie er sich verhielt, was sich hinter ihm tat, und ließ ihn etwa sechs Querstraßen weiterlaufen, bis sie sicher war, dass ihm niemand folgte. Sie trug Kopftuch und Brille, flache Schuhe und einen Kamelhaarmantel, den sie am Morgen in einem Billigladen gekauft hatte. An der nächsten Kreuzung überquerte sie die Straße und folgte ihm in dichtem Abstand bis zur nächsten Ecke. Der Trenchcoat, den er mit einem marineblauen Schal trug, war alt und hatte geflickte Stellen. Er war ohne Hut und schien unbekümmert südwärts zu schlendern, ohne nach eventuellen Kontakten Ausschau zu halten. Als sie zur 39th Street kamen, trat sie von hinten an ihn heran und sagte: »Folge mir.«

Sie liefen ostwärts bis zur Park Avenue und nordwärts zurück in Richtung 42nd Street und Grand Central Station und betraten die große Bahnhofshalle durch den Eingang Vanderbilt Avenue. Tausende von Pendlern durchquerten die riesige Halle, hastend, schiebend, drängelnd – zur Rushhour war dies ein geradezu idealer Treffpunkt, hatte sich Eva überlegt. Hier war sie kaum angreifbar, konnte aber leicht Verwirrung stiften und fliehen. Ohne sich umzuschauen, strebte sie dem zentralen Auskunftsschalter zu. Dort angekommen, drehte sie sich um und nahm die Brille ab:

Er war direkt hinter ihr, mit ausdrucksloser Miene.

»Beruhige dich, ich bin allein«, sagte er. »So blöd bin ich nicht.« Er schob sich näher an sie heran und senkte die Stimme. »Eva, wie geht’s dir?«

Zu ihrem gewaltigen Verdruss führte die Anteilnahme in seiner Stimme dazu, dass ihr plötzlich zum Weinen zumute war. Aber sie musste nur an Luis de Baca denken, um wieder hart und unnachgiebig zu werden. Sie nahm das Kopftuch ab und lockerte ihr Haar.

»Ich bin verraten worden«, sagte sie. »Jemand hat mich verraten.«

»Keiner von uns. Ich weiß nicht, was schiefgegangen ist, aber bei Transoceanic gibt es kein Leck.«

»Ich glaube, du irrst dich.«

»Natürlich glaubst du das. Das würde ich auch. Aber ich müsste es wissen, Eva. Ich würde das rauskriegen. Wir haben kein Leck.«

»Und die BSC?«

»Die BSC würde dir einen Orden verleihen, wenn sie könnte«, sagte er. »Dein Einsatz war großartig.«

Das warf sie um. Sie ließ den Blick über die wogende Menschenmenge schweifen, wie um nach einer Eingebung zu suchen, sie blickte zum gewaltigen Deckengewölbe mit dem blauen Sternenhimmel auf; sie fühlte sich schwach. Mit einem Mal spürte sie die Anspannung der letzten Tage in allen Gliedern. Sie wollte nur noch das eine – dass Romer sie in die Arme nahm.

»Gehen wir nach unten«, sagte er. »Hier können wir nicht reden. Ich hab dir eine Menge zu erzählen.«

In der unteren Halle fanden sie einen Platz an einer Milchbar. Sie bestellte einen Kirsch-Milchshake mit einer Kugel Vanilleeis, plötzlich hatte sie Appetit auf Süßes. Während des Wartens schaute sie sich um.

»Keine Sorge«, sagte Romer. »Ich bin allein hier. Du musst ins Büro kommen, Eva. Nicht jetzt, nicht heute oder morgen. Lass dir Zeit. Die hast du dir verdient.« Er griff nach ihrer Hand. »Was du da hingekriegt hast, ist erstaunlich«, sagte er. »Erzähl mir, was passiert ist. Fang an mit deiner Abreise von New York.« Er ließ ihre Hand los.

Also erzählte sie: Sie schilderte die gesamte Reise von New York bis Las Cruces, und Romer hörte zu – wortlos. Erst als sie fertig war, bat er sie, die Geschehnisse zwischen dem Abschied von Raul und der Begegnung mit de Baca noch einmal zu wiederholen.

»Und jetzt erzähle ich, was in den Tagen danach passiert ist«, sagte er, als sie fertig war. »Der Sheriff von Dona Ana County wurde zu dem Unfall gerufen, den du gemeldet hattest. Sie fanden das Fragment der Landkarte und das Geld und benachrichtigten die FBI-Dienststelle in Santa Fe. Die Karte ging an Hoover in Washington, und Hoover persönlich hat sie dem Präsidenten auf den Schreibtisch gelegt.« Er schwieg einen Moment. »Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, also stellten sie uns zur Rede, was nur natürlich ist, weil es da eine Verbindung zur brasilianischen Karte zu geben schien. Aber wie die Sache erklären? Den Tod eines mexikanischen Detektivs bei einem Autounfall nahe der Grenze. Dann eine beträchtliche Summe Geld und das Fragment einer Landkarte, auf Deutsch, mit potenziellen Luftverbindungen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Eine abgekartete Sache? Ein unglücklicher Zufall? Hatte der Mexikaner die Karte gekauft? Oder wollte er sie verkaufen, und die Sache ging schief? Wollte sie ihm jemand abjagen, bekam es mit der Angst und ist geflohen?« Er breitete die Hände aus. »Keiner weiß es. Die Ermittlungen dauern an. Die Hauptsache aber aus unserer Sicht – der BSC – ist, dass damit die Echtheit der brasilianischen Karte erwiesen ist. Unbezweifelbar.« Er lachte leise. »Das hättest du nicht voraussehen können, Eva, aber der einzigartige Coup in dieser Geschichte besteht darin, dass die Karte bei Roosevelt und Hopkins gelandet ist, und das ohne den Hauch eines Verdachts gegen die BSC. Vom County-Sheriff ans FBI, von Hoover ins Weiße Haus. Was tut sich da südlich der Grenze? Was führen die Nazis im Schilde mit ihren Fluglinien und ihren Gauen? Es hätte nicht besser laufen können.«

Eva dachte nach. »Aber das Material war minderwertig.«

»Für sie war es gut genug. Raul wollte die Karte einfach publik machen, an eine Lokalzeitung schicken. So war der Plan. Bis sich dein Plan durchsetzte.«

»Aber ich hatte keinen Plan.«

»Schon gut. Deine … Improvisation. Not ist die Mutter der Erfindung und all das.« Er blickte sie an, beinahe forschend, wie ihr schien, um zu sehen, ob sie sich irgendwie verändert hatte. »Die Hauptsache aber«, redete er weiter, »das Unglaubliche ist, dass alles hundertmal besser gelaufen ist, als wir zu hoffen gewagt hätten. Jetzt kann keiner mit dem Finger auf die Briten und die BSC zeigen und sagen: Wieder einer eurer schmutzigen Tricks, mit denen ihr uns in euren europäischen Krieg hineinziehen wollt. Sie haben die Sache selbst ausgegraben, in einem vergessenen Winkel ihres eigenen Hinterhofs. Was kann da der Bund noch sagen? Oder America First? Es ist nun sonnenklar: Die Nazis planen Fluglinien von Mexico City nach San Antonio und Miami. Sie lauern schon an deiner Schwelle, Amerika, das ist keine europäische Angelegenheit mehr – wach endlich auf.« Mehr brauchte er gar nicht zu sagen. Eva verstand schon, dass sich das ganze Geschehen zu einer einzig möglichen Deutung zusammenfügte.

