Die Geschichte der Eva Delektorskaja

London 1942

Eva Delektorskaja registrierte, dass Alfie Blytheswood das Seitenportal von Electra House verließ und in einem kleinen Pub in der Nähe des Victoria Embankment, dem Cooper’s Arms, verschwand. Sie gab ihm fünf Minuten, dann folgte sie ihm hinein. Blytheswood stand mit ein paar Freunden an der Bar und trank sein Bier. Eva, die Brille und Baskenmütze trug, ging ebenfalls an die Bar und bestellte einen trockenen Sherry. Blytheswood brauchte sich nur umzudrehen, um sie zu entdecken, doch sie war sicher, dass er sie nicht erkennen würde, ihr Bubikopf und ihre Haarfarbe würden sie für ihn unkenntlich machen. Dennoch hatte sie, ein wenig unsicher geworden, im letzten Moment die Brille aufgesetzt. Aber ihre Tarnung, ihre neue Rolle musste auf die Probe gestellt werden. Sie setzte sich mit ihrem Sherry an den Tisch neben dem Ausgang und nahm sich die Zeitung vor. Als Blytheswood ging, vorbei an ihrem Tisch, warf er nicht einmal einen Blick auf sie. Sie folgte ihm zu seiner Bushaltestelle und wartete in der Schlange. Blytheswood hatte eine lange Fahrt vor sich, nordwärts bis nach Barnet, wo er mit Frau und drei Kindern lebte. Eva wusste das, weil sie ihn schon seit drei Tagen beschattete. In Hampstead wurde ein Sitz hinter ihm frei, und Eva nahm lautlos Platz.

Blytheswood döste vor sich hin, sein Kopf sackte mehrere Male nach vorn und ruckte wieder hoch. Eva legte die Hand auf seine Schulter.

»Dreh dich nicht um, Alfie«, sagte sie ihm leise ins Ohr. »Du weißt, wer ich bin.«

Blytheswood war völlig starr und hellwach.

»Eve«, sagte er. »Teufel noch mal. Ich kann’s nicht glauben.« Unwillkürlich wollte er sich umdrehen, aber sie stoppte ihn, indem sie die Hand an seine Wange legte.

»Wenn du dich nicht umdrehst, kannst du wahrheitsgemäß sagen, dass du mich nicht gesehen hast.«

Er nickte. »Stimmt. Ja, das wäre das Beste.«

»Was weißt du über mich?«

»Es hieß, du bist desertiert. Morris hat sich umgebracht, und du bist desertiert.«

»Das stimmt. Haben sie dir gesagt, warum?«

»Sie sagten, du und Morris, ihr wäret Gespenster gewesen.«

»Alles Lügen, Alfie. Würde ich hier im Bus sitzen und mit dir reden, wenn ich ein Gespenst wäre?«

»Nein … vermutlich nicht.«

»Morris wurde umgebracht, weil er irgendetwas herausgefunden hatte. Ich sollte auch umgebracht werden. Wäre ich nicht desertiert, wäre ich jetzt tot.«

Sie spürte, wie er mit dem Drang kämpfte, sich umzudrehen und sie anzuschauen, und ihr war klar, wie riskant ein solcher Kontakt war, aber sie musste einige Dinge in Erfahrung bringen, und Blytheswood war der Einzige, den sie fragen konnte.

»Hast du von Angus oder Sylvia gehört?«, fragte sie.

Blytheswood versuchte schon wieder, den Kopf zu drehen, und wieder stoppte sie ihn mit den Fingerspitzen.

»Das weißt du nicht?«

»Was soll ich wissen?«

»Dass sie tot sind.«

Sie ruckte hoch, als hätte der Bus überraschend gebremst. Ihr wurde schlecht, der Speichel lief in ihrem Mund zusammen, und es würgte in ihr, als müsste sie erbrechen.

»Mein Gott«, sagte sie, um Fassung ringend. »Was ist passiert?«

»Sie waren in einem Wasserflugzeug, einer Sunderland, abgeschossen zwischen Lissabon und Poole Harbour. Kamen aus den Staaten zurück. Alle Insassen kamen um. Sechzehn, achtzehn Leute, glaube ich.«

»Wann ist das passiert?«

»Anfang Januar. Irgendein General war an Bord. Hast du nicht davon gelesen?«

Sie erinnerte sich vage – aber Angus Woolf und Sylvia Rhys-Meyer wären ohnehin nicht namentlich genannt worden.