»London ist überglücklich«, sagte er. »Das kann ich dir flüstern. Vielleicht bringt das die entscheidende Wende.«

Wieder spürte sie diese Müdigkeit, die sie zu Boden zog wie ein schwerer Rucksack. Vielleicht aus lauter Erleichterung, dachte sie. Ich brauche nicht zu fliehen, alles hat sich zum Guten gewendet – irgendwie, auf rätselhafte Weise.

»Okay. Ich komme ins Büro«, sagte sie. »Am Montag bin ich wieder da.«

»Gut. Es gibt viel zu tun. Transoceanic muss die Sache weiter verfolgen, auf allen Kanälen.«

Sie stieg von ihrem Barhocker, während Romer den Milchshake bezahlte.

»Die Sache war hochgefährlich, musst du wissen«, sagte sie mit einem Rest Bitterkeit in der Stimme.

»Ich weiß. Das ganze Leben ist hochgefährlich.«

»Wir sehen uns am Montag. Mach’s gut.« Sie wandte sich zum Gehen, voller Verlangen nach ihrem Bett.

»Eva«, sagte Romer und hielt sie am Ellbogen fest. »Mr und Mrs Sage, Algonquin Hotel, Zimmer 340.«

 

»Erzähl mir genau, was passiert ist«, sagte Morris Devereux. »Fang an mit deiner Abreise aus New York.«

Es war Montagmorgen, sie saßen in seinem Büro bei Transoceanic. Draußen herrschte kaltes Spätnovemberwetter, Schneeschauer waren angesagt. Eva hatte das Wochenende mit Romer im Algonquin verbracht. Den ganzen Samstag über hatte sie geschlafen, Romer war aufmerksam und liebevoll zu ihr gewesen. Am Sonntag machten sie einen Spaziergang im Central Park, gingen nach einem Brunch im Plaza ins Hotel zurück und liebten sich. Am Abend kehrte sie in ihr Apartment zurück. Sylvia hatte sie schon erwartet und war vorgewarnt: Du brauchst nicht zu sprechen, sagte sie, lass dir Zeit, ich bin da, wenn du mich brauchst. Eva konnte sich erholen, all die bohrenden Fragen in ihrem Kopf waren zur Ruhe gekommen, bis Morris Devereux’ Aufforderung sie von neuem aufrührte. Sie erzählte ihm dasselbe, was sie Romer erzählt hatte, ohne etwas auszulassen. Devereux hörte gespannt zu und machte kurze Notizen in einen Block, der vor ihm lag – Daten und Uhrzeiten.

Als sie fertig war, schüttelte er ungläubig den Kopf. »Und dann ist so ein Riesending draus geworden. Phantastisch. Besser als der Belmonte-Brief. Besser als die Brasilien-Karte.«

»Das klingt ja wie ein machiavellistisches Komplott«, sagte sie. »Aber es gab keinen Plan. Alles ist spontan passiert, aus einer Eingebung heraus. Ich hab nur versucht, Spuren zu verwischen, mir ein bisschen Vorsprung zu verschaffen, Leute irrezuführen. Ich hatte keinen Plan«, beharrte sie.

»Vielleicht trifft das für alle großen Aktionen zu«, sagte er. »Wenn der Zufall hineinspielt, entsteht etwas völlig Neues und Bedeutendes.«

»Vielleicht. Aber ich bin verraten worden, Morris«, wandte sie mit provozierender Härte ein. »Würdest du das nicht auch sagen?«

Er verzog das Gesicht. »Wenn du mich fragst, würde ich sagen, es sieht ganz danach aus.«

»Was mir nicht aus dem Sinn geht, ist der Plan, den sie verfolgen«, sagte sie. »Und der beschäftigt mich viel mehr als die Tatsache, dass ich ihn irgendwie durch Glück und Zufall durchkreuzt und in unseren sogenannten Triumph verwandelt habe. An dem bin ich nicht interessiert. Ich sollte tot aufgefunden werden, in der Wüste. Mit einer verpfuschten Mexiko-Karte und fünftausend Dollar in der Tasche. Das war der eigentliche Plan. Aber warum? Was steckt dahinter?«

Er schaute sie verblüfft an, als ihm die Logik ihrer Worte aufging. »Gehen wir’s noch einmal durch«, sagte er. »Wann hast du die zwei Krähen in Denver zum ersten Mal gesehen?«

Sie gingen die Abfolge der Ereignisse ein weiteres Mal durch, und jetzt spürte sie, dass sich Morris auf etwas anderes bezog, etwas, was er ihr nicht sagen konnte – noch nicht.

»Wer hat mich geführt, Morris?«

»Ich war es. Ich hab dich geführt.«

»Und Angus und Sylvia.«

»Aber unter meiner Aufsicht. Es war mein Kommando.«

Sie blickte ihn scharf an. »Also müsste ich dir sehr misstrauen.«

»Ja«, sagte er nachdenklich, »danach sieht es aus.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich würde mir selber auch misstrauen. Du hast die Krähen in Denver abgeschüttelt. Hundert Prozent?«

»Hundert Prozent.«

»Aber dann haben sie in Las Cruces auf dich gewartet.«

»Dass ich nach Las Cruces fahren würde, wusste ich doch erst, nachdem es mir der Mann in Albuquerque gesagt hatte. Ich hätte überallhin fahren können.«

»Dann hat er dich in die Falle gelockt.«

»Der war nur ein Laufbursche. Ein kleiner Kurier.«

»Die Krähen in Denver waren auch nur kleine Schnüffler.«

»Da bin ich mir sicher. Standardbesetzung FBI.«

»Was mich auf den Gedanken bringt«, sagte Morris und nahm die Arme wieder herunter, »dass die Krähen in Las Cruces keine Standardbesetzung waren.«

»Wie meinst du das?« Jetzt wurde sie hellhörig.

»Sie waren verdammt gut. Zu gut für dich.«

Das war etwas, woran sie nicht gedacht hatte. Auch Romer nicht. Denver und Las Cruces, das waren für sie Start- und Endpunkt ein und derselben Operation gewesen. Devereux’ Gedanke implizierte nun, dass dort zwei Operationen nebenher liefen, gleichzeitig, unabhängig voneinander.

»Zwei verschiedene Kommandos? Das eine unfähig, das andere clever? So ein Unsinn.«

Devereux hob die Hand. »Halten wir uns doch an die Hypothese und kümmern wir uns nicht um das Ergebnis. Haben sie dir das in Lyne nicht beigebracht?«

»Wenn sie wirklich so gut waren, hätten sie mir nicht auflauern müssen«, sagte sie nach kurzer Überlegung. »Dann hätten sie mich von New York an im Auge behalten.«

»Möglich. Genau.«

»Aber wer hat das zweite Kommando geschickt, wenn nicht das FBI?« In ihrem Kopf herrschte mal wieder Aufruhr. Fragen, Fragen, Fragen, aber keine Antworten. »Der Bund? America First? Private Auftraggeber?«

»Du suchst schon wieder nach der Lösung. Spielen wir die Sache erst mal durch. Sie wollten deine Leiche. Dich mit der Karte im Gepäck. Du wärst als britische Spionin identifiziert worden, weil dir das FBI seit New York auf den Fersen war. Obwohl du sie abgeschüttelt hast.«

»Aber wo ist der Sinn? Was sollten sie mit einer toten britischen Agentin?«

Jetzt machte Morris das gequälte Gesicht. »Du hast recht. Die Sache geht nicht auf. Irgendwas fehlt da …« Er sah aus wie ein Mann, der die Wahl zwischen mehreren unguten Optionen hat.

Eva versuchte einen neuen Vorstoß: »Wer wusste, dass ich in Las Cruces war?«

»Ich, Angus, Sylvia.«

»Romer?«

»Nein. Der war in England. Er wusste nur von Albuquerque.«

»Raul wusste es«, sagte Eva. »Und der Mann in Albuquerque. Also noch mehr Leute außer euch dreien …« Ihr kam ein Gedanke: »Wieso eigentlich wusste de Baca, dass ich im Motor Lodge war? Niemand außer mir konnte das wissen – du nicht, Angus nicht, Sylvia nicht. Ich habe getrickst, getäuscht, Haken geschlagen, alles, was nur ging. Ich wurde nicht beschattet. Das schwöre ich.«

»Es muss aber so sein«, beharrte er. »Überleg doch mal: Ebendeshalb hatten die in Las Cruces nichts mit denen in Denver zu tun. Sie haben mehrere Leute auf dich angesetzt oder dir aufgelauert. Ein ganzes Kommando – vier, fünf Mann. Und sie waren gut.«

»In dem roten Coupé saß eine Frau«, erinnerte sich Eva. »Vielleicht habe ich nicht genug auf Frauen geachtet.«

»Was ist mit dem Portier vom Alamogordo Inn? Er wusste, dass du abreist.«

Sie dachte nach: Dieser kleine Giftzwerg an der Rezeption? Und entsann sich einer Weisheit aus Lyne: Die Besten sind oft die, denen man es am wenigsten zutraut. Vielleicht auch Raul. Albino-Raul, der Portier, das Pärchen im Coupé – ein Kommando, meinte Morris – und noch zwei andere, die sie nicht gesehen hatte. Und wer waren die Männer, denen de Baca beim Verlassen des Motor Lodge ein Zeichen gegeben hatte? Plötzlich kam ihr die Sache schon plausibler vor. Sie musterte Morris, der gedankenverloren an seiner Unterlippe zupfte. Will er mir nicht etwas einreden?, fragte sie sich. Sind das seine intelligenten Überlegungen, oder will er mich manipulieren? Sie brach die Überlegung ab. Jetzt drehte sich schon alles im Kreis.

»Ich denke weiter darüber nach«, sagte sie. »Ich ruf dich an, wenn ich eine Erleuchtung habe.«

Beim Rückweg ins Büro fiel ihr ein, was der Portier bei der Anmeldung im Alamogordo Inn zu ihr gesagt hatte: Sind Sie sicher, dass Sie hier wohnen wollen? Außerhalb der Stadt gibt es nettere Hotels. Hatte er ihr absichtlich einen Gedanken eingeträufelt? Nein, dachte sie, das ist absurd – langsam wurde sie verrückt.

 

Am Abend briet Sylvia ein Steak für sie, und sie öffneten eine Flasche Wein.

»Das ganze Büro summt vor Aufregung«, meinte sie, um etwas aus Eva herauszubekommen. »Sie sagen, du bist der große Star.«

»Ich werd’s dir erzählen, das verspreche ich«, sagte Eva. »Ich hab es nur selbst noch nicht annähernd begriffen.«

Gerade als sie ins Bett gehen wollte, rief Morris Devereux an. Er klang aufgeregt, nervös – von seiner gewohnten Gelassenheit war nichts mehr zu spüren.

»Kannst du sprechen?«, fragte er.

Eva vergewisserte sich mit einem Blick, dass Sylvia den Tisch abräumte und nicht mithörte. »Ja. Kein Problem.«

»Tut mir leid, dass ich so spät anrufe, aber etwas beschäftigt mich, und nur du kannst mir eine Antwort darauf geben.«

»Und was ist das?«

»Warum hast du Raul die Karte nicht einfach übergeben?«

»Wie bitte?«

»Ich meine: Das war dein Auftrag, oder nicht? Du solltest Raul einfach ein ›Päckchen‹ übergeben, zusammen mit dem Geld.«

»Ja.«

»Und warum hast du es nicht getan?«

Sie blickte sich um, in der Küche klapperte Geschirr.

»Weil ich die Karte geprüft habe und fand, dass sie verpfuscht war. Minderwertige Ware – irgendwas war faul an der Sache.«

»Hat dir jemand aufgetragen, die Ware zu prüfen?«

»Nein.«

»Warum hast du’s dann getan?«

»Weil … weil ich dachte, ich müsste …« Jetzt stellte sie sich die Frage selbst: Es war eine reine Instinktentscheidung gewesen. »Ich wollte einfach nichts falsch machen.«

Er wurde still. Nach einer Sekunde fragte sie: »Hallo, bist du noch da?«

»Ja«, erwiderte er. »Die Sache ist die: Hättest du die Ware an Raul übergeben, wie es deinem Auftrag entsprach, wäre nichts von alledem passiert. Verstehst du nicht? Es ist alles nur deshalb so gekommen, weil du nicht getan hast, was du solltest.«

Eva dachte nach. Sie konnte nicht erkennen, worauf er hinauswollte.

»Ich kann dir nicht folgen«, sagte sie. »Willst du damit sagen, dass das irgendwie alles meine Schuld ist?«

»Jesus Maria!«, sagte er plötzlich atemlos.

»Morris? Alles in Ordnung?«

»Jetzt begreife ich …«, sagte er beinahe zu sich selbst. »Mein Gott. Ja …«

»Was begreifst du?«

»Morgen muss ich ein paar Recherchen machen. Sehen wir uns morgen. Morgen Nachmittag.« Als Treffpunkt nannte er ein Kino am Broadway, ein wenig nördlich des Times Square, das rund um die Uhr Trickfilme und Wochenschauen zeigte.

»Um vier ist es dort immer leer«, sagte er. »Setz dich in die letzte Reihe. Ich finde dich dann.«

»Was ist denn, Morris? Du kannst mich doch nicht so hinhalten!«

»Ich muss ein paar sehr diskrete Nachforschungen anstellen. Sag niemandem etwas. Ich fürchte, es ist ernst.«

»Und ich dachte, alle wären gespannt wie die Flitzbogen.«

»Meine Vermutung geht dahin, dass es sich bei dem Kommando in Las Cruces um unsere Freunde in Grau handeln könnte.«

Unsere Freunde in Grau, das war der »Deutsch-Amerikanische Volksbund«.

»Leute von dort?«

»Nein, von weiter her.«

»Mein Gott.«

»Sag nichts. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht.«

Sie legte auf. In Wirklichkeit redete Morris vom SD – dem Sicherheitsdienst. Kein Wunder, dass er nervös war – wenn das stimmte, dann hatten die Deutschen einen ihrer Leute in der BSC, im sensibelsten Bereich der Operation.