»Die Deutschen haben ihnen aufgelauert. In der Biskaya, irgendwo.«

Sie überlegte. Morris, Angus, Sylvia. Und mich sollte es auch treffen. AAS Ltd. wurde liquidiert. Sie war desertiert und verschwunden; also blieb nur noch Blytheswood.

»Dir kann eigentlich nichts passieren, Alfie«, sagte sie. »Du bist rechtzeitig ausgestiegen.«

»Wie meinst du das?«

»Wir werden liquidiert, oder? Ich bin nur deshalb noch am Leben, weil ich desertiert bin. Jetzt gibt es nur noch dich und mich.«

»Und Mr Romer. Nein, nein, das kann ich nicht glauben, Eve. Wir und liquidiert? Das waren sicher nur unglückliche Zufälle.«

Das reinste Wunschdenken, sagte sie sich. Schließlich wusste er die Zeichen genauso gut zu deuten wie sie.

»Hast du von Mr Romer gehört?«, fragte sie.

»Nein. Eigentlich nicht.«

»Sieh dich bloß vor, Alfie, wenn du hörst, dass Mr Romer was von dir will.« Sie sagte es ohne Nachdenken und bereute es sofort, weil sie sah, dass Blytheswood, während er die Bedeutung ihrer Worte erfasste, zu zittern begann. Er war zwar etliche Jahre mit dabei gewesen, doch vor allem als technische Begabung, als begabter Funkingenieur, und derartige Komplikationen – dunkle Abgründe, plötzliche Brüche im geordneten Ablauf der Dinge – verstörten ihn; er konnte so etwas nicht verkraften, wie Eva jetzt sah.

»Für Mr Romer bin ich immer da«, sagte er schließlich mit gekränktem Nachdruck, als wäre seine Loyalität in Zweifel gezogen worden.

Dabei konnte sie es nicht belassen. »Sagen wir so …« Sie stockte, überlegte hastig. »Erzähl ihm einfach nichts von diesem Gespräch, sonst bist du tot wie die anderen.« Ihre Stimme klang hart und spröde.

Er verarbeitete diese Mitteilung, die er nicht hören wollte, mit leicht gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Eva nutzte die Gelegenheit, sich davonzustehlen und die Treppe hinabzueilen, bevor er sich nach ihr umdrehen konnte. Der Bus bremste vor einer Ampel, sie sprang ab und rannte beinahe einen Zeitungsverkäufer um. Blytheswood hätte nur die Rückenansicht einer Frau mit Baskenmütze zu sehen bekommen, mehr nicht. Sie schaute dem davonfahrenden Bus nach, um zu sehen, ob Blytheswood ausstieg. Hoffen wir, dass er verstanden hat, sagte sie sich, doch die Befürchtung, dass sie einen schlimmen Fehler gemacht hatte, blieb. Im schlimmstmöglichen Fall erfuhr Romer nun, dass sie sich wieder in England aufhielt, aber das war schon alles. Und wahrscheinlich hatte er ohnehin mit dieser Möglichkeit gerechnet. Also hatte sich nichts wirklich verändert – außer dass sie jetzt über den Tod von Angus und Sylvia im Bilde war. Sie dachte an die beiden, an die Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, und mit Bitterkeit rief sie sich den Schwur ins Gedächtnis, mit dem sie in Kanada ihre Entschlossenheit gestärkt hatte. Sie kaufte eine Abendzeitung, um die Berichte über die neuesten Luftangriffe und die Opferzahlen zu lesen.