»Wer war das?«, fragte Sylvia von der Küche her. »Willst du Kaffee?«

»Ja, bitte. Es war Morris. Ein Problem in der Buchhaltung.«

»Ach ja?« Sie wussten immer, wann sie sich belogen, nahmen es aber nicht übel. Sylvia registrierte nur das Ungewöhnliche der Situation. Morris musste schon sehr nervös sein, wenn er in dieser Weise auf sich aufmerksam machte. Sie tranken ihren Kaffee, hörten noch ein bisschen Musik im Radio und gingen zu Bett. Eva war fast schon eingeschlafen, als sie zu hören glaubte, dass Sylvia einen kurzen Anruf machte. Sie fragte sich, ob sie ihr von Morris’ Verdacht hätte erzählen sollen, entschied aber, dass es besser war, Vermutungen zu untermauern oder zu widerlegen, bevor man sie mit anderen teilte. Während sie dalag, ging ihr das Telefongespräch noch einmal durch den Kopf: Morris hatte in den Geschehnissen von Las Cruces etwas entdeckt, was sie nicht sah oder sehen konnte. Sollte sie nicht vielleicht doch etwas von dem morgigen Treffen mitteilen – als Sicherheit? Aber sie entschied sich dagegen und wollte erst einmal abwarten, was Morris zu sagen hatte. Aus irgendeinem Grund traute sie ihm, und ein solches Vertrauen, das wusste sie nur zu gut, war der schwerste Fehler, den man machen konnte.

 

Aber am nächsten Morgen im Büro war keine Spur von Morris, selbst mittags ließ er sich nicht blicken. Eva arbeitete an einer Fol gestory zur Mexiko-Karte, die von einer neuen Generation viermotoriger deutscher Passagierflugzeuge handelte – Weiterentwicklungen des Seeaufklärers Condor Fw 200 –, die eine Reichweite von zweitausend Meilen hatten, mehr also, als man brauchte, um den Atlantik zwischen Westafrika und Südamerika zu überqueren. Wenn sie die Meldung, dass eine argentinische Fluglinie sechs dieser Maschinen bestellt hatte, in einer spanischen Zeitung unterbringen konnte – El Diario oder Independiente –, dann konnte diese Story Beine bekommen.

Sie brachte den Entwurf zu Angus, der neuerdings immer öfter bei Transoceanic zu sitzen schien und immer seltener bei seinem Sender.

Angus überflog den Text.

»Was hältst du davon?«, fragte sie.

Er wirkte zerstreut, nicht besonders freundlich, und sie bemerkte, dass sein Aschenbecher voller Zigarettenstummel war.

»Warum in Spanien?«

»Es ist besser, die Sache dort anzufangen, damit Argentinien dementieren kann. Die Meldung kriegt größere Verbreitung, wenn sie von Spanien ausgeht und dann in Südamerika aufgegriffen wird. Danach können wir es vielleicht hier in den USA versuchen.«

»Existieren diese Pläne?«

»Die Condor existiert.«

»In Ordnung. Klingt gut. Viel Glück.« Er griff wieder nach der Zigarettenschachtel – offenbar war ihm alles egal.

»Hast du zufällig Morris gesehen?«, fragte sie.

»Er sagte, dass er heute den ganzen Tag im Rockefeller Center ist – irgendwas recherchieren.«

»Stimmt etwas nicht, Angus? Hast du Probleme?«

»Nein, nein«, sagte er und brachte unter Mühe ein glaubhaftes Lächeln zustande. »Nur ein paar Martinis zu viel letzte Nacht.«

Ein wenig verstört verließ sie sein Zimmer. Morris war bei der BSC – interessant, dass Angus Bescheid wusste. Hatte Morris ihm etwas erzählt? Ließ sich Angus’ ungewohnte Knurrigkeit damit erklären? Sie dachte weiter darüber nach, während sie ihre Condor-Story tippte und zu einem der Spanisch-Übersetzer brachte.

Zum Mittagessen kam sie erst später – in einem Automatenrestaurant auf der Seventh Avenue, wo sie ein Thunfisch-Sandwich, ein Stück Käsekuchen und ein Glas Milch auswählte. Was hatte Morris im Rockefeller Center zu suchen? Der Las-Cruces-Einsatz war natürlich in der BSC geplant worden … Sie aß ihr Sandwich und ging zum hundertsten Mal die Ereignisse durch, die zur Begegnung mit de Baca geführt hatten, um etwas zu finden, was ihr bisher entgangen war. Was war es, worauf Morris gestoßen war und sie nicht? Also: De Baca erschießt sie und sorgt dafür, dass ihre Leiche schnell gefunden wird. Die Karte wird entdeckt, zusammen mit etwa fünftausend Dollar. Welchen Eindruck würde das erwecken? Junge britische Agentin in New Mexico ermordet aufgefunden, im Gepäck eine verdächtige Landkarte. Das ganze FBI würde sich sofort fragen, was die BSC wieder ausgeheckt hatte. Eine hochgradig peinliche Angelegenheit mit vernichtender Wirkung – und ein netter Gegenschlag der deutschen Abwehr, wie ihr nun klar wurde. Eine britische Agentin bei der Verbreitung von Antinazipropaganda enttarnt. Aber wir machen doch nichts anderes als das, wenn wir nur die Chance bekommen, sagte sie sich, und jeder beim FBI weiß das. Was wäre also sensationell daran?

Aber mehrere Punkte störten das Bild. Niemand hatte je verlauten lassen, dass die deutsche Abwehr zu solchen Operationen in den USA imstande war, ein ganzes Geheimkommando von New York nach Las Cruces schicken konnte – dazu noch mit solchen Mitteln und Techniken ausgestattet, dass sie nichts davon bemerkt hatte. Dabei war sie äußerst vorsichtig gewesen – was ja auch zur Entdeckung der Krähen in Denver geführt hatte. Wie viele gehörten zu einem solchen Kommando? Sechs, acht Leute, die ständig ausgewechselt wurden, darunter auch ein paar Frauen? Sie hätte so etwas bemerkt, sagte sie sich. Aber stimmte das auch? In Las Cruces war sie ständig auf der Hut gewesen, und es ist äußerst schwer, ein misstrauisches Zielobjekt zu beschatten, aber sie musste zugeben, dass sie nie auf Frauen geachtet hatte. Dann wieder dachte sie: Warum war ich so misstrauisch? Habe ich unterschwellig gespürt, dass sich die Schlinge um mich zuzog? Sie brach ihre Überlegungen ab und beschloss, vorzeitig ins Trickfilmkino zu gehen. Ein bisschen Lachen konnte ihr nur guttun.

 

In der letzten Reihe des fast leeren Kinos wartete sie zwei Stunden auf Morris und sah dabei eine Abfolge von Trickfilmen mit Mickymaus, Daffy Duck, Tom und Jerry, die ab und zu durch die Wochenschau mit neuen Nachrichten vom europäischen Krieg unterbrochen wurden. »Die deutsche Kriegsmaschine kommt vor den Toren Moskaus zum Stehen«, verkündete der Sprecher mit dröhnender Penetranz. »General Winter übernimmt das Kommando.« Sie sah Pferde bis zum Widerrist im Morast versinken, der zäh und klebrig wirkte wie flüssige Schokolade, sie sah erschöpfte, ausgemergelte deutsche Soldaten, die sich zur Tarnung mit Laken umhüllten und steifbeinig von Haus zu Haus rannten; erfrorene Menschen im Schnee, die kaum noch von zerborstenen Bäumen oder verstreuten Trümmern zu unterscheiden waren; brennende Dörfer, in deren Feuerschein Tausende russische Soldaten vorwärts hasteten, quer über die Schneefelder zum Gegenangriff. Sie versuchte sich vorzustellen, was dort um Moskau geschah – Moskau, ihre Geburtsstadt, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte –, und stellte fest, dass ihr Gehirn sich weigerte, irgendwelche Antworten zu liefern. Donald Duck übernahm das Kommando auf der Leinwand, zu ihrer Erleichterung. Die Leute fingen an zu lachen.