 

Der Konvoi war wie geplant am 18. Januar 1942 von St. John, New Brunswick, gestartet. Die Überfahrt gestaltete sich stürmisch, verlief aber abgesehen vom schlechten Wetter ereignislos. Es gab zwanzig Passagiere auf dem ehemals belgischen Frachtschiff – der SS Brazzaville –, die Flugzeugmotoren und Stahlträger trans portierte: fünf Sekretärinnen von der Regierung in Ottawa, die an die Londoner Botschaft versetzt waren, ein halbes Dutzend Offiziere vom Royal Regiment of Canada und diverses diplomatisches Personal. Die unruhige See verbannte die meisten Passagiere in ihre Kabinen. Eva teilte die ihre mit einer auffallend großen jungen Frau vom Bergbauministerium, die Cecily Fontaine hieß und, wie sich herausstellte, jede halbe Stunde erbrechen musste. Tagsüber hielt sich Eva meist im engen »Salon« auf und versuchte zu lesen, und für drei Nächte gelang es ihr, eins der zwei Betten in der Krankenstation der Brazzaville zu beanspruchen, bis sie durch einen Heizer mit Blinddarmreizung vertrieben wurde – zurück in die Kabine zu Cecily Fontaine. Von Zeit zu Zeit wagte sich Eva an Deck, um in den grauen Himmel zu blicken, auf das graue, aufgewühlte Wasser und die grauen Schiffe, die sich mit qualmenden Schornsteinen durch die Dünung arbeiteten, mit stoßenden, ruckenden Bewegungen auf die Britischen Inseln zusteuerten und immer wieder in Explosionen winterlicher Gischt verschwanden.

Am ersten Tag auf See wurde das Anlegen der Rettungswesten geübt, und Eva hoffte, niemals in die Lage zu geraten, ihr Leben diesen zwei korkgefüllten Leinwandkissen anvertrauen zu müssen. Die paar von der Seekrankheit verschont Gebliebenen versammelten sich dreimal täglich unter den nackten Glühbirnen der Messe, um die grauenhafte Büchsennahrung zu verzehren. Eva staunte über ihre robuste Natur: Nach vier Tagen auf See erschienen nur noch drei von ihnen zum Essen. Eines Nachts riss ein ungewöhnlich großer Brecher ein Rettungsboot der Brazzaville aus der Halterung, und es erwies sich als unmöglich, das Boot an seinen Platz zurückzuhieven. Die Brazzaville fiel im Konvoi zurück, weil das Boot die Fahrt behinderte – bis es nach wütendem Signalverkehr zwischen den begleitenden Zerstörern aus dem Konvoi entlassen wurde und seinen Weg über den Atlantik allein fortsetzte. Eva kam der Gedanke, ob dieses unbemannte Rettungsboot, wenn es irgendwo gefunden wurde, nicht zu der Annahme führen würde, dass das Mutterschiff gesunken war. Vielleicht winkte ihr da das kleine bisschen Glück, nach dem sie Ausschau hielt? Ihre Hoffnungen setzte sie allerdings nicht darauf.

Nach acht Tagen, kurz vor Sonnenuntergang, erreichten sie Gourock, und im schwefligen Abendlicht sahen sie sich umgeben von einem Friedhof aus gesunkenen, gekenterten, beschädigten Schiffen mit schief aufragenden Masten und fehlenden Schornsteinen – düsteres Zeugnis eines U-Boot-Angriffs, dem sie knapp entkommen waren. Eva ging mit ihren bleichen, zittrigen Kolleginnen von Bord, und zusammen fuhren sie mit dem Bus zum Hauptbahnhof von Glasgow. Sie war versucht, sich schon jetzt aus dem Staub zu machen, überlegte sich dann aber, dass ein diskreter Abgang während der nächtlichen Fahrt nach London zweckmäßiger war. Also verließ sie, unbemerkt von ihren schlafenden Kolleginnen, den Liegewagen in Peterborough, nachdem sie Cecily Fontaine eine sorgsam vorbereitete Nachricht hingelegt hatte, sie wolle eine Tante in Hull besuchen und werde sich ihnen in London wieder anschließen. In den nächsten zwei Tagen, so ihre Kalkulation, würde man kaum nach ihr suchen, daher nahm sie den nächsten Zug nach London und fuhr auf kürzestem Wege weiter zu Mrs Dangerfield nach Battersea.

Den Pass auf Margery Atterdine verbrannte sie Blatt um Blatt und verstreute die Asche an verschiedenen Stellen in Battersea. Jetzt war sie Lily Fitzroy, wenigstens vorübergehend, und besaß alles in allem fast vierunddreißig Pfund, nachdem sie die restlichen kanadischen Dollars umgetauscht und zu dem Geld hinzugefügt hatte, das unter den Dielen versteckt war.