Als ihr klar wurde, dass sie vergebens auf Morris wartete, und sich das Kino langsam, aber sicher mit Leuten füllte, die von der Arbeit kamen, machte sie sich auf den Heimweg in ihr Apartment. Sie beschwichtigte sich mit der Tatsache, dass drei von vier solcher vereinbarten Treffs ins Wasser fielen – es war viel zu kompliziert und riskant, die jeweiligen Partner über Verspätungen oder Verschiebungen zu informieren, trotzdem nagten gewisse Ängste an ihr. Oder waren die ernst zu nehmen? Vielleicht steckte dahinter nur die Neugier, was Morris ihr mitteilen wollte. Er würde sich rechtzeitig melden, sagte sie sich, sie würden sich treffen, und er würde ihr mitteilen, was er herausgefunden hatte. Als sie zu Hause war, prüfte sie als Erstes die Fallen in ihrem Zimmer – Sylvia hatte nicht in ihren Sachen gewühlt, wie sie mit fast lachhafter Beglückung feststellte. Manchmal hatte sie dieses ewige Misstrauen, die ständige Wachsamkeit gründlich satt – wie kann man überhaupt so leben?, fragte sie sich. Immer auf der Hut sein, alles beargwöhnen und ständig in Angst, verraten zu werden, aufzufliegen. Sie machte sich eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette und wartete auf Morris’ Anruf.

Als Sylvia nach Hause kam, fragte Eva ganz beiläufig, ob sie Morris an diesem Tag im Rockefeller Center gesehen hatte. Sylvia verneinte und erinnerte sie daran, wie viele hundert Leute dort jetzt arbeiteten, wie sehr die BSC gewachsen war – wie ein Großunternehmen, das zwei ganze Etagen des Wolkenkratzers mit seinen vollgestopften Büros ausfüllte und sich schon auf weitere Etagen ausweitete. Morris hätte eine ganze Woche dort verbringen können, ohne dass sie ihm begegnet wäre.

Gegen sieben beschlich Eva eine leichte, aber hartnäckig bohrende Unruhe. Sie rief bei Transoceanic an und erhielt vom Diensthabenden die Auskunft, dass Mr Devereux den ganzen Tag nicht im Büro gewesen sei. Darauf rief sie Angus Woolf in seinem Apartment an, aber er nahm nicht ab, obwohl sie es lange klingeln ließ.

Gegen halb acht verabschiedete sich Sylvia, um mit einem Freund ins Kino zu gehen – Der Malteserfalke –, und ließ Eva allein in der Wohnung zurück. Sie setzte sich hin und starrte das Telefon an – das Dümmste, was sie tun konnte, es war ihr klar, aber ihr war trotzdem wohler dabei. Sie versuchte, ihr letztes Gespräch mit Morris zu rekonstruieren. Ganz deutlich hörte sie sein leises »Jesus Maria!«, als er irgendeine Erleuchtung hatte, als er das fehlende Glied irgendeiner Kette entdeckte. Seine Stimme klang eher schockiert als erschrocken, dachte sie, als wäre die mögliche Erklärung so … unerwartet, so drastisch, dass ihm unwillkürlich dieser Ausruf entfuhr. Er wollte sie einweihen, sonst hätte er den Treff im Kino nicht vorgeschlagen, und vor allem wollte er unter vier Augen mit ihr sprechen. Unter vier Augen. Sie überlegte. Warum konnte er mir nicht durch die Blume sagen, was er zu sagen hatte? Ich hätte ihn schon verstanden. Vielleicht war die Botschaft zu schockierend, zu niederschmetternd?

Sie beschloss, gegen alle Regeln in seinem Apartment anzurufen.

»Ja?«, sagte ein Mann mit amerikanischem Akzent.

»Könnte ich Elizabeth Wesley sprechen, bitte?«, sagte sie ebenfalls auf Amerikanisch.

»Ich glaube, Sie sind falsch verbunden.«

»Verzeihung.«

Sie legte auf und griff ihren Mantel. Auf der Straße fand sich schnell ein Taxi, das sie nach Murray Hill fuhr. Morris wohnte dort in einem Hochhaus, einem anonymen Wohnturm wie sie alle. Sie ließ das Taxi ein paar Straßen entfernt halten und lief den Rest zu Fuß. Vor dem Hauseingang parkten zwei Polizeiautos. Im Vorbeigehen sah sie den Portier hinter seinem Pult Zeitung lesen. Sie wartete fünf Minuten, bis ein Pärchen kam, das einen Schlüssel hatte, folgte ihm schnell durch die Tür und begann zu schnattern: »Entschuldigung, Sie wissen nicht zufällig, ob Linda und Mary Weiss in der sechzehnten oder der siebzehnten Etage wohnen? Ich bin eben von ihnen weg und hab meine Börse vergessen. Und ich wollte in den Club. Man hält es nicht für möglich.« Der Mann winkte dem Portier zu, der von seiner Zeitung aufsah, das beschwingte Trio zur Kenntnis nahm und weiterlas. Das Pärchen kannte die Weiss-Schwestern leider nicht, aber Eva fuhr mit ihren neuen Freunden bis in die zehnte Etage – wo sie ausstiegen –, dann weiter in die dreizehnte und lief die Feuertreppe hinab zur zwölften, wo Morris wohnte.

Vor seinem Apartment standen Polizisten zusammen mit Angus Woolf. Angus Woolf? Was macht der hier?, dachte sie. Und mit einem Schlag wurde ihr übel. Sie begriff, dass Morris tot sein musste.

»Angus«, rief sie leise und ging auf ihn zu. »Was ist passiert?«

Angus signalisierte den Polizisten, dass sie Zutritt hatte, und stakste mit seinen Krücken hastig auf sie zu. Sein Gesicht war bleich.

»Verschwinde lieber, Eve«, sagte er. »Hier ist System Blau.«

System Blau bedeutete höchste Gefahrenstufe.

»Wo ist Morris?«, fragte sie und versuchte, die Nerven zu behalten, ganz ruhig und gefasst zu scheinen, dabei wusste sie die Antwort schon.

»Morris ist tot«, sagte Angus. »Er hat sich umgebracht.« Sie sah ihm an, dass er geschockt war: Schließlich waren die beiden seit vielen Jahren Freunde und Kollegen gewesen, schon lange vor ihrem Einstieg beim AAS.

Ihr Mund wurde trocken, wie von innen ausgesaugt. »0 mein Gott«, sagte sie.

»Verschwinde lieber, Eve«, wiederholte Angus. »Hier ist die Kacke am Dampfen.«

Da kam Romer aus dem Apartment. Er wollte die Polizisten ansprechen, warf einen Blick in den Korridor und entdeckte sie. Er schwenkte um und lief auf sie zu.

»Was machst du hier?«

»Ich hatte mich mit Morris auf einen Drink verabredet«, sagte sie. »Weil er nicht kam, bin ich zu ihm.«

Romers Gesicht war unbewegt, fast leer, als hätte er Evas Auftauchen noch nicht verarbeitet.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Tabletten und Whisky. Fenster und Türen verrammelt. Ein Brief ohne Sinn. Irgendwas über einen Jungen.«

»Warum?«, fragte Eva unwillkürlich, ohne zu denken.

»Wer weiß? Wie gut kennen wir uns schon?« Romer wandte sich an Angus. »Ruf noch mal die Zentrale an. Hier brauchen wir einen von oben.« Angus hinkte davon, und Romers Blick heftete sich wieder auf sie.

»Wie bist du hier reingekommen?«, fragte er, seine Stimme klang frostig. »Warum hat der Portier nicht angerufen?«

Eva merkte, dass sie einen Fehler gemacht hatte: Sie hätte zum Portier gehen müssen, statt sich an ihm vorbeizumogeln. Das wäre normal gewesen, die unverdächtige Art, nach einem Freund zu sehen, wenn er nicht zur Verabredung kam.

»Er war beschäftigt, also bin ich an ihm vorbei.«

»Oder hast du nach Elizabeth Wesley gesucht?«

»Nach wem?«

Romer lachte auf. Ihr wurde klar, dass er zu clever war – und sie zu gut kannte.

Der Blick, mit dem Romer sie anschaute, war kalt. »Die Umsicht und Tatkraft unserer Miss Dalton darf man nicht unterschätzen, eh?«

Da wusste sie es.

Sie spürte ein Schrillen in den Ohren, es klang wie eine Alarmsirene. Sie berührte seinen Arm.

»Lucas«, sagte sie sanft. »Ich muss dich sehen, heute noch. Ich will bei dir sein.«

Etwas anderes konnte sie nicht sagen, es war der reine Instinkt. Sie brauchte ein paar Sekunden Zeit, bevor er alles durchschaute.

Er warf einen Blick über die Schulter zu den Polizisten. »Unmöglich«, sagte er. »Nicht heute.«

Sie nutzte die Sekunden, um zu überlegen: Er weiß, dass ich mit Morris gesprochen habe. Er weiß, dass Morris mir etwas gesagt hat und ich deshalb heimlich zu ihm wollte. Er glaubt, ich verfüge über die entscheidende Information, und kalkuliert meine Gefährlichkeit. Sie sah seinen Ausdruck wechseln, als er sich wieder zu ihr umdrehte, und konnte beinahe hören, wie es in ihren Köpfen arbeitete – wie zwei überlastete Motoren, die in entgegengesetzte Richtungen strebten.

»Bitte«, sagte sie. »Du fehlst mir.« Vielleicht wird er weich, dachte sie, das Flehen seiner Geliebten. Letzte Nacht haben wir uns noch geliebt – es könnte ihn ja für fünf Minuten erweichen.

»Sieh mal … na, vielleicht«, sagte er. Er griff nach ihrer Hand, presste sie und ließ sie wieder los. »Stephenson will dich sprechen. Es könnte sein, dass Roosevelt nächste Woche in einer Rede deine Karte erwähnen wird – am zehnten. Stephenson will dir persönlich gratulieren.«

Das ist so abwegig, dass es schon wieder stimmen kann, dachte sie.

»Stephenson, mich sprechen?«, wiederholte sie ungläubig. Das kam ihr unfassbar vor. William Stephenson war die BSC in Person, sie war seine Schöpfung, von A bis Z, mit Haut und Haar, mit Fleisch und Knochen.

»Du bist unser großer Star«, sagte Romer und blickte dabei auf die Uhr. »Ich muss erst noch diesen Schlamassel beseitigen. Warte um zehn vor deinem Haus. Ich hole dich ab.« Er lächelte. »Und zu Sylvia kein Wort. Verstanden?«

»Dann bis zehn«, sagte sie. »Und hinterher könnten wir …«

»Ich denke mir was aus. Hör zu, jetzt verschwinde lieber, bevor die Polizei deinen Namen notiert.«

Er ließ sie stehen und ging auf die Polizisten zu.

Im Fahrstuhl begann Eva zu rechnen. Sie schaute auf die Uhr; es war zwanzig Uhr fünfundvierzig. Um zehn würde Romer sie vor ihrem Haus erwarten. Wenn sie nach fünf Minuten nicht auftauchte, würde er wissen, dass sie auf und davon war. Ihr blieb etwas mehr als eine Stunde Zeit.

 

Für eine Rückkehr in ihr Apartment war es zu spät, entschied sie. Um ihre Flucht abzusichern, musste sie alles stehen und liegen lassen. Während sie auf die U-Bahn wartete, prüfte sie den Inhalt ihrer Handtasche: der Pass auf Eve Dalton, um die dreißig Dollar, eine Packung Zigaretten, Lippenstift und Puderdose. Reicht das aus, um ein neues Leben zu beginnen?, fragte sie sich mit wehmütigem Lächeln.

Als sie im Zug nach Brooklyn saß, nahm sie sich das letzte Zusammentreffen mit Romer vor und bedachte gründlich und systematisch, was sich daraus folgern ließ. Warum war sie plötzlich so sicher, dass Romer irgendwie hinter den Geschehnissen von Las Cruces und hinter dem Tod von Morris Devereux steckte? Irrte sie sich etwa? … Vielleicht war es Angus Woolf? Oder hatte Morris ihr eine raffinierte Falle gestellt und dann den Unschuldigen gespielt? Klar war aber, dass Morris nicht Selbstmord begangen hatte. Man trifft keine lebenswichtige Verabredung und beschließt dann, sie platzen zu lassen, indem man sich umbringt. Allerdings hatte sich Romer nicht verdächtig gemacht, das musste sie zugeben – aber woher dann ihre unerschütterliche Gewissheit? Woher das Gefühl, dass sie fliehen musste, auf der Stelle, als hinge ihr Leben davon ab? Die Redensart verstörte sie, trieb ihr Schauder über den Rücken, aber sie stimmte: Ihr Leben hing davon ab, dass sie rechtzeitig floh. Der entscheidende Punkt für Morris, der Schlüssel für seine Erkenntnis war gewesen, dass sie die Karte nicht an Raul übergeben hatte. Warum hatte sie die Karte nicht an Raul übergeben? Weil sie sie geprüft und für minderwertig befunden hatte. Wer hatte ihr befohlen, die Ware zu prüfen? Niemand.

Sie hörte Romers Stimme, die Stimme ihres Geliebten, als würde er neben ihr stehen. »Die Umsicht und Tatkraft unserer Miss Dalton darf man nicht unterschätzen, eh?«

Das war es, was bei ihr den Funken gezündet hatte. In dem Moment wusste sie, worauf Morris gestoßen war. Sie überschaute nicht das große Ganze, worauf die Sache hinauslaufen sollte, aber während sie vor dem Apartment des armen Morris mit Romer gesprochen hatte, war ihr klar geworden, dass Romer sie im absolut sicheren Wissen nach Las Cruces geschickt hatte, dass sie niemals und unter keinen Umständen eine Ware übergeben würde, ohne sie einer Prüfung zu unterziehen. Er kannte sie, er wusste genau, was sie in einer solchen Situation tun würde, und bei dem Gedanken, dass sie so leicht durchschaut, so sicher kalkuliert und manipuliert werden konnte, stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Aber warum soll ich mich schämen, sagte sie sich mit einer Aufwallung von Wut. Romer wusste, dass sie nicht als Kurier zu gebrauchen war, der mechanisch seinen Auftrag erfüllte, gerade deshalb hatte er ihr ja den Job angetragen. Es war genauso wie in Prenslo – sie handelte auf eigene Initiative, passte sich der Lage an, fällte ihre eigenen Entscheidungen, wenn es hart auf hart kam. Dasselbe bei Mason Harding. Ihr Kopf begann zu schwirren: Das war ja, als hätte er sie auf die Probe gestellt, um abschätzen zu können, wie sie sich in solchen Situationen verhielt. Hatte Romer vielleicht auch die Krähen auf sie angesetzt, im Wissen, dass sie sie abschütteln würde – und damit ihr Misstrauen zu wecken? Sie fühlte sich ausmanövriert wie bei einer Schachpartie mit einem Großmeister, der ihr immer zehn, zwanzig Züge voraus war. Aber warum sollte sich Romer ihren Tod wünschen?