Für eine oder zwei Wochen wohnte sie ungestört in Battersea, während in anderen Weltgegenden der Krieg tobte. Die Japaner schienen sich ungehindert über ganz Südostasien auszubreiten, in Nordafrika gab es neue Rückschläge für die britischen Truppen. Sie dachte täglich an Romer und fragte sich, was er trieb – im sicheren Glauben, dass auch er an sie dachte. Luftangriffe fanden noch statt, aber nicht mehr mit der gnadenlosen Härte des Blitzkriegs. Ein paar Nächte verbrachte sie im Schutzbunker von Mrs Dangerfield, der am Ende des schmalen Gartens gelegen war, und verwöhnte sie mit erfundenen Geschichten von ihrem Leben in den USA. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen vernahm Mrs Dangerfield die Mär von Reichtum und Verschwendung in Amerika, von Überfluss und demokratischer Freizügigkeit. »Da wäre ich doch nie im Leben zurückgekommen, meine Liebe«, sagte Mrs Dangerfield mit ehrlicher Empfindung und griff nach Evas Händen. »Vor ein paar Tagen noch haben Sie Cocktails getrunken im Asporia-Waldorf oder wie das heißt, und jetzt sitzen Sie hier unter diesem unnützen Blechdach in Battersea und lassen sich von den Deutschen bombardieren. Ich an Ihrer Stelle wäre hübsch dort geblieben, meine Liebe. Da wären Sie viel besser dran als in diesem traurigen London, das in Schutt und Asche gebombt wird.«

Ihr war klar, dass sie nicht lange in dieser merkwürdigen Vorhölle verweilen konnte, die schon an ihren Nerven zu zehren begann. Sie musste agieren, sich Informationen beschaffen, und seien sie noch so mager. Sie war desertiert, sie war frei, sie hatte ihre neue Identität, mit Pass, Rationsbuch und Lebensmittelmarken, aber ihr war bewusst, dass es nur ein kurzes Atemholen war, eine kleine Verschnaufpause. Bis sie sich wirklich sicher fühlen konnte, musste sie noch ein gutes Stück Wegs zurücklegen.

Also verbrachte sie zwei Tage vorm Electra House am Embankment und sah die Angestellten kommen und gehen, bis sie Alfie Blytheswood entdeckte, als er abends aus dem Portal kam. Sie folgte ihm bis zu seinem Haus nach Barnet und am nächsten Morgen von seinem Haus zur Arbeit.

 

In ihrem Zimmer in Battersea durchdachte sie die neue Lage nach der Begegnung mit Blytheswood. Morris, Angus und Sylvia waren tot – aber sie hatte als Erste sterben sollen. Hatte sie mit ihrem Geniestreich in Las Cruces vielleicht bewirkt, dass der Tod der anderen unausweichlich wurde? Romer konnte kein Risiko mehr eingehen, nachdem Morris ihn als Gespenst entlarvt hatte, und schließlich wusste auch Eva davon. Was, wenn Morris auch Sylvia oder, wahrscheinlicher noch, Angus eingeweiht hatte? Angus hatte sich in jenen letzten Tagen recht merkwürdig verhalten – vielleicht hatte Morris irgendetwas angedeutet … Romer konnte ein solches Risiko nicht eingehen, auf keinen Fall, also machte er sich daran, den AAS Ltd. zu liquidieren, mit Sorgfalt und Raffinesse, ohne selbst Spuren zu hinterlassen. Morris’ Selbstmord, dann das Durchsickern von Informationen über den Flug einer Sunderland von Lissabon nach Poole – mit Datum und Uhrzeit und einem hohen Offizier an Bord als Tarnung … Das sprach dafür, dass eine wirkliche Macht dahinterstand, ein riesiges, machtvolles Netzwerk mit vielen Schaltstellen. Aber Eva war noch immer auf freiem Fuß, und allmählich fragte sie sich, ob sie die Kette ihrer Identitätswechsel ad infinitum fortsetzen konnte. Wenn Romer den Abschuss eines Wasserflugzeugs über der Biskaya bewerkstelligen konnte, würde er nicht lange brauchen, um Lily Fitzroy aufzuspüren – zumal er den Namen schon kannte. Es würde nicht lange dauern, bis die schwerfällige, aber hartnäckige englische Kriegsbürokratie den Namen Lily Fitzroy auf die eine oder andere Weise zutage förderte. Und was dann? Eva wusste nur zu gut, wie diese Dinge geregelt wurden: ein Autounfall, der Sturz aus einem hohen Gebäude, ein Raubüberfall bei Verdunkelung, der zum Mord wurde …

Sie musste die Kette durchbrechen, das war ihr jetzt klar. Mrs Dangerfield kam die Treppe herauf.

»Lily, meine Liebe, wie wär’s mit einem Tässchen Tee?«

»Wunderbar, ja, bitte!«, rief sie.

Lily Fitzroy, beschloss sie, musste verschwinden.

 

Sie brauchte einen oder zwei Tage, um zu überlegen, wie sie es bewerkstelligen konnte. Im zerbombten London gab es ständig Leute, die alle Habe verloren. Was machte man, wenn das Haus einstürzte und abbrannte, während man in Unterwäsche im Luftschutzkeller hockte? Man stolperte nach der »Entwarnung« in die Morgendämmerung hinaus, mit nichts auf dem Leib als dem Pyjama und dem Schlafrock, und stellte fest, dass alles, was man besessen hatte, zu Schutt und Asche geworden war. Die Leute mussten ganz von vorn anfangen, fast so, als wären sie neu geboren: Alle Papiere und Identitätsbeweise, Kleidung und Unterkunft mussten neu beschafft werden. Der Blitzkrieg vom September 1940 und die nachfolgenden Luftangriffe zogen sich nun schon über ein Jahr hin, mit Tausenden und Abertausenden von Toten und Vermissten. Sie wusste, dass Schwarzhändler die Lage ausnutzten und Tote eine Weile »weiterleben« ließen, um ihre Rationen und Benzinmarken zu erbeuten. Vielleicht fand sich da ein Schlupfloch für sie. Also durchforschte sie die Zeitungen nach Berichten über die schlimmsten Angriffe mit den höchsten Opferzahlen – vierzig, fünfzig, sechzig Personen getötet oder vermisst. Einen oder zwei Tage später standen die Namen in der Zeitung, manchmal wurden auch die Fotos gedruckt. Sie machte sich auf die Suche nach einer vermissten Frau ihres Alters.

Zwei Tage nach dem Treffen mit Blytheswood gab es einen Großangriff auf die Docks von East End. Sie ging mit Mrs Dangerfield in den Gartenbunker und wartete den Angriff ab. In klaren Nächten kamen die Flugzeuge oft von der Themsemündung her und folgten dem gewundenen Flusslauf – auf der Suche nach dem Kraftwerk in Battersea und in der Lots Road in Chelsea, um dann ihre Bomben irgendwo in der Umgebung abzuwerfen. Die Wohnviertel von Battersea und Chelsea bekamen daher mehr ab, als man erwartet hatte.

Am nächsten Morgen hörte sie in den Nachrichten von den Angriffen auf Rotherhithe und Deptford – Straßenzüge ausradiert, eine komplette Siedlung evakuiert, ganze Wohnblöcke ausgebrannt und zerstört. Die Abendzeitungen brachten Einzelheiten, eine Übersichtskarte zeigte die schwersten Zerstörungen an, dazu kamen erste Listen von Toten und Vermissten. Sie wusste, es war makaber, aber sie suchte nach kompletten Familien, Gruppen von vier oder fünf Personen mit demselben Namen. Dann las sie von einer Sozialsiedlung in Deptford – drei Wohnblöcke total zerstört, einer mit Volltreffer – Carlisle House – und, wie zu befürchten stand, siebenundachtzig Todesopfern. Die Familie West, drei Personen; die Findlays, vier Personen, zwei davon kleine Kinder; und am schlimmsten hatte es die Fairchilds mit ihren fünf Kindern getroffen: Sally (24), Elizabeth (18), Cedric (12), Lucy (10) und Agnes (6). Alle vermisst, alle vermutlich unter den Trümmern begraben, kaum Hoffnung auf Überlebende.