In ihrem Fluchtquartier in Brooklyn angekommen, ging sie geradewegs ins Badezimmer, hob das Medizinschränkchen von der Wand, entfernte einen losen Ziegelstein und nahm den auf Margery Allerdice ausgestellten Pass und ein Bündel Dollarnoten heraus: Sie hatte fast dreihundert Dollar gespart. Als sie das Schränkchen wieder aufhängte, hielt sie inne.

»Nein, Eva«, sagte sie laut.

Sie durfte nicht vergessen, dass sie es mit Lucas Romer zu tun hatte, einem Mann, der sie nur zu gut kannte, so gut wie niemand sonst auf der Welt, wie es schien. Sie musste sich setzen; ihr wurde schwindlig bei dem Gedanken, der ihr plötzlich gekommen war: Romer wollte ihre Flucht, er erwartete nichts anderes – denn wenn sie unterwegs war, ohne eigenes Refugium, hatte er sie viel besser im Griff. Also denk nach, sagte sie sich, denk nicht zweimal um die Ecke, sondern dreimal. Versetz dich in seinen Kopf, geh davon aus, was er über dich denkt und weiß, Eva Delektorskaja – und dann schlag ihm ein Schnippchen.

Romer, so überlegte sie, wäre niemals auf ihr ehrlich gemeintes Angebot eingegangen, die Nacht mit ihr zu verbringen, nicht für eine Sekunde. Er musste davon ausgehen, dass sie ihn verdächtigte, dass sie nicht an Morris’ Selbstmord glaubte, und wahrscheinlich war ihm auch klar, dass es vorbei war, als sie im Korridor vor Morris’ Wohnung erschien, und daher kam sein Vorschlag, sich um zehn mit ihr zu treffen, fast einer Aufforderung zur Flucht gleich. Jetzt begriff sie auch, dass sie keinen Vorsprung hatte, keine Stunde, nicht mal eine halbe – sie hatte überhaupt keine Zeit mehr.

Im nächsten Moment verließ sie das Fluchtquartier – ob Romer die Adresse kannte? Wohl kaum, dachte sie, vergewisserte sich aber auf der Straße, dass ihr niemand folgte. Ihren Eve-Dalton-Pass schob sie in einen Gully; sie hörte es sanft platschen, als er ins Wasser fiel. Jetzt war sie Margery Allerdice – und natürlich kannte Romer den Namen, so wie alle anderen Decknamen, die er seinen Agenten zuteilte –, sehr weit würde sie als Margery Allerdice nicht kommen.

Aber wohin sollte sie? Ich habe zwei klare Alternativen, überlegte sie, als sie zum U-Bahnhof eilte. Südwärts nach Mexiko oder nordwärts nach Kanada. Wie von selbst stellte sich die Frage, was Romer von ihr erwarten würde. Sie war gerade an der mexikanischen Grenze gewesen – würde er vermuten, dass sie sich dorthin wendete, oder nach Norden, in die entgegengesetzte Richtung? Ein Taxi fuhr vorbei, sie stoppte es. Penn Station, bitte, sagte sie – das hieß südwärts, nach Mexiko; die bessere Entscheidung, denn sie wusste, wie und wo man über die Grenze kam.

Während der Fahrt klopfte sie den Plan auf seine Tauglichkeit ab. Mit dem Zug fahren – war das klug? Er würde nicht vermuten, dass sie den Zug nahm: Es war zu naheliegend, zu leicht kontrollierbar, man konnte sie bequem in die Falle locken. Nein, Romer würde auf Bus oder Auto tippen, also brachte ihr die Fahrt mit dem Zug einen beträchtlichen Zeitgewinn. Bei der Überquerung des East River, die hell erleuchteten Hochhäuser von Manhattan vor Augen, versetzte sie sich weiter in Romer und seine Art zu denken – nur so konnte sie ihr Überleben sichern, wie ihr nun bewusst war. Eva Delektorskaja gegen Lucas Romer. Es würde nicht leicht werden, denn schließlich hatte er sie ausgebildet; alles, was sie konnte, hatte sie ihm zu verdanken, hatte er ihr auf die eine oder andere Weise beigebracht. Also galt es jetzt, seine Methoden, seine Tricks und Kniffe gegen ihn zu wenden … Aber sie brauchte ein bisschen mehr Zeit, wie sie verzagt feststellte, nur einen oder zwei Tage Vorsprung, damit sie ihre Spuren verwischen, ihm Hindernisse in den Weg legen konnte … Sie schmiegte sich tiefer in den Rücksitz, die Novembernacht war kalt – ein bisschen mexikanische Sonne wäre jetzt willkommen, dachte sie, ein bisschen brasilianische Hitze. Da wusste sie, dass sie nach Norden musste. Sie streckte den Arm aus und tippte dem Fahrer auf die Schulter.

Am Grand Central verlangte sie eine Fahrkarte nach Buffalo – dreiundzwanzig Dollar – und schob zwei Zwanziger durch. Der Beamte zählte ihr das Wechselgeld hin und gab ihr die Fahrkarte. Sie bedankte sich und trat beiseite, bis er zwei weitere Leute bedient hatte, dann ging sie zurück an den Schalter, unterbrach die nächste Transaktion und sagte: »Sie haben mir auf vierzig Dollar herausgegeben. Es waren aber fünfzig.«

Das Aufsehen, das sie damit erregte, war beeindruckend. Der Beamte, ein Mann mittleren Alters, dessen Mittelscheitel wie mit dem Rasiermesser gezogen war, wich und wankte nicht. Ein Vorgesetzter wurde gerufen; Eva verlangte den Inspektor zu sprechen. Die Wartenden in der Schlange wurden unruhig – »Nun machen Sie mal hin, Lady!«, rief jemand –, und Eva rief zurück, dass man sie um zehn Dollar betrogen habe. Als sie zu weinen begann, führte sie der Vorgesetzte in ein Büro, wo sie sich alsbald beruhigte. Sie werde ihre Anwälte einschalten, versicherte sie und verlangte den Namen des Vorgesetzten – Enright – und des Schalterbeamten – Stefanelli – und kündigte an, dass die Sache ein Nachspiel haben werde, jawohl, meine Herren: Wenn die Delaware & Hudson Railway ihre unschuldigen Fahrgäste ausrauben wolle, müsse man schließlich dagegen angehen und sich zur Wehr setzen.

Sie lief quer durch die große Bahnhofshalle zurück und war sehr zufrieden mit sich – erstaunlich, wie leicht es ihr gelang, echte Tränen zu produzieren. An einem etwas weiter entfernten Schalter kaufte sie eine weitere Fahrkarte, diesmal nach Burlington. Der letzte Zug fuhr in drei Minuten – sie rannte zum Bahnsteig und erreichte den Zug dreißig Sekunden vor Abfahrt.