Am nächsten Tag fuhr Eva mit dem Bus nach Deptford und machte sich auf die Suche nach Carlisle House. Sie fand die übliche Mondlandschaft aus rauchenden Trümmern: Berge von Ziegelschutt, schwankende Mauerreste, freigelegte Zimmerwände, zwischen dem Geröll noch die bleichen, zuckenden Flammen der Gasleitungen. Die Ruine war von Holzbarrieren umgeben, Polizisten und Luftschutzhelfer standen Wache. An den Barrieren sammelten sich verloren dreinblickende Menschen, die sich über die Sinnlosigkeit, den Irrsinn, das Leid, die Tragöde austauschten. In einem nahen Hauseingang holte Eva ihren Pass heraus und lief an der Absperrung entlang, bis sie, weit von den Leuten entfernt, zu einer brennenden Gasleitung kam. Es wurde schon dunkel an diesem Winterabend, und die blassen Flammen gewannen an Leuchtkraft und Farbe. Da die Dunkelheit einen neuen Angriff erwarten ließ, entfernten sich allmählich die Grüppchen der Nachbarn, Überlebenden und Neugierigen. Als sie sicher war, dass niemand zusah, warf sie ihren Pass beherzt in die Flammen. Sie sah ein kurzes Auflodern, dann schrumpfte er zusammen und verschwand. Sie drehte sich weg und ging schnell davon.

Wieder in Battersea, eröffnete sie Mrs Dangerfield mit einem koketten Seufzer, sie sei erneut versetzt worden – »Schottland mal wieder« – und müsse noch am Abend abreisen. Sie zahlte ihre zwei Monatsmieten im Voraus und nahm leichten Herzens ihren Abschied. Wenigstens sind Sie weit weg von diesen Luftangriffen, bemerkte Mrs Dangerfield nicht ohne Neid und küsste sie zum Abschied auf die Wange. Ich rufe an, bevor ich zurückkomme, sagte Eva, wahrscheinlich im März.

Sie nahm ein Hotelzimmer in der Nähe der Victoria Station, und am nächsten Morgen schlug sie so lange mit der Stirn gegen die raue Ziegeleinfassung des Fensters, bis die Haut aufplatzte und Blut zu fließen begann. Sie reinigte die Wunde, bedeckte sie mit Watte und Pflaster und fuhr mit dem Taxi zu einem Polizeirevier in Rotherhithe.

»Was können wir für Sie tun, Miss?«, fragte der Diensthabende. Eva schaute wirr und verhielt sich desorientiert, als litte sie unter Gehirnerschütterung, einem Schock. »Das Krankenhaus sagte, ich soll mich hier melden«, behauptete sie. »Ich heiße Sally Fairchild, ich habe im Carlisle House gewohnt und bin ausgebombt.«

Am Ende des Tages besaß sie einen provisorischen Ausweis und ein Rationsbuch mit einem Wochenvorrat Lebensmittelmarken. Nachbarn hätten sie aufgenommen, sagte sie und gab eine nahe gelegene Adresse an. Man trug ihr auf, sich binnen einer Woche im zuständigen Amt des Innenministeriums in Whitehall zu melden, damit alles geregelt werden könne. Die Polizisten waren voller Mitgefühl. Eva weinte ein wenig, man wollte sie mit dem Auto zu ihrer neuen Adresse bringen. Nein, sie wolle noch zu Freunden, sagte Eva, und ein paar Verwundete im Krankenhaus besuchen, trotzdem vielen Dank.

So wurde aus Eva Delektorskaja eine Sally Fairchild, und das war endlich ein Name, den Romer nicht kannte. Die Kette war durchbrochen, obwohl sie noch nicht sicher war, ob ihre neue Identität von Dauer sein würde. Sie stellte sich vor, dass er sich insgeheim über ihre Fähigkeiten freute – habe ich sie nicht gut ausgebildet? Aber stets würde ihn diese eine Frage verfolgen: Wo finde ich Eva Delektorskaja?