Während die Lichter der Vorstädte vorbeizogen, versuchte sie ein weiteres Mal, sich in Romer hineinzuversetzen. Wie würde er das Spektakel am Fahrkartenschalter bewerten? Er würde wissen, dass es inszeniert war – diesen Trick, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hatten sie in der Ausbildung mehrfach geprobt: Beim Kauf einer Fahrkarte zur kanadischen Grenze erregt man künstlich Aufsehen, weil man gerade nicht dorthin fahren wird. Aber Romer würde nicht darauf hereinfallen – zu durchsichtig –, jetzt würde er die Südrichtung ganz und gar vernachlässigen. Nein, Eva, würde er sich sagen, nach El Paso oder Laredo fährst du nicht – du willst nur, dass ich das glaube. In Wirklichkeit fährst du nach Kanada. Romer würde den doppelten Bluff sofort erraten, aber dann – weil man die Umsicht und Tatkraft unserer Eva Delektorskaja nicht unterschätzen durfte – würden ihm auch gleich Zweifel kommen: Nein, nein … das ist vielleicht ein dreifacher Bluff. Sie will mich glauben machen, dass sie nach Kanada fährt, und fährt in Wirklichkeit nach Mexiko. Eva hoffte, damit recht zu behalten. Romers Schlauheit war ebenso wenig zu unterschätzen – konnte sie ihn mit einem Vierfach-Bluff übertrumpfen? Sie verließ sich darauf. Er würde dieselbe Überlegung anstellen und dann denken: Im Winter fliegen die Vögel gen Süden.

Am Bahnhof von Burlington machte sie einen Anruf bei Paul Witoldski in Franklin Forks. Es war nach Mitternacht.

»Wer ist da?« Witoldskis Stimme klang gereizt.

»Ist dort die Bäckerei Witoldski?«

»Nein, hier ist die Wäscherei Witoldski.«

»Kann ich mit Julius sprechen?«

»Hier gibt es keinen Julius.«

»Hier ist Eve«, sagte sie.

Schweigen. Dann sagte Witoldski: »Hab ich eine Besprechung verpasst?«

»Nein. Ich brauche Ihre Hilfe, Mr Witoldski. Es ist dringend. Ich warte am Bahnhof Burlington.«

Wieder Schweigen, dann: »In dreißig Minuten bin ich dort.«

Während sie auf Witoldski wartete, dachte sie sich: Man rät uns, befiehlt, bittet, bekniet uns, nie jemandem zu trauen, was alles sehr gut sein mag, aber manchmal gerät man in Situationen, wo einem nur noch das Vertrauen weiterhilft. Sie musste sich jetzt auf Witoldski verlassen, obwohl Johnson in Meadowville der geeignetere Mann gewesen wäre – und auch ihn fand sie vertrauenswürdig –, aber Romer war mit ihr zusammen nach Meadowville gefahren. An irgendeinem Punkt seiner Nachforschungen würde er Johnson anrufen; er kannte zwar auch Witoldski, aber bei Johnson würde er es zuerst versuchen, und das konnte ihr ein paar Stunden Vorsprung sichern.

Sie sah einen verdreckten Lieferwagen mit der Aufschrift »WXBQ Franklin Forks« auf den Parkplatz fahren. Witoldski war unrasiert, er hatte eine Plaidjacke an, dazu eine Hose, die aussah wie das Ölzeug, das Fischer trugen.

»Haben Sie Probleme?«, fragte er und hielt Ausschau nach ihrem Koffer.

»Ich sitze in der Patsche«, gestand sie. »Ich muss noch diese Nacht nach Kanada.«

Er dachte nach und rieb sich das Kinn, dass sie das schabende Geräusch der Stoppeln hörte.

»Sagen Sie nichts mehr«, befahl er und öffnete ihr den Wagenschlag.

Sie fuhren nordwärts, fast ohne ein Wort zu sprechen; er hatte eine Bierfahne und roch muffig – nach alten Decken vielleicht, oder wie ein Mann, der sich lange nicht gewaschen hat –, aber sie beklagte sich nicht. An einer Tankstelle in Champlain tankte er auf und fragte, ob sie hungrig sei. Auf ihr Nicken kaufte er ihr eine Packung Feigenbrote. Sie aß drei davon, eins nach dem anderen, während sie westwärts fuhren, nach Chateaugay, wie die Wegweiser besagten, aber kurz bevor sie dort eintrafen, bog er auf eine Schotterstraße ab und fuhr durch Nadelwälder bergauf, bis sich die Straße zum Pfad verengte und die Zweige mit blechernem Rascheln am Auto entlangstreiften. Das ist ein Jagdweg, erklärte Witoldski. Sie nickte kurz ein und träumte von Feigen und Feigenbäumen in der Sonne, bis das Auto mit einem Ruck zum Stehen kam.

Es war kurz vor Tagesanbruch, die schmutzigen Silberstreifen am Himmel ließen die Bäume noch schwärzer erscheinen. Witoldski zeigte auf eine Einmündung, die von den Scheinwerfern erhellt wurde.

»Wenn Sie diese Straße hinuntergehen, sind Sie nach einer Meile in Sainte-Justine.«

Sie stiegen aus, die Kälte traf Eva wie ein Schlag. Sie sah, dass Witoldski ihre leichten Stadtschuhe musterte. Er ging nach hinten, öffnete die Hecktür und kam mit einem Schal und einem alten speckigen Pullover zurück, den sie unter ihren Mantel zog.

»Sie sind in Kanada«, sagte er. »Provinz Quebec. Hier wird Französisch gesprochen. Können Sie Französisch?«

»Ja.«

»Blöde Frage.«

»Ich möchte Ihnen gern etwas bezahlen«, sagte sie, »für das Benzin und für Ihre Zeit.«

»Spenden Sie’s der Wohlfahrt, kaufen Sie eine Kriegsanleihe.«

»Wenn jemand kommt und sich nach mir erkundigt, können Sie die Wahrheit sagen«, erklärte sie ihm. »Es gibt nichts zu verbergen.«

»Ich hab Sie nie gesehen«, erwiderte er. »Wer sind Sie überhaupt? Ich war Fischen.«

»Danke«, sagte Eva und überlegte, ob sie den Mann umarmen sollte. Aber er streckte die Hand aus, und sie tauschten einen kurzen Händedruck.

»Alles Gute, Miss Dalton.« Er kletterte in sein Auto, wendete an der Einmündung und fuhr davon. Sie blieb in einer Dunkelheit zurück, die so absolut war, dass sie nicht wagte, auch nur einen Schritt zu gehen. Aber langsam passten sich ihre Augen an, und sie erkannte die zerklüfteten Baumspitzen vor dem heller werdenden Himmel, dann auch das bleiche Band der Straße. Sie wickelte sich Witoldskis Schal fester um den Hals und machte sich auf den Weg nach Sainte-Justine. Jetzt bin ich wirklich auf der Flucht, dachte sie, jetzt bin ich ins Ausland geflohen, und zum ersten Mal fühlte sie sich ein wenig sicherer. Es war ein Sonntagmorgen, wie ihr nun klar wurde, während sie auf das Knirschen ihrer Schritte im Schotter lauschte und während die ersten Vögel erwachten – Sonntag, der 7. Dezember 1941.