Das vergaß sie nie, und ihr war klar, dass mehr geschehen musste, damit sie sich auch nur halbwegs sicher fühlen konnte – also ging sie, solange das Geld reichte, gegen Abend in ein besseres Restaurant oder eine Bar und bestellte sich einen Drink. Für die nächsten Tage war sie am sichersten, wenn sie im Hotel wohnte und gar nichts tat. Aber sobald sie sich irgendeine Arbeit suchte, wurde sie umgehend von den Mühlen der Bürokratie erfasst und registriert. Sie besuchte also das Café Royale und den Chelsea Arts Club, die Bar des Savoy, des Dorchester, des White Tower. Viele akzeptable Männer luden sie zu Drinks und Rendezvous ein, und manche versuchten erfolglos, sie zu küssen. Sie lernte einen polnischen Kampfflieger im Bierkeller am Leicester Square kennen, mit dem sie sich zwei weitere Male traf, bevor sie sich gegen ihn entschied. Was sie suchte, war ein ganz bestimmter Mann – sie hatte keine Ahnung, wer das war, aber sie war überzeugt, dass sie ihn auf Anhieb erkennen würde, wenn sie ihm begegnete.

Etwa zehn Tage nachdem sie sich in Sally Fairchild verwandelt hatte, besuchte sie das Heart of Oak in der Mount Street von Mayfair. Es war ein Pub, aber es war mit Teppichen ausgelegt, an den Wänden hingen Stiche mit Sportmotiven, und im Kamin brannte immer ein echtes Feuer. Sie bestellte Gin Orange, setzte sich an einen Tisch, zündete eine Zigarette an und nahm sich das Kreuzworträtsel der Times vor. Wie gewöhnlich hielt sich Militär im Lokal auf – durchgängig Offiziere –, und einer von ihnen lud sie zu einem Drink ein. Da sie keinen britischen Offizier wollte, sagte sie, sie erwarte einen Gentleman, worauf er sich entfernte. Nach einer Stunde etwa – sie wollte schon gehen –, setzten sich drei junge Männer in dunklen Anzügen an den Nachbartisch. Sie waren bester Laune, und sehr bald nahm Eva den irischen Akzent wahr. Sie stand auf, um sich einen Drink zu holen, und ließ die Zeitung fallen. Einer der Männer, rundes Gesicht und bleistiftschmaler Schnurrbart, hob sie auf und gab sie ihr zurück. Ihre Blicke begegneten sich.

»Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«, sagte er. »Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich bin im Begriff zu gehen«, erwiderte Eva, doch sie ließ sich schließlich überreden, am Tisch der Männer Platz zu nehmen. Sie sei mit einem Gentleman verabredet, sagte sie, doch der habe sich bereits vierzig Minuten verspätet.

»Oh, das ist kein Gentleman«, rief der Mann mit dem Bärtchen und machte ein ernstes Gesicht. »Das nenne ich einen englischen Schurken.«

Alle lachten, und Eva fiel auf, dass der Mann, der ihr gegenübersaß – blond, kräftig, sommersprossig, in lockerer, lässiger Haltung –, zwar auch über den Witz lächelte, aber mehr nach innen, als würde ihn etwas anderes an der Äußerung belustigen als die vordergründige Schelte.

Sie fand heraus, dass alle drei Anwälte waren, die für die irische Botschaft arbeiteten, im Konsularbüro Clarges Street. Als der Blonde mit der nächsten Runde dran war und an die Bar ging, entschuldigte sie sich bei den anderen, sie wolle sich frisch machen. Sie folgte dem Mann zur Bar und sagte, sie hätte lieber ein kleines Glas Panache anstelle des Gin Orange.

»Verstanden«, sagte er. »Also dann ein kleines Panaché.«

»Wie war gleich Ihr Name?«, fragte sie.

»Ich bin Sean. Die beiden anderen heißen David und Eamonn. Eamonn ist der Komödiant, wir sind sein Publikum.«

»Sean weiter?«

»Sean Gilmartin.« Er drehte sich um und schaute sie an. »Und wie war Ihr Name noch mal, Sally?«

»Sally Fairchild«, sagte sie und fühlte die Vergangenheit von sich abfallen wie lose Fesseln. Sie trat näher an ihn heran, als er ihr das Glas überreichte, so nah, wie sie konnte, ohne ihn zu berühren, und blickte auf zu seinen wissenden, sanft lächelnden Augen. Die Geschichte der Eva Delektorskaja hatte ihr natürliches Ende gefunden.